DES
GIROLÄMO CARDÄNO
VON MAI LA>J D (BU EFt
GEKS VO>J BOLOGNA)
EIGENE LEBENSBE-
SCHKEIBUNG
U EBERTRAGEN UND
EINGELEITET VON
HERVIANN HEFELE
3ENA-VERLEGTBE!
EUGEN DIEDERICHS
r^^^X£^
ZUR EINFÜHRUNG
Was GOETHE von BENVENUTO CELLINI Sagt, gilt in cbenso präs
gnantem und besonderem Sinne von der Persönlichkeit,
die uns im folgenden beschäftigen wird: ». . . ein Mann, der als
Repräsentant seines Jahrhunderts und vielleicht als Repräsentant
sämtUcher Menschheit gelten dürfte. Solche Naturen können als
geistige Flügelmänner angesehen werden, die uns mit heftigen
Äußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur
mit schwachen, unkenntlichen Zügen, in jeden menschlichen Busen
eingeschrieben ist.« In girolamo cardanos autobiographischen
Aufzeichnungen besitzen benvenuto cellinis vielgelesene und
vielgerühmte Memoiren eine Ergänzung in wesentlichen Zügen
und ein Gegenstück von gleichem Werte und gleich starker
Eigenart.
Selbstbiographien haben über das eigentlich Stoffliche hinaus ihre
Bedeutung in doppelter Hinsicht: als Dokumente einer bestimme
ten historischen Kultur wie als individualisierter Ausdruck des
ewig Bleibenden im rein menschlichen Sein und Wesen. Im Schick*
sal und im Wirken des Einzelnen spiegelt sich das Ganze seiner
Zeit und seines Volkes, verengt freilich und mehr oder minder ge?
brochen, aber jedenfalls stärker, lebhafter und vielsagender wie*
der als in den groben Umrissen eines langsamen politischen Ge*
schehens; und in seinem Empfinden und Denken, seinem Streben
und Erdulden offenbart sich unter der Schale des Zufälligen und
Geschichtlichen für den, der zu lesen versteht, das Wesentliche
und Unveränderliche menschlichen Geistes deutlicher und lebens*
voller als in den Theorien und Systemen der einzelnen wissen^
schaftlichen Disziplinen. Daß dabei das äußere wie das innere
Leben mit Bewußtsein im eigenen Urteil des Helden wiederge?
geben ist, das fällt vor dem Forum einer höheren Art von
historischer Wahrheit nur zugunsten der Glaubwürdigkeit des
Erzählten ins Gewicht. —
CARDANO und CELLINI waren Zeitgenossen und Söhne der selben
nationalen Kultur. Beider Jugend fiel in die großen Tage der
Hochblüte der Renaissancekultur; beide sahen, gleichgültig und
nur mit halbem Verständnis wie fast alle Italiener ihrer Zeit, die
große nationale Katastrophe der neuen Barbareninvasionen, der
Knebelung des freien Italien durch spanisches Wesen; beide
,* VII
fühlten die Stürme der Reformation und Gegenreformation und
ahnten die neue Zeit und ihre neuen Formen, und beide wahrten
sich auch unter der Herrschaft fremden Geistes das Beste, was das
Vaterland ihrer Jugend besessen: sie blieben im tiefsten Innern
reine und unverfälschte Italiener. Wenn auch der Mailänder um
eine starke Note ernster und schwerfälliger erscheinen mag als
der heitere, rasche Florentiner, die letzten Formen ihres geistigen
Seins laufen doch bei beiden parallel. Bei allem Bizarren, Phan?
tastischen. Abenteuerlichen sind sie frei, ruhig, klar und sicher,
bei allen Verrenkungen ihres Gefühlslebens gesund und leben?
bejahend, trotz allem sich da und dort ansetzenden Barock sind
sie noch immer die starken Menschen der Renaissance, objektiv
und sachlich, geradlinig und einfach, durchaus vom Intellekt be?
herrscht und vom autonomen Willen geformt. Beider Wege haben
sich nie gekreuzt. Sie mochten einander kaum dem Namen nach
gekannt haben; denn nicht nur eine lokale Entfernung und beruf«
liehe Verschiedenheit trennte sie, es waren zwei verschiedene
soziale Welten, die sie bewohnten, cellini, der Künstler, lebte in
mondänen Zirkeln und bewegte sich mit derselben Sicherheit und
dem gleichen Anstand in Palästen und vor den Großen Europas
wie auf den Gassen, in den Spelunken und verrufenen Häusern
der Großstadt, cardanos Welt war die bürgerliche, kleinstäd;:
tische. Die soziale Stellung des Arztes oder Naturforschers war
damals der des Künstlers nicht gleichgeordnet. Er konnte sich
Weltruf und Vermögen so gut wie dieser erwerben, aber im ge*
sellschaftlichen Leben der höheren Stände, wo die Fragen der
feinen Bildung den Ton angaben, fand er keinen Platz. Auch
CARDANO weiß wie cellini von der Gunst von Päpsten, Kardi*
nälen, Königen und Fürstlichkeiten zu erzählen; aber es war, seine
ärztlichen Dienste abgerechnet, eben nur Gunst und Dankbarkeit,
kein gegenseitiges Verhältnis des Austausches und geistiger Gleich*
berechtigung. Der Schauplatz, wo cardano lebte und wirkte, war
das bürgerliche Haus, der Hörsaal der kleinen Universität, die
Mitspieler waren Bürger, Handwerker, zänkische Professoren,
frohe Studenten; die Fragen, die ihn beschäftigten, waren nicht
die heiteren Formen der Kunst, sondern die ernstesten Dinge des
Lebens, medizinisches Können und Wissen, naturwissenschaftliche
VIII
und technische Entdeckungen und Erfindungen, dazu die letzten
und tiefsten Probleme politischen und ethischen Verhaltens. Nur
die gemeinsame Welt der humanistischen Bildung, bei cardano
freilich bewußter und stärker als bei cellini, umschloß beide.
Die Ähnlichkeit und die Verschiedenheit ihres Wesens treten zum
Greifen plastisch in den Selbstbiographien beider Männer zutage.
Hier wie dort klingt trockene, sonore Sachlichkeit; eine wider*
standsfähige Eigenart, eine starke Selbständigkeit und grenzen*
lose Eitelkeit, kühne und doch gefällige Phantastereien, ein
durchaus abenteuernder Geist füllen die Seiten ihrer Erzählung
und formen ihren innersten Rhythmus. Größer und mehr in die
Augen springend freilich sind die Unterschiede. Der Künstler
gefällt sich im ruhigen epischen Fluß, in novellistischer Poin*
tierung, in gegenstandsfreudiger, eitler Geschwätzigkeit; der
Naturwissenschaftler zerbricht den geschlossenen Gang der Er*
Zählung, scheidet und trennt nach stofflichen Gesichtspunkten,
analysiert das Ganze und sucht das Einzelne zu fassen, spricht
viel, detailliert, aber in einer zum Bersten knappen Form, cellini
bietet die geistvolle Oberfläche eines Lebens, ein stilreines, über*
legenes,fertigesKunstwerk; cardano gibt Längs* und Querschnitte,
seziert wie ein Anatom, berechnet wie ein Mathematiker. Was er
uns zu sagen hat, ist weder schön noch erheiternd, häufig häßlich
und abstoßend, aber immer fesselnd und immer unerbittlich wahr.
Wie kein zweiter vor oder nach ihm läßt er uns die tiefsten und
klarsten Blicke tun in die nüchterne Werkstatt eines Menschen*
lebens.
CARDANOS Zeit war die des italienischen Niedergangs. Die
kurzatmige Hegemonie Italiens in Europa ruhte auf der über*
legenen Kultur der Renaissance; sie war vorüber, sobald sich
Europa vor neue Aufgaben und Formen des Kulturlebens gestellt
sah. Die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Ostindien
boten neue, ungeahnte wirtschaftliche und politische Möglich*
keiten. Italien blieb von ihnen ausgeschlossen; die Verluste, die
sein Handel im nahen Osten erlitten hatte, waren durch nichts
auszugleichen, die Konkurrenz der großen seefahrenden Nationen
schlug Italien überall aus dem Felde, das italienische Geld verlor
IX
an Wert, die italienischen Bankhäuser an Kredit und politischem
Einfluß. Das rasche Fortschreiten im Staatsleben der großen
europäischen Nationen ignorierte die politischen Formen der
italienischen Renaissance. Weder der kaufmännische Geist der
venezianischen Signoria oder des Hauses medici, noch die he#
roische Politik der Sforza, borgia oder rovere waren stark ge#
nug, sich auf die Dauer selbständig neben den neuen Großmächten
zu halten. Fest konsolidierte nationale Staatsgebilde und absolu*
tistische Weltreiche traten den liberalen Tyrannenstaaten und städ#
tischen Republiken Italiens gegenüber; ein neuer politischer Geist,
gegründet auf Autorität und staatliche Ordnung, drohte die ver#
feinerte italienische Demokratie zu überwinden, und die neuen
militärischen Formen, verbunden mit dem umfassenden Gebrauch
des Pulvers, erwiesen sich stärker als die spitzfindigen Manöver
der italienischen Condottieren. Die Buchdruckerkunst, die in
Italien nur im Dienste der ruhigen Bildung stand, schuf sich
anderswo eine volkstümliche Publizistik mit starkem, revolus
tionärem Willen. Wirtschaftliche und soziale Umwälzungen er*
schüttertenMitteleuropa. Eine neue, aus Innerlichkeit und Subjekt
tivismus erwachsene Weltanschauung schien sich bilden zu wollen
und ward von einem brutalen Absolutismus niedergeworfen.
Auf die kühle, klare Bildung des italienischen Humanismus anU
wortete aus ganz Europa ein Chaos von Mystik und glühender
Religionsschwärmerei, auf die stille ethisch*psychologische Art des
romanischen Geistes die grüblerische Metaphysik einer zuchtlosen
Naturphilosophie deutscher Herkunft. Das krankhafte Hervor*
zerren religiöser Gesichtspunkte, das mit der Reformation und
Gegenreformation gegeben war, und die neue gefährlichere Art
von Intoleranz und Geistestyrannei, die beide im Gefolge hatten,
widersprachen im tiefsten Innern dem Geist, der seit Petrarca
in Italien herrschte. Auf jedem Gebiet und von allen Seiten sah
sich die maßvolle Kultur der Renaissance verneint, abgelehnt und
überwunden. Italien war von Deutschland, England, Frankreich,
Spanien aus dem Felde geschlagen. Fast unvermittelt folgten auf
die heiteren Tage der medici die Periode der deutschen und frans
zösischen Religionskriege, das Zeitalter Philipp ii. und der eng«
lischen Elisabeth. Noch lebten die meisten von denen, die einst
X
die strahlenden Tage reifster Höhe dieser Kultur gesehen hatten,
und schon war der neue Geist in Europa Herr geworden.
Italien hatte mit der politischen Selbständigkeit auch die Kraft
des Widerstands gegen fremde Einflüsse verloren. Mit dem ersten
Franzosenzug nach Neapel und dem Sturze des Hauses Aragon
begann das Unheil des Barbarenregiments in Italien. Kein Staat,
kein Herrscherhaus und keine Partei in Italien war ohne Schuld
an der großen nationalen Katastrophe : wederVenedig noch Genua,
nicht die Sforza in Mailand noch die este in Ferrara, weder savo#
NAROLA und sein Anhang noch die medici in Florenz, weder die
BORGiA noch die rovere, weder die colonna noch die orsini in
Rom. Keiner erhob sich über Eigennutz und Engherzigkeit, und
jeder war gewillt, das Ganze seinem eignen Wohl zu opfern. Nur
der kraftvolle, verzweifelte Versuch julius ii., die Franzosen aus
Italien zu verjagen, schien vorübergehend gut zu machen, was in
den vorausgegangenen Jahren gesündigt worden war. Doch die
schuldbeladene egoistische Politik der Päpste aus dem Hause me*
Dici lieferte das Land und seine blühende Kultur endgültig an
fremde Herrschaft und an fremden Geist aus. Die Erstürmung und
Plünderung Roms im Jahre 1527 ist nicht Grund und Ursache,
sondern nur ein blutiges Symbol des längst besiegelten Nieder*
gangs der Kultur der Renaissance. Aus dem einst ans Ausland ver*
ratenen Neapel hielt der neue Geist des politischen Absolutismus
und der Gegenreformation seinen Einzug in Rom und Italien. Auf
die MEDICI folgten die caraffa und die Jesuiten, Theologen ver#
drängten die Humanisten. Auf dem Umweg über Spanien und
Frankreich eroberte sich, wie in den Zeiten der gotischen Inva::
sion, germanischer Geist das Land, wo bramante und raffael,
PETRARCA und FOGGio geherrscht hatten. Bildung und Kunst der
Renaissance versanken. Nur wenige Große, wie faul iii. aus dem
Hause farnese, michelagniolo, tizian und aretino retteten etwas
vom alten Geist in die neue Zeit hinüber.
Umschwung und Wandlung freilich vollzogen sich nur langsam,
unmerklich; am raschesten verhältnismäßig auf wirtschafthchem,
sozialem, politischem und kirchlichem Gebiete. Hier waren sie
schon um die Mitte des Jahrhunderts mit der endgültigen Festi*
gung der französischen, spanischen und habsburgischen Einflüsse
XI
auf den Papst und die italienischen Despotien, spätestens aber mit
den großen reformatorischen Entscheidungen des Konzils von
Trient zum Abschluß gekommen. Die großen Traditionen der
Renaissancekunst und der humanistischen Bildung dagegen waren
zu stark, um von heute auf morgen verleugnet werden zu können.
Aber je stärker der Widerstand war, den der neue Geist hier fand,
desto tiefgreifender und deutlicher war schließlich die Umwäl#
zung, die er herbeiführte. Man kann diese Wandlung am besten be*
zeichnen als den großen Schritt vom Objektiven zum Subjektiven,
von der Kultur des Formalen zur Überwucherung des Innerlichen,
vom Künstlerischen zum Sittlichen. Die Kunst der Renaissance
ging über in die Kunst des Barock, der Humanismus, soweit er
nicht durch die erstarkende Theologie erstickt war, versank in
der starken Welle pantheistischer Naturphilosophie. In der Kunst
wie in der Geistesbildung blieb nur noch das Material italienisch,
der Geist, der lebendig machte, war der spanischsgermanische. Im
Barock verinnerlichten und belebten sich die ruhigen Formen der
Renaissance, die gerade Linie wurde zur Kurve, die zweidimensio*
nale Fläche zum dreidimensional bewegten lebendigen Organis*
mus, der Raum wurde nicht mehr geschaffen und bedingt durch
die autonomen Formen der Architektonik, er wurde zum Primären,
Selbstbewußten und schuf und formte seinerseits nach seinen
immanenten Bedürfnissen Mauer, Pfeiler und Säule. Nicht mehr
Verstand und Wille beherrschten das Kunstgeschehen, sondern die
kraftvolle, lebendige Empfindung; die »Werkgerechtigkeit« in der
Kunst wurde verdrängt durch den alleinseligmachenden »Glauü
ben«. Die gleiche Entwicklung verfolgen wir auf dem Gebiete der
Wissenschaft. Die objektive Psychologie des Humanismus konnte
der gärenden Zeit nicht geben, was diese suchte; sie mußte dem
Sturm und Drang einer neuplatonischen Metaphysik weichen.
Auch hier verdrängte ein germanisches Element das romanische.
Wie maßvoll erscheint selbst noch der ruhige Piatonismus eines
PICO DELLA MiRANDOLA gegenüber der der deutschen Mystik ent*
stammenden, mehr an plotin als an plato orientierten Natur*
Schwärmerei im Stile des theophrastus paracelsus, der nun der
Lehrmeister der müden Renaissancephilosophie wurde. Wie die
Kunst des Barock, so ist auch die Weltanschauung des giordano
XII
BRUNO, die reifste und verfeinertste Frucht dieser neuen Art zu den*
ken, eine Konzession Italiens an den Geist luthers. Wie dieser
drängte auch sie zu Radikalismen, und diese Radikalismen der
Meinung zwangen die Autorität zur Unerbittlichkeit. Skeptiker
wie POGGio und valla und selbst noch ein von der Inquisition
Verfehmter, wie cardano, der mehr Humanist war als bruno,
lebten sicher und geehrt im Schatten des Papsttums, während der
unglückliche Dominikaner, noch zu cardanos Lebzeiten von der
Inquisition durch ganz Europa verfolgt, ein halbes Menschenalter
später auf dem römischen Scheiterhaufen endete. Das war die
Wandlung, die die Kultur Itahens im Jahrhundert der Reformation
durchgemacht hat.
Cardanos engere Heimat, das Herzogtum Mailand, teilte das
Schicksal Italiens. Das kluge Regiment der Sforza hatte das
Land nach innen und außen stark gemacht, die wachsende Wohl*
habenheit der Bevölkerung und ein gebefreudiger Mäzenat der
Fürsten hoben die Kultur Mailands auf eine Stufe, die der anderer
italienischer Staaten nicht nachstand. Darum empfand man auch
die Niederlage des Herzogs lodovico moro im April 1500 und
die Eroberung Mailands durch die Franzosen als eine Niederlage
der mailändischen Kultur. Nur allmählich verstand es die Libe#
ralität der fremden Herrscher, vor allem der französischen und
später der kaiserlichen und spanischen Vizekönige und Gouverü
neure, dieWunden zu schließen, die die unaufhörlichen Kriege dem
Lande schlugen. Die mailändische Selbständigkeit war — sieht man
von der kurzen Regierung (Ende 1512 bis September 1515) des
schwachenMASSiMiLiANO SFORZA ab — unwiederbringlich dahin und
das Herzogtum jahrzehntelang der Zankapfel zwischen Frankreich
und dem Hause Habsburg, bis es um die Mitte des Jahrhunderts
spanischer Besitz wurde. Die Franzosen, 1512 vorübergehend aus
Italien verjagt, kehrten 1515 wieder, und die Schlacht bei Marig*
nano nötigte massimiliano Sforza zur Abdankung. Das Land war
französische Provinz, bis das päpstlich* kaiserliche Bündnis die
Franzosen von neuem verdrängte und im Jahre 1522 Mailand als
Reichslehen an den zweiten Sohn des moro, massimilianos Bruder
FRANCESCO SFORZA II., fiel (gestorben 1535); in Wirklichkeit
XIII
herrschte der Kaiser. Es folgten neue französische Feldzüge, die
Schlacht bei Pavia (Februar 1525), der kaiserlichs^päpsthche Krieg
vom Jahre 1526, der mit der Plünderung Roms endete, die fran#
zösische Invasion vom Jahre 1527 und die Plünderung Pavias;
nach der kurzen Ruhe, die der Friede von Cambrai (1529) und
die Kaiserkrönung in Bologna (1530) dem Lande gönnten, tob#
ten in den Jahren 1536—1538, 1542—1544 in Oberitalien neue
Kriege zwischen karl v. und franz i. Das Land litt unsäglich.
Epidemien und Teuerungen vermehrten das allgemeine Elend. Die
dauernde Unsicherheit der rechtlichen und politischen Verhält*
nisse, die wirtschaftliche Verarmung und Verödung des Landes,
die Barbarei der fremden, vor allem der schweizerischen Soldateska
hatten in wenigen Jahren weggefegt, was die Kultur der Renais*
sance in Mailand geschaffen. Nur mühsam fristete ein armer Rest
von Kunst und Wissenschaft eine kümmerliche Existenz. Die von
den Kriegsunruhen und von dem mittelbaren Einfluß der Fremd*
herrschaft weniger berührten Nachbarstaaten, Venedig, Ferrara,
dieRomagna undToscana, überflügelten Mailand weit. Die kleine,
verarmte mailändische Universität Pavia hatte jahrzehntelang einen
verzweifelten Kampf um ihr Dasein zu führen; die Konkurrenz
der finanziell besser fundierten Nachbaruniversitäten, des vene*
zianischen Padua und vor allem des päpstlichen Bologna schadete
ihr jetzt in den Zeiten des völligen Darniederliegens der mailän*
dischen Kultur weit mehr noch als in den ruhigen Jahrzehnten
des ausgehenden Quattrocento.
CARDANO hatte das Unglück, das sein Vaterland traf, am eigenen
Leibe zu spüren. Wenn für ihn die ersten vier Jahrzehnte seines
Lebens fast nur Elend und Mühsal boten, so war daran die prekäre
politische Lage des Landes in ebenso starkem Maße schuld als
CARDANOS eigene körperliche und sittliche Schwäche. Wo das
Morgen noch unsicherer ist als das Heute, da nimmt der allgemeine
Kampf um die wirtschaftliche Existenz radikalere, rücksichtslosere
und unbilligere Formen an als sonst, cardanos Wanderleben,
seine dauernde Arbeitslosigkeit, sein Kampf um die Aufnahme
in das Mailänder ArztekoUegium, ohne die er weder eine geord*
nete Praxis noch eine gesicherte private medizinische Lehr*
tätigkeit ausüben konnte, die ganze Art seines katilinarischen
XIV
Daseins während vieler Jahre erklärt sich daraus. Noch als Pro*
fessor an der Universität zu Pavia litt er unter dem politischen
Unglück des Landes. Die Kassen der Universitätsstiftungen waren
leer, ihre Bezüge blieben ebenso aus wie die staatlichen Zuschüsse,
die Beiträge der Studierenden, und die sonst sehr hohen Gebühren
für Prüfungen und akademische Graduierung wurden in solchen
Zeiten darniederliegenden wirtschaftlichen Lebens seltener. car#
DANO, dessen Professur eine untergeordnete war, erhielt seine ge#
ringe Besoldung — sie war damals in keinem Falle ausreichend:
Dozenten der Medizin waren für ihr Auskommen auf ärztliche
Praxis angewiesen, geistliche Dozenten genossen kirchliche Pfrün;;
den — nur unregelmäßig oder gar nicht, und da ihm die gelegent*
liehen Einnahmequellen in Mailand reicher flössen als in dem klei*
nen armen Pavia, siedelte er in solchen Jahren nach der Haupt*
Stadt über. Die Universität war nicht imstande, die Dozenten zu
halten, und die Unregelmäßigkeit des Unterrichts hatte wieder
einen Rückgang der Frequenz der Hochschule und damit eine
neue finanzielle Unterbilanz zur Folge.
Der Organismus der Universitäten, worin sich der größte Teil
von CARDANOS Leben und Leiden abspielte, war im wesentlichen
noch immer der gleiche wie zu den Zeiten ihrer höchsten Blüte
im Mittelalter. Sie waren noch immer selbständige Körperschaften,
autonom auf dem Boden des kirchlichen wie weltlichen Rechtes.
Nur lose organisiert auf Grund der korporativ gruppierten Natio*
nalitäten und Landsmannschaften ohne scharfe rechtliche Schei*
düng zwischen Lehrkörper und Studierenden, die beide in der
Abstufung der akademischen Grade ineinander übergingen, mit
einem starken Maß von Selbstverwaltung und Selbstverfügung
und dabei nur mit einer geringen Anzahl bezahlter Posten begabt
— die Zahl der besoldeten Professoren einer vollen italienischen
Universität mittleren Umfangs mochte vierzig nicht überschrei*
ten, — waren sie ein dankbares Feld für all die kollegialen Eifer*
süchteleien, Schikanen und Niederträchtigkeiten, von denen car=
DANO so viel zu erzählen weiß. Gerade damals, im beginnenden
absolutistischen Zeitalter, zeigten sich auch auf der Universität die
ersten leisen Spuren einer Wandlung von der alten Freiheit zur
staatlichen Oberaufsicht. Zwar stand noch immer der von der
XV
ganzen Universität auf die Dauer von einem oder einem halben
Jahre frei gewählte Rektor, der Vorsitzende des Senats und das
ausführende Organ der Prokuratoren der »Nationen«, als das ver*
körperte Prinzip akademischer Selbstbestimmung dem Kanzler —
meist war es ein höherer Kleriker — dem Hüter staatlicher und
kirchlicher Autorität, gegenüber und drängte ihn nach und nach
in eine fast ausschließlich repräsentative Stellung, aber immer
stärker und immer deutlicher machten sich staatliche, kirchliche
und kommunale Einflüsse auf die Verwaltung wie auf den Lehr*
betrieb bemerkbar. Die mit derVerarmung der Universitäten immer
nötiger werdenden landesherrlichen, fürstlichen oder städtischen
Dotationen gewährten dem Landesherrn oder der Stadt mehr und
mehr wachsende Rechte auf die Besetzung der Professuren, selbst
auf die akademischen Graduierungen und damit schließlich auf
den ganzen Geist der Anstalt.
Eine tiefgehende innere Krisis hatten die italienischen Universitäten
schon im Zeitalter der Renaissance zu bestehen gehabt. Der Huma#
nismus, dessen Begründer und dessen ersten und bedeutendsten
Vertreter stets außerhalb des engen Rahmens der mittelalterlichen
Fakultäten standen, führte einen neuen, selbständigen Begriff der
Bildung und der Geisteswissenschaft herauf, der sich mit dem
Bewußtsein der Überlegenheit neben die juristische und theolo*
gische Scholastik stellte. Auf den Universitäten selber trug man
dem neuen Geiste bald Rechnung; die philosophische, die söge*
nannte Artistenfakultät, deren meisten Vertreter sich dem Huma*
nismus zuwandten, errang für lange Zeit die unbestrittene Vor*
herrschaft im Reigen der Fakultäten. Der führende Humanismus
freilich, der sich rasch eine eigene gesellschaftliche Berechtigung
in den Kreisen der kirchlichen und weltlichen Großen errungen
hatte, fand es für gut, sich auch eine eigene Organisation außerhalb
der Universitäten zu schaffen. Die humanistischen Akademien, die
im Jahrhundert vor cardanos Tod in Italien in großer Anzahl
aus dem Boden schössen, waren auf dem Mäzenat weniger privater
Persönlichkeiten ruhende, frei organisierte Institute zur Pflege
wissenschaftlichen, vor allem humanistischen Geistes. Die Accade*
mia degli Affidati, die in cardanos Leben eine Rolle spielte, gehört
in ihre Reihe. In vielen Fällen waren diese Akademien, Ahnen
XVI
und Vorbilder der heutigen, freilich mehr Konkurrenz als Ergän*
zung der Universitäten. Sie gönnten ihre finanzielle und moralische
Unterstützung jeder Art des Schrifttums, auch der freien dichteri?
sehen Produktion, bekämpften alle traditionelle Wissenschaft und
pflegten jenen freien, selbständigen Geist, der das Denken der
Hochrenaissance kennzeichnet. Die Universitäten schienen durch*
aus zurückgedrängt.
Dann kam mit dem beginnenden Barock eine neue Wandlung.
Der Humanismus löste sich auf in eine libertinistische Publizistik
im Stile aretinos einerseits, andrerseits in pedantische philologische
und historische Detailarbeit. Seine schöpferische, bildende Kraft
war vertrocknet. Neue wissenschaftliche Inhalte und ein neuer
wissenschaftlicher Geist hielten ihren Einzug im italienischen
Geistesleben. Die Akademien traten ihre kurz genossene Vorherr?
Schaft wieder an die alten Universitäten ab, und unter dem Druck
neuer staatlicher und kirchlicher Bedürfnisse erhoben sich die
juristische und theologische Fakultät wieder zu Bedeutung und
Ansehen. Und neben diesen zeigte sich als wesentliches Merkmal
der neuen Zeit eine starke Betonung naturwissenschaftlichen
Denkens und naturphilosophischer Spekulation. Mathematische,
medizinische und technische Probleme wurden erörtert mit der*
selben Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit, mit der im Mittelalter
die großen scholastischen und im Zeitalter des Humanismus die
ethischen, stilistischen und philologischen Kämpfe ausgefochten
wurden. Ein neuer Geist beseelte die neuen Inhalte der Wissen*
Schaft. Eine pedantische.jedenfallsaber strengere Auffassung vom
Sinn und von der Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit gewann
Raum und Herrschaft; auch hierfür ist uns cardano Zeuge. Der
Fachmann verdrängte den Dilettanten.
In gewissem Sinne mag gerade Mailand als typisch für diese neue
Stufe der Entwicklung italienischer Kultur gelten. Sieht man auch
davon ab, daß einst auch lionardo da vinci, der Techniker und
Erfinder, hier gewirkt, und hält man auch vereinzelte historische
Notizen für belanglos, die darauf schließen lassen dürften, daß
in Mailand das Interesse für naturwissenschaftliche und technische
Dinge stets stark gewesen war, so läßt sich doch einigermaßen
der Nachweis führen, daß der neue naturwissenschaftliche Geist
XVII
in Oberitalien rascher Fuß faßte als anderswo, daß der Mailänder
Humanismus früher und deutlicher als jeder andere gerade die
Wendung genommen hat, die mit cardanos humanistischen und
philosophischen Schriften gegeben ist, und daß die italienische
Bildung in Mailand bewußter als die der anderen italienischen
Kulturzentren Anschluß an das Ausland suchte. Die »Bibliotheca
scriptorum Mediolanensium« des filippo argellati und die
»Historia literario * typographica Mediolanensis« des Giuseppe
ANTONIO SASSi (beide Werke erschienen gemeinsam in Mailand
1745), umfangreiche Zusammenstellungen statistischer Art, aus
denen sich bei aller Ungenauigkeit des Einzelnen doch ein zuver#
lässiges Bild des Ganzen gewinnen läßt, beweisen, daß das wissen*
schaftliche Leben und die Publizistik Mailands, die bis in die ersten
Jahrzehnte des Cinquecento herein fast ausschließlich humanisti*
sehen Charakters waren oder doch im Dienste humanistischer
Bildung standen, mit dem fortschreitenden Jahrhundert neben
den wiedererweckten juristischen und theologischen Studien mehr
und mehr mathematischen, medizinischen und naturwissenschaftü
liehen Werken Raum und Kraft gönnten. Schon im zweiten Drittel
desJahrhunderts war diese Wandlung vollzogen; wie einst im Mit*
telalter waren Wissenschaft und Bildung wieder universalistisch
und international geworden. Nur einige wenige, wie cardano,
verstanden es, den großen Geist des Humanismus mit dem neuen
Inhalt und den neuen Tendenzen der Wissenschaft zu vereinigen.
Cardanos Leben zählte, bei allen inneren Kontrasten seines
Charakters, nach keiner Seite hin starke Akzente. Es floß
im trägen Rhythmus von häuslichem Ärger und Kummer, von
Berufs* und Nahrungssorgen, von Krankheiten und üblen Erfah*
rungen gesellschaftlicher Art, von Müdigkeit, Schwäche und an*
gestrengtester, erfolgreichster Arbeit, cardano selbst empfand es
mit jener stillen Art lächelnder Bitterkeit, die sein Memoirenwerk
vom ersten bis zum letzten Wort beherrscht, daß das einzig
Dauernde in seinem Erdendasein Mühsal und Unglück war. Und
doch nannte er sich glücklicl^. Sein Leben war ein Leben ohne
Schönheit, aber es war geadelt durch die ruhige, starke Herrschaft
unerschütterlicher Vernunft und kalten, klaren Verstandes. In all
XVIII
die trübe Wirrsal seines Lebens leuchtete sein schauender und vers
stehender BUck; sachhch,wie nur ein Naturforscher, unerbittHch,
wie nur ein Arzt sein kann, sah, erkannte und urteihe er: daß das
Leben eitel und voll Erbärmlichkeit, daß es aber für den Menschen
hinlänglich gut und lebenswert sei und daß es sich für ihn wie
für alle andern gelohnt habe, Mensch zu sein.
Zerrissene häusliche Verhältnisse und eine höchst mangelhafte
Erziehung bestimmten das körperliche und seelische Wachstum
des jungen cardano. Neben seinem Vater, einem guten, bizarren
Pedanten im Stile des alten Rat goethe, und neben seiner Mutter,
die alles andere als eine Frau aja war, wuchs der kränkliche
junge Sonderling fremd, verschlossen, sich duckend und doch
innerlich selbständig auf. Sein frühreifer, heller Verstand wies
ihm durch alle Absonderlichkeiten seines Wesens und durch alle
Winkelzüge eines verfehlten, unmethodischen Unterrichts einen
klaren, raschen Weg. Als er, ein Neunzehnjähriger, die Uni#
versität bezog, war sein Charakter ausgereift, sein Wille bestimmt
und stark genug, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Der väterliche Wunsch ward in den Wind geschlagen, die enge
Juristerei, kaum begonnen, wieder aufgegeben. Dem weiten Feld
der Naturforschung und der Bildung des Humanisten gehörte
seine Liebe, technische, mathematische und ethische Probleme
fesselten sein Interesse, nicht juristischer und historischer Klein*
kram. Er warf sich mit dem Eifer des Jünglings und mit der
Sicherheit seines ausgereiften Intellektes auf die Studien, hörte,
las, lernte, dachte, grübelte und ordnete das Chaos der Erfahrung
mit methodischer Korrektheit. Tatsächlich hat er in den Jahren
seiner Studienzeit den breiten und tiefen Grund zu der späteren
Universalität seines Wissens und seiner Bildung gelegt. Dabei
blieb CARDANO durchaus Student und jugendlich, lebensfroh und
übermütig. Die trüben Jahre der Jugend waren ausgelöscht und
vergessen. Sein Vater hatte ihn durchaus nicht spärlich mit Mitteln
versehen, und wo das väterhche Geld trotzdem nicht genügen
wollte, wie im kostspieligen, üppigen Jahre seines Rektorats,
halfen wohlhabende Freunde mit Darlehen. Sein scharfer Geist,
seine Selbständigkeit, die frühreife Überlegenheit seines Charak*
ters sicherten ihm einen angesehenen Platz im Getriebe der kleinen
XIX
Universitäten, die er besuchte; sie waren wohl auch der Grund
seiner Wahl zum Rektor in Padua. Beliebt freilich war cardano
nicht. Sein Hochmut, seine böse Zungenfertigkeit, die Staunens«
werte Schnelligkeit und Sicherheit seines wissenschaftlichen Ver^
Stehens und Lernens schufen ihm Feinde und Neider in allen
Kreisen. Wie einst der junge michelagniolo in den Künstler:^
Werkstätten zu Florenz, so ging cardano durch die Hörsäle der
Universitäten, schlagfertig, unliebenswürdig, boshaft und ver?
letzend, von wenigen geliebt, von den meisten gehaßt, beneidet
und gefürchtet, von allen bewundert und geachtet.
Der Vater hatte mit seinen Besorgnissen um des Sohnes Zukunft
recht behalten. Als girolamo nach fünf« bis sechsjährigem Stu*
dium, mit Mühe zum Doktor promoviert, die Universität ver#
ließ, war er völlig existenzlos. Doch er verlor die gute Laune, die
Sorglosigkeit und Siegesgewißheit seiner Studienjahre nicht. Er
siedelte nach Sacco, einem kleinen Landstädtchen, über, lebte dort
in Arbeit und Vergnügungen bedürfnislos, mit einer schmalen ärzts
liehen Praxis und vom Gelde freundlicher Gönner. Unbekümmert
um die fernere Zukunft genoß er die Reize dieser katilinarischen
Existenz, vertiefte sein medizinisches Wissen, machte die ersten
größeren Ausflüge ins rätselvolle Land der Naturmystik und trieb
Astrologie und Chiromantik. Sechs Jahre währte diese einzige
sonnige Zeit seines Lebens. Da tat er gegen Ende des Jahres 1531
den Schritt über die enge Grenze, die zwischen sorgloser Jugend
und dem bittern Ernst des Daseins läuft: er heiratete — vielleicht in
der ersten Freude seiner geschlechtlichen Genesung — die lucia ban«
DARINI, die Tochter eines Abenteurers, ein schönes, aber wenig
bemitteltes Mädchen. Was ihm damals im Traum erschienen war,
wurde Wirklichkeit: die Türe ins Paradies war hinter ihm ge#
schlössen.
Wir wissen von cardanos Frau sehr wenig. Sie mag ihm eine treue
Gattin und Hausfrau, den Kindern eine gute Mutter gewesen sein.
Jedenfalls hat sie mit ihrem Gatten Sorgen und Elend treu geteilt.
Fünfzehn Jahre lebte sie mit cardano zusammen, die trübste,
drückendste Zeit seines Lebens. Zwei Fehlgeburten leiteten das
eheliche Glück ein; Krankheiten, Familien? und Nahrungssorgen,
der wissenschaftliche und gesellschaftliche Existenzkampf ihres
XX
Mannes folgten, cardanos Ruhm hat sie nicht mehr erlebt. Als
sie im Jahre 1546 starb, konnte sie auf ein Leben zurückblicken,
das ihr viel, wenn nicht alles schuldig geblieben war.
Für CARDANO blieb die Erinnerung an sein eheliches Leben stets
eng verknüpft mit dem düsteren Empfinden drückendster Sorgen.
Was dem Tag seiner Hochzeit folgte, das waren zwölf Jahre
der Not und des Elends. Als Familienvater sah er sich jetzt genö*
tigt für eine sichere Lebensstellung und dauernden Unterhalt zu
sorgen. Im Februar 1 532 war er nach Mailand übergesiedelt, in der
Hoffnung, durch ärztliche Praxis oder als Dozent an einer Laien*
schule oder einer Akademie sein Brot zu verdienen. Alles schlug
fehl. Das Kollegium der Ärzte verweigerte ihm die Aufnahme
und damit die rechtlich anerkannte Ausübung einer ärztlichen
Praxis wie einer Professur, vermutlich weil die schlechten Zeiten
jede Konkurrenz zu vermeiden und zu verhindern hießen. Der Pro*
zeß, den cardano um seine Aufnahme führte,war resultatlos ; andere
Prozesse, die der Konsolidation seines kleinen ererbten Vermögens
dienten, gewann er, aber sie verschlangen das Vermögen, cardano
lebte in bitterster Armut und in den ungeordnetsten Verhältnissen.
Der anderthalbjährige Aufenthalt zu Gallarate besserte seine Lage
so wenig wie das stets erneute und stets erfolglose Gesuch um
Aufnahme in das Ärztekollegium. Nur die Unterstützung einiger
Gönner half über die drückendste Geldnot hinweg. Zwar arbeitete
cardano mit eisernem Fleiß, moralphilosophische Betrachtungen
wechselten mit astrologischen Grübeleien und strengsten medi*
zinischen und mathematischen Studien; einige Schriften erschien
nen sogar, vermittelt durch seinen Freund ottaviano scoto, der
die Kosten deckte, im Druck. Aber innerlich war cardano zu*
sammengebrochen, mutlos, der Verzweiflung nahe. Er selber hat
später diese Jahre als eine Zeit des moralischen Bankrotts betrach*
tet. Der Spielteufel hatte ihn gepackt, und um die Sorgen und das
drückende Gefühl der Existenzlosigkeit zu verjagen, verbrachte
er Tag und Nacht am Spieltisch. Das Jahr 1539 schien vorüber*
gehend eine Besserung bringen zu wollen: Das Kollegium der
Ärzte nahm ihn endlich auf, und die Veröffentlichung mathemati*
scher Werke und die daran sich anknüpfenden Auseinandersetzun*
gen mit dem berühmten Mathematiker niccolö tartaglia über
II Cardano
XXI
eine von diesem gefundene, von cardano, wie tartaglia behaup*
tete, zu Unrecht veröffentlichte wichtige mathematische Formel
begannen seinen Namen in weitere Kreise zu tragen. Aber die
Geldsorgen drückten nach wie vor. Zwar gewann er mit dem
wachsenden Ruhme auch neue Freunde und suchte mit deren
Hilfe nutzbringende Beziehungen anzuknüpfen ; verschiedene Rei*
sen dienten diesem Zweck. Aber der Erfolg bheb aus, und car::
DANO spann im trägen Wechsel von Studium und Spiel, Arbeit
und Zerstreuung den dunklen Faden seines Lebens weiter. Er
wurde bei aller ruhigen Klugheit bitter und ungerecht und gab
sich, bestärkt durch astrologische Phantastereien, seinem immer
satter werdenden Lebensüberdrusse hin. Er hatte alle Hoffnung
auf Besserung seiner Lage aufgegeben, als ihn im Jahre 1543 die
Berufung an die Universität zu Pavia aus der Melancholie des
Verzichts riß. »So kam es denn, daß mein Leben eigentlich erst
anfing, da ich sein Ende gekommen glaubte, in meinem 43. Le*
bensjahre« — urteilt er selbst, in der Beschaulichkeit des Alters,
über diese bedeutsame Wendung seines Lebens.
Allzu günstig freilich waren die neuen Verhältnisse nicht, cardanos
wirtschaftliche Lage hatte sich dadurch kaum gebessert. Die Uni*
versität litt unter den dauernden politischen Wirren, ihre Kassen
waren leer, und häufig konnte den Professoren die Besoldung
nicht ausgezahlt werden. Mehrmals verließ cardano die Univer*
sität und siedelte für ein oder zwei Jahre wieder nach dem große*
ren Mailand über, das ihm mehr Möglichkeiten des Erwerbs
durch ärztliche Praxis bot, als das kleine, verarmte Pavia. Aber so
unsicher und zweifelhaft im einzelnen der Wert der neuen Stel*
lung war, für cardano war die Professur doch von höchster
Bedeutung. Zum erstenmal lebte er in gesichertem sozialen Da*
sein und genoß die Vorzüge eigentlicher beruflicher Arbeit. Sein
Leben gewann einen neuen Inhalt; die Wunden, die die trostlosen
Jahre der Arbeitslosigkeit seinem Charakter geschlagen, vernarb*
ten rasch. Seine wissenschafthche Tätigkeit nahm einen bewußten
und starken Aufschwung. Neben den medizinischen Studien,
die seine Professur erforderte, waren es mathematische, vor allem
algebraische Arbeiten, die ihn fesselten. Und als diese im Jahre
1 545 durchVeröffentlichung seiner »ars magna«, einer umfassenden
XXII
Darlegung der Algebra, abgeschlossen waren, begann er mit der
Ausarbeitung eines der Hauptwerke seines Lebens, den 21 Bus:
ehern »de subtilitate«, worin er von der Natur, von den Künsten
und von übernatürlichen Dingen handelnd einen großzügigen
Aspekt vom physischen, mechanischen und metaphysischen Natur*
geschehen geben wollte. Das Werk, das im Jahre 1551 veröffent*
licht wurde, ist die reifste Frucht jener arbeitsreichen Jahre, in
denen cardano gesundete und die Höhe seiner wissenschaftlichen
Bedeutung erstieg. Und ein freundliches Schicksal gönnte ihm
nun auch das seltene Glück zeitiger Anerkennung. Neue, einfluß*
reiche Freunde, wie morone und alciati, waren stolz, sich seiner
annehmen zu dürfen, und als erste Frühlingsboten kommenden
Weltruhms durfte er die ehrenden Angebote betrachten, die ihm
im Jahre 1546 vom Papst paul iii. und König Christian iii. von
Dänemark zugegangen waren.
Der Ruf und die Reise nach Edinburg krönten diesen Weltruhm;
cardano selbst betrachtete sie als den höchsten Triumph seines
Lebens. Die Reise — das Itinerar ist weder in chronologischer noch
geographischer Hinsicht einwandfrei festzustellen — führte ihn
mit Königen, Fürsten und Gelehrten zusammen und ließ ihn
etwas von der internationalen europäischen Luft atmen, in der
sich die großen Humanisten und Künstler jener Zeit, erasmus,
aretino, TIZIAN u. a., wohl und heimisch fühlten. Es folgten sie?
ben Jahre wissenschaftlicher Arbeit und ärztlicher Praxis in Mai#
land (1553—59), eine Zeit wachsenden Ansehens und stetiger
wirtschaftlicher Besserstellung, freilich auch eine Zeit neidvoller
Anfeindungen, Verleumdungen und Verdächtigungen durch wis#
senschaftliche und persönliche Gegner. Häusliches Unglück, das
nach dem Tod seiner Gattin immer häufiger wurde, drückte ihn
und raubte dem Einsamen die beruhigende Wohltat des Familien*
lebens. Er vergrub sich in seinen Arbeiten; sein einziger Verkehr
waren die jungen Leute, die er als Schüler und wissenschaftliche
Hilfsarbeiter zu sich ins Haus genommen. Im Jahre 1560, als er
eben die Professur in Pavia von neuem angetreten, erfolgte die
große Katastrophe seines Lebens : das Verbrechen und die Ver*
haftung seines ältesten Sohnes, des hoffnungsvollen gianbattista.
cardano eilte nach Mailand zurück. Obwohl er an der Schuld
„* XXIII
seines Sohnes nicht zweifeln konnte, tat er alles, ihn zu retten; das
Gericht blieb unerbittlich und verurteilte den Gattenmörder zum
Tode. Die Hinrichtung brachte den alten cardano außer Fassung.
Weitere Todesfälle und das leichtsinnige Leben seines Sohnes
ALDO zerstörten ihm vollends das, was er einst seine Familie ge#
nannt hatte. Als er nach Favia zurückkehrte, stand sein Haus
verödet. Alt und fremd geworden mied er jeden kollegialen Vers
kehr, verbohrte sich in Trübsal und mystische Erlebnisse, ver*
sank in moralphilosophische Grübeleien, fühlte sich mißachtet,
gemieden und verfolgt. Ein krankhaftes, an Verfolgungswahn
grenzendes Mißtrauen und eine tiefe Bitterkeit des Urteils hatten
ihn gepackt; nur langsam kehrte die kluge Ruhe des Humanisten
zurück, aber sie blieb beherrscht von jener kalten, zynischen Art,
Welt und Leben zu mißachten, die sein ferneres Denken charak*
terisierte und die tiefer ging als der bloße Pessimismus der üblen
Erfahrung.
Im Jahre 1562 verließ cardano endgültig das ihm verhaßt gewor*
dene Favia. Er lebte einige ruhige Monate in der Umgebung von
Tochter und Schwiegersohn inMailand und verhandelte inzwischen
mit der Universität Bologna über die Bedingungen, unter denen
er bereit war, eine ihm angebotene Professur für Medizin anzu*
nehmen. DieVerhandlungen führten zu gutem Ende, und cardano
siedelte gegen Ausgang des Jahres nach Bologna über. Acht Jahre
lebte er dort, dozierte unter starkem Zulauf, übte eine große ärzt#
liehe Praxis aus, genoß trotz aller kollegialen Schikanen unbe*
strittenes Ansehen, die Stadt ehrte ihn durch Verleihung des Ehren*
bürgerrechts, zum erstenmal gestalteten sich auch seine finanziellen
Verhältnisse so, daß er ohne Sorge in die Zukunft schauen konnte.
Innerlich war er ruhiger und stiller geworden und spann uner#
müdlich am Faden seines großen Lebenswerkes der Naturerkennt*
nis, Einzelheit reihte sich an Einzelheit und ordnete sich ein in die
kühnen Linien seines Weltbildes, Kopf und Feder waren ruhelos,
und die zahllosen Abhandlungen aus allen Provinzen des Wissens
und der Bildung, die er in ununterbrochener Folge veröffentlichte,
offenbarten deutlich, welch staunenswerte Kraft des Geistes noch
immer in diesem zähen Greisenkörper wirkte.
Da schien es noch einmal, als wolle das Schicksal den mühsam
XXIV
errichteten Bau seiner bürgerlichen Existenz zerstören. Am 13. Ok?
tober 1570 wurde cardano eingekerkert. Ein rätselhaftes Dunkel
liegt über diesem Ereignis, cardano selbst deutet nur in ängstlich
versteckter Weise an, daß es sich um Verleumdungen auf dem Ge#
biete der kirchlichen Rechtgläubigkeit gehandelt habe, aber gerade
die zurückhaltende Art, womit er in seinen unter den Augen des
Papsttums in Rom verfaßten Memoiren über diese Dinge berichtet,
bestätigt, was die ganze Lagerung der Tatsachen uns beweist:
CARDANO stand vor dem Tribunal der Inquisition.Wirkennen weder
die Anklagepunkte noch den Gang des Prozesses. Verdächtigungen
seiner Rechtgläubigkeit und offene Anklagen wegen Häresie
wurden namentlich nach cardanos Tode immer häufiger; daß er
gewagt habe, Christus das Horoskop zu stellen, galt als stärkster
Beweis seines Unglaubens. Ähnlicher Anklagen wegen mochte
er sich im Herbst 1570 zu verantworten gehabt haben. Man be:;
handelte ihn mit Milde und Achtung, seine beiden Freunde, die
Kardinäle giovanni morone und der heilige carlo borromeo
traten für ihn ein, und cardano selbst gab die einzig mögliche
Antwort, die der Humanismus dem neuen Geist der Gegenrefor^:
mation geben konnte, er unterwarf sich mit der Ruhe des guten
Gewissens und dem stillen Lächeln höherer Einsicht. Nichts lag
ihm ferner, als ein Ketzer sein zu wollen, und er hatte zu tiefe
Blicke in das Wesen der Natur, des All und des Geistes getan, um
sich über den Wert der sittlichen Forderungen der Wissenschaft
einer frommen Täuschung hingeben zu können. Das Urteil, das
die Inquisition fällte, war milde und doch bestimmt: man verbot
ihm jede weitere Publikation, legte ihm nahe, auf seinen Lehrstuhl
zu verzichten, und lud ihn ein, vom Papst mit einer anständigen
Pension versehen, zu Rom im Schutze des Vatikans und im Schatten
kirchlicher Aufsicht zu leben, cardano leistete ruhig und gern
Verzicht auf die letzten spröden Fasern kleinlicher Eigenwillig*
keit, er unterwarf sich den kirchlichen Verfügungen wie einst ein
piccOLOMiNi und ein valla mit der adligen Geste des Verstehens
und erkaufte sich durch die Bereitwilligkeit, womit er die goldenen
Fesseln annahm, einen heiter#schönen Lebensabend, ein paar Jahre
langentbehrten ruhigen Behagens, höchster menschlicher Weisheit
und reinster Beschaulichkeit.
XXV
Ende September des Jahres 1571 verließ cardano Bologna; am
6. Oktober traf er in Rom ein. Er bewegte sich dort in voller Frei*
heit, geehrt und geachtet. Das Kollegium der Ärzte nahm ihn,
ohne daß er Schritte getan hätte, vermutlich auf höheren Befehl,
in seine Reihen auf und ermöglichte ihm so die Ausübung seines
ärztlichen Berufes. Daneben widmete sich cardano mit unermüd*
lichem Fleiß der wissenschaftlichen und schriftstellerischen Tätig»
keit, in der stillen Hoffnung, daß wenigstens nach seinem Tode
die Publikation der zahlreichen noch nicht veröffentlichten Werke
möglich werde. Im Jahre 1574 begann er dann die Aufzeichnungen
aus seinem Leben zu ordnen. Streng, klar und unerbittlich wan#
derte sein prüfender Blick über seine Vergangenheit, und er fand
sein Leben wertvoll genug, geschildert und der Nachwelt, bei der
er ewigen Ruhm erhoffte, übergeben zu werden. Mag auch manches
in dieser seltsamen Selbstbiographie, namentlich in Sachen der
Kirchlichkeit, wie eine Apologie klingen, über dem Ganzen liegt
doch der nüchterne Ernst der Wahrhaftigkeit, und fast jede Einzel*
heit trägt den ehrlichen Stempel wirklichen Lebens. Die Objek*
tivität seines Denkens und Betrachtens, die ihm angeboren und
durch die Eigenart seiner beruflichen Arbeit verstärkt war, empfing
Vertiefung und Weihe durch die ruhige Resignation und das stille
Bescheiden seiner letzten Jahre. Sein Leben war abgeschlossen, als
er sich daran machte, es zu beschreiben; er hatte keinen Grund,
sich und andere zu belügen. Er hat es auch verschmäht, mit er#
heuchelter philosophischer Gelassenheit seine nüchterne Erkennt*
nis zu verbrämen. Stahlhart und kalt sagte er seine Meinung über
das Leben, das hinter ihm lag, und bejahte noch einmal, ohne zu
entschuldigen oder zu verteidigen, alle Triebe seines Fleisches, alle
Ecken und Kanten seines Wesens, den ganzen Weg, den er im
Guten wie im Bösen zurückgelegt.
Am 20. September 1576 starb cardano. Sein Enkel ließ später
seine Leiche, vermutlich einer Bestimmung seines Testaments ent*
sprechend, nach Mailand überführen und in San Marco an der
gleichen Stelle beisetzen, wo cardano selbst im Jahre 1524 seinen
Vater fazio bestattet hatte.
XXVI
CARDANOS Charakter macht den äußeren Eindruck größter Zer*
rissenheit und Unausgeglichenheit. Ruhelos und unstet, ohne
Kraft und Lust, sein Leben auf festen, engen Boden zu gründen,
im wirren Zickzack, nicht auf geradem Weg vorwärtsschreitend,
vieldeutig und wechselnd aus Grundsatz, besaß er keine gute und
keine schlechte Eigenschaft, ohne auch ihr Widerspiel zu pflegen.
Bald ging er rasch und heftig, bald langsam zögernd, bald inLumpen,
bald geckenhaft gekleidet; heute arbeitete er in stählernem Fleiß,
morgen saß er voll Leidenschaft am Spieltisch, schlenderte lässig
durch Wald und Wiesen oder saß stundenlang mit der Angelrute am
Bach oder Teich; warjetzt tief in Gedanken versunken, um im nach*
sten Augenblick das klare, lauernde Auge kalt und sicher beobachs
tend auf einen Gegenstand, einen Vorgang zu richten; war heute
starr, zäh, konsequent, geschlossen, morgen weich, wankelmütig,
jedem Einfluß offen. Zugleich nüchtern und zugleich Phantast, ein
Mathematiker, der mystische Neigungen hat, ein Naturwissen*
schaftler, den ethische Probleme quälen, ein Mediziner, der sich
mit Logik abgibt, schien er zusammengesetzt aus Widersprüchen
und voll von körperlichen und seelischen Eigenschaften, die man
von gewissen summarischen Gesichtspunkten aus pervers und
anormal zu nennen pflegt.
Und doch läßt sich der Wirrwarr dieser Linien ordnen und ge#
ordnet in eine letzte, prägnante Formel bringen, cardano selbst,
der sich mit dem Auge des Mediziners und dem Ohr des Psycho*
logen beobachtet hat, gibt uns diese Formel: »Ich habe ein kaltes
Herz und einen heißen Kopf.«
In gewissem Sinn ist dieses Wort der einzige Schlüssel zur Psycho*
logie des Renaissancemenschen, des reinen, vollendeten Italieners
überhaupt. Jene seltsame Art geistiger Kultur, die wir als das Ge#
meinsame in Politik, Religion, Bildung und Kunst der Renaissance
erkennen, jene reizvolle Verbindung von kühler Objektivität und
höchster Leidenschaftlichkeit, von maßvollem Empfinden und rück*
sichtslosem Wollen, von straffer Kultur des Gefühls und völliger
Systemlosigkeit des intellektuellen Benehmens findet in dieser For*
mel ihre Erklärung. Der Schwerpunkt des geistigen Geschehens
liegt im Kopf, im Verstandesmäßigen, darum dominiert das Objek*
tive und Formale ; aber dieses Verstandesmäßige vollzieht sich in
XXVII
äußerster, schöpferischer Spannung, in einem leidenschaftlichen,
stets wechselnden Mitgerissensein vom Okjekt, daher jene zucht*
lose, primitive Aktivität, jener Drang zum Gestalten, den burck#
HARDT in der Renaissance gefunden hat. Alle sinnliche Kraft wirkt
nach außen, nichts verzehrt sich in sich selbst. Die Provinz des
Herzens liegt, ohne daß sie verkümmerte oder entstellt würde,
verarmt, ausgesaugt und ausgebeutet; ihre Funktion ist nur mehr
die des Geschmacks. Das Chaos der Innerlichkeit schwindet unter
dem ordnenden und klärenden Blick des Verstandes, die Kraft
des subjektiven Selbstbejahens ist völlig vom Elan des Wirkens
nach außen in Anspruch genommen, an die Stelle der Sittlich*
keit und des autonomen geistigen Systems tritt das starke Ge;:
fühl der sozialen Forderung und der gesellschaftlichen Ordnung
im alten römischen Sinn.
CARDANOS ganzes Naturell, alle seine physischen und psychischen
Qualitäten waren durch diese Hypertrophie des Verstandesmäßi*
gen bestimmt, geformt und gestaltet. An sich schon ungemein
lebendig, voll sinnlichen Feuers, jedem Eindruck sich hingebend,
ließ er sich durch die Leidenschaft des Intellektuellen in einen
wahren Wirbel geistigen Lebens reißen. In anscheinend durchaus
planlosem Wechsel durchlief er alle Gebiete des Wissens und
Denkens. Ohne im einzelnen stets über die notwendige methodi*
sehe Sicherheit zu verfügen, wagte er sich doch in jede Wissen*
Schaft einzuarbeiten und fühlte sich bald überall zu Hause, in
allen Disziplinen der Naturwissenschaft, der Mathematik und
der Medizin, in Philosophie, Geschichte, Philologie, Politik und
Ästhetik. Er verschmähte es auch nicht, in die mystischen Ab*
gründe des Abenteuerlichen, Absonderlichen und Außergewöhn*
liehen hinabzusteigen. Kein Phänomen der Wirklichkeit blieb ihm
fremd, denn was er suchte und in all dem Wirrwarr der Erkennt*
nis zu finden glücklich war, das war das große Eins im All. car*
DANO glaubte an die Allmacht des Intellekts. Alle seine Phantaste*
reien, seine mystischen Neigungen, sein Geisterglaube, seine Astro*
logie, seine Chiromantik, seine Träumedeuterei, all das, was den
bizarrsten Zug in seiner ganzen Erscheinung bildete, das war
nicht Aberglaube im gewöhnlichen Sinn des Worts, kein Mangel
an Intellekt und kein Verzicht auf das Verstandesmäßige, son*
XXVIII
dem im Gegenteil ein Übermaß, eine Überschätzung des Intellekts.
Jenes große Letzte, jenes »unum,« das er suchte und fand, war
für ihn keine metaphysisch#monistische Spielerei, kein pantheisti?
scher Glaube, sondern der große panlogistische Wille, das Zu#
sammenfassen, das Zusammenstimmen, die Ordnung.^ Nicht die
Weltseele suchte er, sondern den Weltwillen und das Weltlicht,
weil eben nicht die Empfindung, das Subjektive, ihn beherrschte,
sondern der Intellekt, der Hunger nach dem Objektiven. Zur
»Fackel Gottes« zu werden, dem göttlichen Licht der Erkenntnis,
des »intellectus«, in sich zum Siege zu verhelfen, darin sah er,
wenn er es einmal für gut fand, aus dem Bereich des nüchternen
Lebens in das Gebiet der tönenden Phrase zu treten, seine höchste
und schönste Aufgabe. Was galten diesem Ziele gegenüber ein
paar methodische Verstöße mehr oder weniger?
Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus betrachtet erscheint
diese universale Tendenz des Intellektuellen als ein Gewaltakt
und deshalb als ein Irrtum, für cardano persönlich war sie die
hohe Schule seines Charakters. Trotz aller Schroffheit und Vn^
ebenheit seines Temperaments verlieh sie ihm eine gewisse herbe
Großzügigkeit der Gesinnung und jene stille Klugheit, die wir
um eine Tönung weicher und freundlicher bei allen italienischen
Humanisten wiederfinden. Die Wirklichkeit hat ihm die feinsten
und verborgensten Falten ihres Wesens geöffnet, und er dankt ihr
dafür durch eine widerspruchlose objektive Hinnahme, durch
einen vollen Verzicht auf jede ideale Forderung. Nichts liegt ihm
femer, als sich selbst sitthch fortbilden zu wollen; er bleibt der
sinnliche, boshafte, jähzornige, eitle und feige Mensch, der er von
jeher gewesen, nur klüger ist er mit Bewußtsein und Willen ge#
worden. Er erwartet nirgendwoher etwas Gutes, weder von der
Natur, noch von sich, noch von den Menschen; er weiß, womit
er zu rechnen hat, und baut auf dieses sichere Wissen den Kalkül
seiner Lebensweise auf: mit einem Minimum von Unlust für sich
und, wenn möglich, auch für die anderen, durch die Welt zu gehen.
Es ist kein empfindungsstarker Pessimismus, dem er huldigt, nur
eine völlige Ideallosigkeit; es klingt aus diesem trüben Aspekt
* CARDANO selbst betrachtete seine Schrift »de uno« als eine Einführung in
die Dialektik.
XXIX
der Welt nichts von bitterer Enttäuschung, nichts von Zorn oder
von Sehnsucht, sondern allein die ruhige Kenntnis des wirklichen
Lebens. Mit wachsendem Staunen liest man seine Schriften »de
optimo vitae genere«, »de utilitate capienda ex adversis«, seinen
»libellus praeceptorum ad filios« oder das bedeutungsvolle Buch
»de prudentia civili« und andere, in denen er die Schätze seiner
Lebenskenntnis aufgestapelt hat. Da ist nichts mehr von der mil#
den, klaren Menschlichkeit eines Petrarca oder bembo, kein glü*
hender Hedonismus wie bei valla, nichts von dem ätzenden Scharf?
sinn eines macchiavelli, nur ein einziger großer Einklang rest::
loser Klugheit, mit einer erschreckenden Kühle und Gelassenheit
vorgetragen. So groß und überragend sind Summe und Potenz
dieses Intellekts, daß sie uns die medizinische Diät in Sachen des
Idealen, des Sittlichen und des Gefühlsmäßigen kaum mehr als
Mangel ins Bewußtsein treten lassen.
Nur manchmal bricht aus dieser harten Schale, scheu und angst*
lieh freilich, ein warmes Gefühl echter menschlicher Empfindung,
dort etwa, wo er um sein eigenes Fleisch und Blut, um das Leben
seines liebsten Sohnes kämpft, oder wo er, wie zum Beispiel dem
Fürsten von Matelica gegenüber (s. u. S. 49), eine reine, selbst*
lose Zuneigung mit dankbarer, demütiger Liebe erwidern darf.
Man wird auch nicht vergessen, daß er ein Sohn der Renaissance
ist, selbst im Wust seines beruflichen Handwerks ein Mann des
verfeinerten Geschmacks und höchster Bildung, ein leidenschaft*
lieber Musiker, ein Freund der Dichter, der mit allen Großen des
erweckten Italiens von jenem einen übermächtigen Ideal der Re*
naissance beherrscht war, der Erbärmlichkeit des irdischen Da*
seins Adel und Weihe zu verleihen durch die Gloriole des Nach*
ruhms. In diese große Sehnsucht nach ewigem Leben und Wir*
ken in der Menschheit ist hineingepreßt, was an Idealem, Ir*
rationalem. Triebhaftem in cardano lebendig war. Außerhalb
dieses Wunsches — er nennt ihn selbst einen törichten Wunsch
und will doch nicht von ihm lassen — ist alles wieder Klug*
heit, Berechnung, Maß, die selbst über Haß und Liebe zu ge*
bieten wissen. »Betrachte einen Feind nur dann als Feind, wenn
du dich rächen kannst; kannst du dies nicht, so ignoriere eine
Beleidigung und begegne dem Feinde freundlich.« Das ist der
XXX
Triumph der ideallosen und leidenschaftlosen Klugheit in der
Ethik.
CARDANOS soziale und politische Anschauungen sind von den
gleichen Gedanken beherrscht wie sein wissenschaftliches Streben
und sein persönliches ethisches Verhalten: von Einheit und Klug*
heit. Er war und blieb Katholik, nicht nur unter dem Drucke der
drohenden Inquisition, sondern als echter Italiener aus gesunden
sozialen und konservativen Instinkten. Er war in kirchlichen wie
in staatlichen Dingen Absolutist, weil er die von ihm geforderte
zusammenfassende Einheit, auf das politische Gebiet übertragen,
nur in der Monarchie strengster Ordnung möglich sah und weil er
fühlte, wie sehr die Religion imstande sei, diese politische Einheit
zu fördern und zu stärken. Unbedingte Aufrechterhaltung der
Autorität schien ihm erstes und letztes Ziel der Staatsklugheit im
kirchlichen und weltlichen Regiment; darum verurteilte er jede Be#
wegung, die auf ein noch so bescheidenes Maß von geistiger Selb*
ständigkeit der unteren Volksschichten hinzielte: Man solle dem
Volke verbieten, über religiöse Dinge zu denken und zu reden,
denn es entstünden nichts als Tumulte daraus. Von seinem abso*
lutistischen Standtpunkte aus wagte er es, eine Verteidigung neros
zu schreiben, bekämpfte mit einer gewissen Heftigkeit den großen,
selbständigen politischen Geist eines macchiavelli und spielte
gegen ihn eine neue Art von »bürgerlicher Klugheit« aus, deren
letzte Maximen Ordnung und Ruhe waren — ein erstes Zeichen,
daß an die Stelle des politischen Menschen der Renaissance der
Bourgeois des absolutistischen Barock getreten war.
CARDANOS wissenschaftliche und schriftstellerische Tätigkeit
zeugt von einer staunenswerten Universalität und Fruchtbar*
keit seines Geistes und von einem ans Übermenschliche grenzen*
den Fleiß. Seine Werke füllen in der großen SPONSchen Gesamt*
ausgäbe zehn Foliobände und bilden an äußerem Umfang etwa
das Hundertundfünfzigfache des vorliegenden Buches. Die Auf*
Zählung, die cardano selber im fünfundvierzigsten Kapitel seiner
Selbstbiographie gibt, ist nicht vollständig; die Gesamtzahl seiner
noch vorhandenen Werke, die, abgesehen von einigen kleineren
italienisch verfaßten Abhandlungen, alle in etwas schwerfälligem
XXXI
Latein geschrieben sind, beläuft sich auf rund 130. In lebhaftem
Wechsel sind darin alle die mannigfachen Gebiete vertreten, die
CARDANOS Interesse fesselten: Moralwissenschaft und Moralphilo*
Sophie, Lebenskunst und Politik, Gedächtniskunst, Orthographie,
Logik, Dialektik, Metaphysik und Mystik, Naturgeschichte und
Naturphilosophie, physikalische Experimente und Theorien, alle
Disziphnen der Mathematik, Geometrie und Algebra, theoretische
Untersuchungen über Probleme der Musik, des Schach und der
verschiedenen Glücksspiele, Astronomie und Astrologie und end*
lieh eine Reihe Kommentare zu klassischen Werken der Heilkunde
und selbständige Abhandlungen aus dem Gebiet der theoretischen
und praktischen Medizin. Alle diese Werke enthalten über die
einzelnen fachwissenschaftlichen Untersuchungen hinaus eine Un:ä
summe von Details, die nicht nur für cardanos Leben — hierfür
kommen außer der Selbstbiographie namentlich die verschiedenen
umfangreichen Schriften »de libris propriis« und weite Partien
seiner moralphilosophischen Abhandlungen in Betracht — son#
dem in ebenso starkem Maße für das ganze gesellschaftliche,
kulturelle, wissenschaftliche und moralische Sein und Wirken seiner
Zeit aufschlußreich sind. Als Ganzes betrachtet sind sie das umfas#
sendste Dokument für das Erstarken jenes neuen Geistes in Italien,
den man vom Gesichtspunkt der Religionspolitik oder der Kunst
ausgehend als Gegenreformation oder Barock bezeichnet hat. ~
Was CARDANO innerhalb der einzelnen Wissenschaften leistete,
ist durchaus nicht gleichwertig. Zwar ist überall sein Wissen
sicher, reich, umfassend und geordnet, aber seine methodische
Durcharbeitung ist nicht immer korrekt, noch auch abschließend.
Häufig ist er auch mehr geistreich und überraschend als tief, wie
denn überhaupt die Sucht, originell zu sein, ihn vielfach zu geist!=
reichen Pointierungen verführt hat, die der wissenschaftlichen
Klarheit nicht immer zuträglich sind. Aber trotz aller kritischen
Vorbehalte und Einwendungen, die der Fachmann im einzelnen
macht, steht doch das Gesamtresultat seines wissenschaftlichen
Lebenswerkes in staunenswerter Kraft und Fülle vor ups. Die
Liste seiner wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen,
die er selbst im vierundvierzigsten Kapitel seiner Selbstbiographie
gibt, läßt sich noch um bedeutende Posten erweitern.
XXXII
Er hat in der Mathematik die einzelnen Disziplinen methodisch
richtig gruppiert und zu einander in Beziehung gebracht, die AU
gebra in wesentHchen Punkten gefördert und die von tartaglia
gefundene, heute unter dem Namen der CARDANOSchen Formel
bekannte Auflösung der Gleichungen des dritten Grades erweis;
tert, begründet und erklärt. Er entdeckte die verschiedenen Funk*
tionen der positiven und negativen Wurzeln in den Gleichungen
der höheren Grade und den Zusammenhang der Vorzeichen einer
kubischen Gleichung mit den positiven und negativen Wurzeln
derselben und hat das Problem der Wahrscheinlichkeitsberechnun*
gen in bedeutendem Maße der Lösung näher gebracht. Er hat auch
in der Astronomie neben vielen bizarren und mystischen Ein*
fällen und trotz allen astrologischen Glaubens manchen korrekten
Fund getan und manchen klugen Gedanken geäußert; so hat er
als Erster einen Erklärungsversuch für das Funkeln der Sterne,
das er der Luftbewegung zuschrieb, gegeben. Auch auf techni*
schem Gebiete war er unablässig tätig, und man dankt ihm eine
Reihe wichtiger Erfindungen; er verbesserte die Mechanik der
öldochtlampe und erfand das sogenannte Universalgelenk (das
CARDANOsche Gelenk), die kreuzgelenkartige Kuppelung zum
Aufhängen des Schiffskompasses in Gleichgewichtslage. Er hat
ferner in der Naturwissenschaft, obwohl er hierin in der Haupt?
Sache Aristoteles und plinius reproduzierte und häufig genug zur
Unzeit sich in mystische Spekulationen verlor, das Wissen und
das Verständnis seiner Zeit in wichtigen Einzelheiten erweitert: er
machte als Erster den Versuch, das Gewicht der Luft zu bestim*
men, gab eine Theorie des Verbrennungsvorgangs, versuchte die
Herstellung eines Pyrophor aus getrocknetem Menschenblut, ent*
deckte die Elektrizität des Haares und die Gesetze der Luftspiege*
lung. Am weitesten und nachhaltigsten war die Wirkung seiner
Tätigkeit auf dem Gebiet der Medizin. Er hob sie endgültig aus
dem Dunkel der Geheimkunst, übte an Auswüchsen unnachsicht*
lieh Kritik und stellte der von den bedeutendsten Ärzten seiner
Zeit, wie theoprhrastus, fast ausschließlich geübten praktischen
Medizin mit Stolz und Bewußtsein die theoretische, Wissenschaft*
liehe Medizin, die Medizin des gebildeten und gelehrten Fach*
mannes zur Seite. Er hat die Herrschaft galens gebrochen, ohne
XXXIII
in die Fehler seiner radikalen Gegner zu verfallen; er bekämpfte
die GALENsche Lokalisation der Geisteskräfte und seine Theorie
von der Entstehung der Katarrhe im Gehirn; er bestritt die ab*
solute Gültigkeit des therapeutischen Grundsatzes »contraria con#
trariis«, beschäftigte sich mit dem Problem des Blutaustausches
und der Schalleitung durch den Kopfknochen, trat, obwohl er
selbst in diesem Fach wenig bewandert war, energisch für das
Studium der Anatomie ein, und begann, wenn auch nur tastend
und unklar, psychiatrische Probleme zu berühren.
Im ganzen wie im einzelnen sind cardanos wissenschaftliche und
spekulative Anschauungen nur mit Mühe zu rekonstruieren. Nir*
gends spricht er sich zusammenhängend, nirgends klar und unver^
hüllt aus. Das unaufhörliche Hin und Her seiner wissenschaftlichen
Betätigung, das ihn zwar universal und weitblickend gemacht hat,
hat ihm jede Sicherheit und Korrektheit in der Methode wie in der
wissenschaftlichen Terminologie geraubt, und die übertriebene
Sucht nach Originalität, die starke Betonung des empirischen Wis#
sens, sein Drang nach konkreter Erfahrung, die ausschließlich ob#
jektive Richtung seines Geistes, der stets nur die Wirklichkeit,
nicht die Wahrheit suchte, all dies stand der Bildung eines klären*
den Systems im Wege, cardano schreckte in seinen Wissenschaft*
liehen Arbeiten vor keiner inneren Inkonsequenz zurück; es gibt
keinen Gelehrten, der sich häufiger widersprechen könnte, als er.
Bald lehnt er Astrologie, Chiromantik, Alchimie und Magie ab
und nennt Vorzeichen, Ahnungen, Visionen und Gespenster Ge*
schöpfe der Einbildungskraft, bald verteidigt er dies alles wieder
und mengt diese Phantome kritiklos in die nüchternste wissen*
schaftliche Betrachtung natürlicher Vorgänge. Zwar suchte car*
DANO selbst eine systematische Zusammenfassung und hat, von
diesem Bedürfnis getrieben, der Dialektik einen zentralen Platz im
Ganzen seines wissenschaftlichen Forschens zu geben versucht.
Aber gerade seine Dialektik, ein Labyrinth von originalen, tradi*
tionellen, klugen und bizarren Gedankengängen, erschwert uns
das Verständnis seiner Weltanschauung. In Wirklichkeit kam er
über die aristotelische Dialektik nicht hinaus, er hat diese nur durch
Hereinziehen wesensfremder Elemente verdunkelt. Eines seiner
wenigen großen Verdienste auf diesem Gebiete ist die Forderung
XXXIV
einer strengen Scheidung von philosophischer und theologischer
Betrachtungsweise. Nicht weniger schwankend und Widerspruchs*
voll sind die Resultate seiner naturphilosophischen Spekulationen,
die in den Werken »de subtilitate« und »de rerum varietate« nieder^
gelegt sind. Es sind neuplatonische und neupythagoräische Ideen*
komplexe, bald mit selbständigen, tiefen und geistvollen Gedanken
durchsetzt, bald vom Dogmatismus der Kirche beeinflußt; sein Ver*
such, die Unsterblichkeit der Seele zu begründen und zu erklären,
führte ihn zu einem averrhoistisch gefärbten Begriff der Seele, der
mit seinen erkenntnistheoretischen wie mit seinen naturphilosophi*
sehen Ideen nicht restlos zu verschmelzen war. Und was cardano
selbst das Wichtigste in seinen Spekulationen schien, die große,
kraftvolle Zusammenfassung des Naturganzen zur logischen Ein*
heit, von den Elementen der Natur bis herauf zu den höchsten
Äußerungen des Geistes, von den triebhaften, geschlechtlichen
Funktionen bis zur vollendeten Form geordneten staatlichen Le*
bens, das trug so durchaus persönlichen Charakter und verfehlte
in seiner objektiven Ruhe und seiner ausgeprägt synthetischen
Tendenz, die ein Anachronismus waren, so völlig die geistigen
Forderungen seiner Zeit, daß sein Lebenswerk ohne jede Wirkung
bheb.
GiORDANO BRUNO, der genialer, leidenschaftlicher, schwärmerischer
und verrannter war als cardano, aber nicht den zehnten Teil von
dessen Wissen und dessen menschlicher Klugheit besaß, hat dem
geistigen Leben dieser Zeit den Stempel seiner Persönlichkeit auf*
zudrücken vermocht, — »cardanos Ideen verschwanden spurlos
im Getöse der Zeit« (m. neuburger). Losgelöst von jeder leben*
digen Wirkung, mumienhaft erstarrt, ist die ungeheure Masse von
cardanos Lebenswerk nur mehr das stille Monument eines er*
loschenen Riesengeistes.
CARDANOS Selbstbiographie, die er im letzten Jahre seines Le*
bens aus persönlichen Erinnerungen und alten Aufzeich*
nungen zusammenstellte, ist rein literarisch betrachtet ein unvoll*
kommenes und unvollständiges Werk. Offensichtlich kam der Au*
tor trotz des scheinbar schließenden Nachworts nicht mehr dazu,
dem Werk die letzte Form und Feile zu geben. Viele Partien machen
XXXV
einen durchaus konzeptmäßigen und fragmentarischen Eindruck;
vieles wiederhoh sich zur Unzeit; verschiedene Gedankengruppen
sind reinäußerhch ineinandergeschoben ; Notizen sind aneinander*
gereiht, die sachhch nichts miteinander zu tun haben; häufig wird
der Fluß der Erzählung oder die logische Abhandlung des Gegen*
Standes willkürlich durch Zwischenbemerkungen unterbrochen
und der abgerissene Faden nicht immer wieder aufgenommen. Dies
alles erschwert die ruhige Lektüre des Buches, gibt aber ein treues
und lebendiges Bild von cardanos sprunghaftem, heftigem, flatter*
haftem und schwankendem Denken und Schreiben. Die ruhige,
kalte Art, womit das einzelne vorgebracht ist, verschwindet fast
in dem leidenschaftlichen Wirbel des Ganzen.
Die vorliegende Übersetzung will und kann nicht mehr sein als
ein bloßer Versuch. Die Schwierigkeiten, die seiner Durchführung
im Wege standen, waren vielfach unüberwindlich. Schon cardanos
schwankende Terminologie und seine oft sehr knappe, dunkle und
verworrene Diktion lassen eine Unsumme von Mißverständlich*
keiten und Zweideutigkeiten zu. Dabei ist nun auch der textliche
Bestand von einer höchst trostlosen Mangelhaftigkeit und Un*
brauchbarkeit, die nur durch die zufällige Auffindung einer alte*
ren Handschrift behoben werden könnte. Es handelt sich nur um
einen einzigenText,die von dem französischen Bibliophilen Gabriel
NAUDE auf Grund eines Manuskripts besorgte Ausgabe (Paris, bei
JACQUES villery, 1643); alle weiteren Editionen des Werkes, wie
etwa die Amsterdamer vom Jahre 1654 oder die im I. Band der
großen SpoNschen Gesamtausgabe von cardanos Werken (Lyon
1663), sind nur verschlechterte Nachdrucke der NAUOESchen. Der
Text wimmelt von sachlichen und sprachlichen Mißverständnissen,
von sinnstörenden Lese* und Druckfehlern und von falschen Inter*
Punktionen. Die Übersetzung versuchte mit größtmöglichster me*
thodischer Korrektheit aus dem Wust und Wirrwarr des Textes
ein klares Bild herauszuschälen. Dies ist durchaus nicht immer ge*
lungen. Stellen, die unklar blieben, oder wo dem Übersetzer die
notwendig gewordene Kombination allzu kühn erschien, sind
durch ein in eckigen Klammern beigegebenes Fragezeichen kennt*
lieh gemacht.
Die große von dem Mediziner Charles spon besorgte Gesamt*
XXXVI
ausgäbe von cardanos Werken (Lyon 1663 ff.) weist zwar die
gleichen textlichen Mängel auf wie naudes Ausgabe der Selbst:*
biographie, ist aber immerhin ein höchst verdienstvolles Werk
von bleibendem Werte. In zehn umfangreichen Foliobänden ist
CARDANOS Lebenswerk aufgestapelt. Vier Bände sind den medi#
zinischen, je einer den naturwissenschaftlichen, den mathemati*
sehen und den astronomisch^astrologischen, drei den moralwissen*
schaftlichen und politischen, den philosophischen, philologischen
und logischen Schriften und den kleineren Werken verschiedenen
Inhalts gewidmet. Register, die freilich nichts weniger als voll*
ständig sind, erleichtern den Gebrauch der Ausgabe.
Die Literatur über cardano ist dürftig und zersplittert. Die alte*
ren kleineren Aufsätze von naude, tiraboschi, argellati u. a. sind
von geringem Werte. Die späteren, ausführlicheren Werke von
TH. A. rixner und TH. siBER (Leben und Lehrmeinungen berühmter
Physiker am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts.
II. Heft: HIERON YMUS CARDANUS. Sulzbach 1820), von j. crossley
(The life and times of cardan. London 1836) und henry mor*
LEY (The life of girolamo cardano of Milan, Physician. In two
volumes. London 1854) sind gute, wenn auch nicht fehlerfreie Zu*
sammenstellungen, werden aber der Art und Bedeutung cardanos
nicht gerecht. Die Studie von fr. butrini (Savona 1884) war mir
nicht zugänglich. Manches Einzelne über cardano steht in den
zahlreichen Werken über die Geschichte der Medizin, der Philo*
sophie,derNaturwissenschaftenundderMathematik. Eine ziemlich
erschöpfende Bibliographie endlich gibt victorien sardou als
Anhang seines Artikels über cardano im S.Band der »Nouvelle
biographie generale« (Paris 1855).
Für manche wertvolle Unterstützung und Anregung ist der Über*
Setzer Fräulein marie herzfeld inWien aufrichtigen Dank schuldig.
m Cardano XXXVII
Nach einem im I. Bande der großen Sponschen Gesamt*
ausgäbe von Cardanos Werken (Lyon 1663) wieder*
gegebenen Stich unbekannter Herkunft
DES
GIROLAMO CARDANO
VON MAILAND/BÜRGERS
VON BOLOGNA /EIGENE
LEBENSBESCHREIBUNG
VORREDE
Da es uns scheinen will, als sei von all den Dingen, die der
Mensch erstreben darf, das angenehmste und das schönste
die Erkenntnis der Wahrheit, und da wiederum nichts, was Sterb*
liehe unternehmen, vollkommen, um wie viel weniger vor Verleum*
düng sicher sein kann, so machen wir uns denn daran, über unser
eigenes Leben ein Buch zu schreiben nach dem Vorbild eines über*
aus weisen und für vortrefflich erachteten Mannes, des Philosophen
[marc aurel] antonin. Wir erklären, daß wir dabei der Wahrheit
nichts hinzudichten, etwa um zu prahlen oder die Sache auszu*
schmücken. Wir haben, wie es eben ging, die Darstellung von Be?
gebenheiten, die meine Schüler, vor allem ercole visconti, paolo
EUFOMiA, RODOLFO siLVESTRE, miterlebten, mit solchen Teilen, die
ich selbst früher schon niedergeschrieben, zu einem Buch zusam*
men verarbeitet. Dies hatte schon vor einigen Jahren einer meiner
Verwandten und Schüler versucht, gaspare cardano, Arzt von
Beruf. Aber der Tod ereilte ihn, und so konnte er die Arbeit nicht
vollenden.
Was ich hier unternehme, das ist jedem Privatmann, einem Juden
selbst, zu tun erlaubt, ohne daß er irgend welchen Tadel fände. Und
wenn mir auch keine gar so großen Dinge zugestoßen sind, so
doch gewiß manche, die Bewunderung verdienen. Auch wissen
wir wohl, daß galen den gleichen Versuch unternommen hat : er
tat dies, indem er in seine andern Schriften, weil es ihm so schick*
lieber schien, gelegentlich einzelne Notizen einfließen ließ. Der
Lässigkeit der Gelehrten haben wir es zu danken, daß noch kein
Wissenschaftler von Bedeutung versucht hat, diese Notizen ge*
ordnet zusammenzustellen.
Dies Buch hier ist geschrieben ohne jede Schminke und will nie*
manden belehren ; es begnügt sich mit der Erzählung bloßer Tat*
Sachen und schildert ein Menschenleben, keine großen Staats*
aktionen. So haben auch lucius sulla, gaius caesar und augu=
STUS, wie erwiesen ist, ihr Leben und ihr Tun beschrieben, so daß
also diese Sache durchaus nach dem Vorgang der Alten unter*
nommen, nicht neu oder von uns erdacht ist.
1 Cariijno
Erstes Kapitel
HEIMAT UND FAMILIE
Meine Heimat ist Mailand; das Städtchen, aus dem die Fami*
lie stammt, Cardano, 24000 Schritte von Mailand, 7000 von
Gallarate entfernt. Mein Vater hieß fazio und war Advokat; der
Großvater hieß Antonio, der Urgroßvater wieder fazio, dessen
Vater aldo. Die Söhne des älteren fazio waren giovanni, ein weite*
rer aldo und mein Großvater Antonio. Antonio hatte drei Söhne :
es waren dies gotardo, paolo, ein Advokat und Gemeindevor*
Steher, und mein Vater fazio; dazu hatte er noch einen unehelichen
Sohn, der mit Vornamen wieder paolo hieß. Heute leben noch von
dieser ganzen Linie ungefähr dreißig Verwandte.
Strittig ist, ob die Familie der cardani eigenen Ursprungs oder,
wie einige glauben, ein Zweig des Hauses castiglione ist; jeden*
falls ist sie alt und vornehm. Denn ein milo cardano stand schon
im Jahre 1189 an der Spitze unserer Stadt [Mailand], in weltlichen
wie geistlichen Angelegenheiten, 92 Monate lang. Und zwar er*
streckte sich seine Jurisdiktion nicht nur auf Fälle des bürgerlichen,
sondern gleich der eines Fürsten auch auf solche des Strafrechts.
Auch umspannte sein Herrschaftsbezirk noch andere Städte, die
damals unter mailändischer Oberhoheit standen, die ganze Um*
gebung Mailands, darunter auch Como. Diese Gewalt hatte dem
milo der Erzbischof crivelli übertragen, als er Papst urban iii.
[1 185— 1 187] geworden war. Einige wollen, auch francesco gar*
dano, der General des matteo visconti [gestorben 1322], habe
unserer Familie angehört. Stammen wir vollends tatsächlich vom
Hause castiglione ab, so sind wir noch viel vornehmer, da ja auch
ein Papst, nämlich coelestin iv. [1241], aus dieser Famihe hervor*
gegangen ist.
Unsere Ahnen erreichten alle ein hohes Alter. Des älteren fazio
Söhne wurden 94, 88 und 86 Jahre alt. giovanni hatte zwei Söhne :
ANTONIO, der 88, und ANGELO,der96Jahre alt wurde.Diesenhabeich
in meiner J ugend selbst noch gekannt, wie er ganz hinfällig war, aldo
hatte einen einzigen Sohn, giacomo, der mit 72Jahren starb. Mein
Oheim gotardo, den ich selbst noch gesehen habe, wurde 84, mein
VaterSO Jahre alt. Der genannte angelo hatals ein nahezu Achtzig*
jährigernochSöhne gezeugt, die freilich einenganzaltersschwachen
Eindruck machten (einer von ihnen lebt gleichwohl noch heute,
70 Jahre alt), und hat sogar nach seinem 80. Jahre das verlorene
Augenlicht wieder gewonnen. Wie ich höre, und einige von ihnen
habe ich ja selbst gesehen, waren meine Ahnen von ziemlich schlan*
kern Wuchs.
Mütterlicherseits gehöre ich zur Familie micheria; meine Mutter
war eine chiara micheria, und mein Großvater hieß giacomo und
erreichte ein Alter von 75 Jahren. Dessen Bruder angelo war, als
ich noch ein ganz kleiner Knabe war, 85 Jahre alt, wie ich von ihm
selbst gehört habe. Mein Vater hatte mit meinem Oheim väterlicher^
seits und mit meinem mütterlichen Großvater die Gelehrsamkeit
und eine ganz außergewöhnliche geistige Frische, mit meinem müt*
terlichen Großvater außerdem das hohe Alter und die Kenntnis
in der Mathematik gemein. Dieser selbe Großvater mütterlicher;;
seits wurde, wie ich, eingekerkert, fast im gleichen Alter; beide
waren wir, als dies Schicksal uns traf, 70 Jahre alt.
Es gab noch fünf andere Linien des Hauses cardano, die alle von
dem älteren aldo, unserem Ahnherrn, abstammen: die des anto?
NiOLO vom Jahre 1388, die des gasparino vom Jahre 1409, die des
RAiNERio vom Jahre 1391 und endlich die älteste, die des enrico
vom Jahre 1300, dessen Nachkommen berto und giovanni faci#
OLi fast im gleichen Alter [mit girolamo cardano?] stehen. Dazu
kommt noch die Linie des guglielmo. Unsicher ist, wann dieser
lebte; doch hatte er drei Söhne: zolo, martino und giovanni,
welch letzterer zu Gallarate wohnte.
Zweites Kapitel
MEINE GEBURT
Nachdem, wie man mir erzählt, vergebens Abtreibungsmittel
angewandt worden waren, kam ich zur Welt im Jahre 1500
[1501], am 24. September, als die erste Stunde der Nacht noch
nicht vollendet, nur wenig mehr als zur Hälfte, aber noch nicht
zu zwei Dritteln verflossen war. Die wichtigste Stellung der Figu?
ren des horoskopischen Aspektes war so, wie ich sie im 8. Kapitel
1* 3
des als Anhang zu meinem Kommentar der vier astronomischen
Bücher des ptolemaeus gegebenen Buches der 12 Nativitäten mit*
geteilt habe. Ich habe festgestellt, daß damals die beiden großen
Sterne [Sonne und Mond] unter bestimmten Winkeln niederstieß
gen und daß keiner von ihnen den Ort des Horoskopes beschaute,
da sie sich an der 6. und an der 1 2. Stelle befanden. Es konnte auch,
mit dem gleichen Resultat, einer von ihnen an der 8. Stelle stehen;
er wäre dann im Sinken begriffen gewesen, ohne daß ein Winkel
gegeben war, so daß man hätte sagen können: er steigt nieder
außerhalb des Winkels. Und standen auch sonst keine Unglück?
verheißenden Sterne innerhalb dieser Winkel, so schadete doch der
Mars den beiden großen Sternen wegen der Ungunst ihrer Stel*
lung, und da er vollends mit dem Mond im Geviertschein stand,
so konnte ich sehr wohl mißgestaltet zur Welt kommen. Des wei:=
teren aber, weil der Ort der vorhergehenden Konjunktion unter
dem 29. Grad der Jungfrau lag, die den Merkur beherrscht, und
da weder der Merkur, noch der Ort des Mondes, noch der meines
Horoskopes zusammenfielen und keiner von ihnen den vorletzten
Grad der Jungfrau beschaute, so mußte ich mißgestaltet zur Welt
kommen. Tatsächlich hätte es auch leicht geschehen können, daß
ich zerstückt aus dem Leibe meiner Mutter kam; nur wenig hat
gefehlt. So ward ich denn geboren, oder vielmehr aus der Mutter
herausgezogen, fast wie tot, mit schwarzem, krausem Haar. In
einem Bad heißen Weines, das einem anderen hätte gefährlich
werden können, kam ich zu Kräften. Drei volle Tage war meine
Mutter in schweren Geburtswehen gelegen. Schließlich kam ich
doch lebend davon.
Um aber wieder auf mein Horoskop zurückzukommen: da die
Sonne und die beiden verderbenbringenden Sterne, auch die Venus
und der Merkur, gerade in männlichen Zeichen des Tierkreises
standen, behielt mein Leib normale menschliche Gestalt. Und weil
der Jupiter am Ort des Horoskopes stand und die Venus Herrin
der ganzen Konstellation war, so ward ich nirgends verletzt als
an den Geschlechtsteilen, so daß ich von meinem 21. bis zum
31. Lebensjahre nicht mit Weibern verkehren konnte und oft
darob mein trauriges Schicksal beklagt, jeden anderen um sein
glücklicheres Geschick beneidet habe. Und obwohl, wie ich schon
sagte, dieVenus die ganze Konstellation beherrschte, und der Jupiter
in der Linie meines Horoskopes stand, ward mir doch ein wenig
günstiges Los zuteil: ich bekam eine etwas schwere, stammelnde
Zunge und dazu eine geistige Neigung, die, wie ptolemaeus
sagt, zwischen einem kühl besonnenen Wesen und einer harpo*
kratischen Natur, nämlich einer unwiderstehlichen, unbewußten
Sehergabe, die Mitte hielt. In dieser Art des Vorauswissens —
Ahnung nennt man sie mit einem passenderen Wort — habe ich
mitunter ganz deutliche und offensichtliche Erfolge gehabt, ebenso
auch in anderen Arten des Weissagens. Und weil die Venus und
der Merkur unter den Strahlen der Sonne standen und dieser ihre
ganze Kraft liehen, so hätte auch diese gute Konstellation für mich
von günstigen Folgen sein können — trotz meiner, um mit pto*
LEMAEUS zu reden, ganz jämmerlichen und unglücklichen Geburt
— wenn eben nicht die Sonne selbst in ungünstiger Lage gewesen
wäre, da sie von ihrer Höhe niedersteigend an der unglückver*
heißenden 6. Stelle sich befand. Es blieb mir also nur eine ge#
wisse Verschmitztheit, aber eine sehr wenig freie Gesinnung, lauter
harte, schroffe Grundsätze. Alles in allem kurz gesagt: es fehlen
mir körperliche Kräfte, ich habe nur wenig Freunde, ein kleines
Vermögen, dagegen immer mehr Feinde, deren größten Teil ich
weder dem Namen nach, noch von Angesicht kenne; es fehlt mir
die rein menschliche Weisheit, ich habe auch kein gutes G edächtnis,
dafür aber ein etwas größeres Maß von guter Voraussicht. So weiß
ich wirklich nicht, was meine Verhältnisse, die in bezug auf Fas
milie und Ahnen geringschätzig bewertet werden, meinen Neidern
so herrlich und beneidenswert erscheinen läßt.
Am gleichen Tage wie ich ist einst augustus zur Welt gekommen.
Im ganzen römischen Reiche fängt an diesem Tag eine neue Zins*
zahl an. Und am nämlichen Tage haben der hocherlauchte König
FERDINAND [der Katholische] von Spanien und seine Gemahlin
ELISABETH [isabella] die erstc Flotte ausgesandt, die ihnen den
ganzen Westen erobern sollte.
Drittes Kapitel
EINIGES ALLGEMEINE AUS DEM LEBEN MEINER
ELTERN
Mein Vater kleidete sich in Purpur, nach alter städtischer Sitte,
wozu er aber immer ein schwarzes Käppchen trug. Er stot*
terte beim Reden, betrieb als Dilettant mancherlei Studien, war
rot, hatte weißgraue Augen, die nachtsichtig waren, und brauchte
bis an sein Lebensende nie Augengläser. Beständig führte er das
Wort im Munde: »Aller Geist lobe den Herrn, denn er ist die
Quelle aller Tüchtigkeit.« Als er noch jung war, hatte er durch
eine Verwundung am Kopf mehrere Knochen verloren, so daß er
nie lange ohne Kopfbedeckung sein konnte. Von seinem 55. Le#
bensjahre an hatte er gar keine Zähne mehr. Er gab sich alle Mühe,
die Werke des euklid zu studieren, und hatte eingebogene Schul*
tern. Mein ältester Sohn ähnelte ihm sehr, im Gesicht, an den
Augen, im Gang und an den Schultern; nur im Sprechen war er,
vielleicht der jüngeren Jahre wegen, etwas gewandter. Mein Vater
verkehrte nur mit einem einzigen Freund und Vertrauten, der
freilich einen ganz anderen Beruf als er selber hatte ; er hieß gas
LEAzzo, mit dem Familiennamen rossi, und ist vor ihm gestorben.
Dann verkehrte mein Vater freundschaftlich mit dem Senator
GiANANGELO SALVATico, der einst sein Schüler und Hausgenosse
gewesen war. Die Ähnlichkeit des Charakters und der Interessen
hatte einen Schmied [galeazzo rossi] zum Freund meines Vaters
gemacht. Dieser rossi war es, der die Schraube des archimedes
erfunden hat, ehe noch die Werke des archimedes veröffentlicht
waren. Auch verfertigte er Säbel, die sich wie Blei biegen ließen
und Eisen fast wie Holz spalteten, und — was eine noch viel beü
deutendere Leistung war — eiserne Panzer, die den Kugeln der
Schußwaffen von Infanteriesoldaten Widerstand leisteten. Ich
selbst habe, freilich als ganz kleiner Bube, diesem Experiment oft
zugeschaut. Eine einzige Panzerplatte genügte, einem fünffachen
Schuß standzuhalten, und zeigte daraufhin kaum eine kleine
Schramme.
Meine Mutter war jähzornig, von gutem Gedächtnis und klarem
Verstand, klein von Gestalt, fett, fromm.
6
Jähzornig waren beide Eltern gleichermaßen und wenig konsequent
und beständig in der Liebe zu ihrem Kinde; dabei wieder nach*
sichtig, so daß mein Vater zum Beispiel duldete, ja befahl, daß ich
nie vor vollendeter zweiter Tagesstunde [9 Uhr] vom Bette auf*
stand, was mir für mein ganzes Leben und mein gesundheitliches
Wohlbefinden von großem Nutzen war. Es scheint auch — wenn
es erlaubt ist zu sagen — mein Vater besser und liebevoller ge*
wesen zu sein als meine Mutter.
Viertes Kapitel
KURZE SCHILDERUNG MEINES GANZEN LEBENS
VON DER GEBURT BIS AUF DEN HEUTIGEN TAG,
DEN LETZTEN OKTOBER DES JAHRES 1575
Eine solche Zusammenfassung hätte auch sueton, wenn er über*
haupt sein Augenmerk daraufgerichtet hätte, der Bequemlich*
keit seiner Leser zuliebe [seinen Biographien] beigeben können,
denn, wie die Philosophen sagen : nichts ist etwas, wenn es nicht
in sich ein Ganzes ist. —
Ich bin also geboren zu Pavia. Im ersten Monat meines Lebens
verlor ich meine Amme, die, wie man mir erzählt hat, am gleichen
Tage, da sie erkrankte, an der Pest starb. Man gab mich meiner
Mutter zurück. Damals bekam ich im Gesicht fünf Karbunkeln, so
in Form eines Kreuzes gestellt, daß mir einer auf der Nasenspitze
saß; genau an denselben Stellen sind nach drei Jahren ebensoviel
Geschwüre — man nennt sie auch Pocken — von neuem ausges
brochen. Der zweite Monat meines Lebens war noch nicht ver*
flössen, da zog isidoro de'resti, ein Adliger aus Pavia, mich nackt
aus einem Bad von heißem Essig und gab mich einer Amme. Die
brachte mich nach Moirago, einem Landhaus, 7000 Schritte von
Mailand entfernt, an der Straße, die von dieser Stadt über die
Ortschaft Binasco nach Pavia führt. Dort begann eines Tages mein
Bauch hart zu werden und aufzuschwellen, und mein ganzer Kör*
per siechte dahin; man suchte nach den Ursachen und fand, daß
meine Amme schwanger war. Darauf übergab man mich einer bes*
seren Amme, die mich im dritten Lebensjahr entwöhnte. Im vierten
brachte man mich nach Mailand, und meine Mutter und ihre
Schwester margarita, meine Tante — eine Frau, der, wie ich glaube,
jede Galle gefehlt hat, — behandelten mich mild und freundlich;
nur wurde ich oft von Vater und Mutter ohne jeden Grund so
sehr geprügelt, daß ich häufig bis auf den Tod erkrankte. Als ich
dann endlich 7 Jahre alt geworden war — Vater und Mutter wohn*
ten damals getrennt — und wo ich in das Alter kam, da ich Prügel
hätte verdienen können, beschlossen sie, mich künftighin nicht
mehr zu schlagen. Aber mein böser Stern verließ mich nicht; er
änderte nur meine traurige Lage, hob sie nicht auf. Mein Vater
vereinigte den Hausstand wieder und nahm mich, Mutter und
Tante zu sich in sein Haus. Dort mußte ich nun meinem Vater
Dienste tun, so zart und jung wie ich damals war, und sah mich
aus der vollkommenen Ruhe kindlichen Daseins plötzlich in den
Zustand strengster und andauernder Arbeit versetzt. Da fiel ich
zu Beginn meines 8. Lebensjahres in Krankheit; ich litt an Ruhr
und Fieber. Es war dies eine damals in Mailand grassierende Epi*
demie, wenn nicht eine Art von Pest, und ich hatte zudem heimlich
eine große Menge unreifer Trauben gegessen. Man zog zwei Arzte
bei, den bernabone della croce und den angelo gira, doch
mein Zustand ließ erst wieder Besserung erhoffen, als schon
Vater, Mutter und Tante mich als tot bejammert hatten. Mein
Vater hatte für meine Gesundheit dem heiligen hieronymus ein
Gelübde getan; er war ein Mann, der ein frommes Herz hatte, und
wollte darum lieber des Heiligen wundertätige Kraft erproben als
die eines gewissen bösen Geistes, mit dem er, wie er versicherte,
in vertrautem Verkehr stand — eine dunkle Sache, der ich stets
versäumt habe auf den Grund zu gehen. So bin ich denn wieder
gesund geworden, gerade damals, als die Franzosen nach ihrem
Sieg über die Venezianer bei Adda [14. Mai 1509] einen Triumph*
zug durch die Stadt hielten, dem ich vom Fenster aus zuschauen
durfte.
Nach dieser Krankheit hat auch die ewige Mühe und Plackerei
im Dienst meines Vaters für einige Zeit aufgehört. Aber der
Juno Zorn war noch nicht gesättigt: ich hatte mich noch nicht
völlig von der Krankheit erholt, als ich — wir wohnten damals in
der Via Dei Maini — die Treppe herabfiel, einen Hammer in der
8
Hand, der mich an der linken Stirnseite ganz oben traf. Ich erUtt
eine schwere Verletzung, auch der Knochen war getroffen, so daß
eine dauernde, heute noch sichtbare Narbe blieb. Die Wunde war
kaum geheilt, ich saß einesTages vor der Haustüre, da fiel vom Dache
des sehr hohen Nachbarhauses ein Ziegelstein, in der Länge und
Breite wie eine Nuß, aber dünn wie ein Stückchen Rinde, und
verwundete mich links oben am Kopf, wo reichlich Haare stan*
den. Zu Beginn meines zehnten Lebensjahres wechselte mein
Vater die Wohnung; er verließ das Haus, das ihm [der Unglücks«
fälle wegen] unheimlich wurde, und bezog ein anderes in der
gleichen Straße, wo ich nun volle drei Jahre lang lebte. Mein
Schicksal aber änderte sich nicht: wieder führte mein Vater mich
wie einen Sklaven mit sich, in so auffallender Strenge, um nicht
zu sagen Grausamkeit, daß ich — nach den Erfahrungen, die ich
später gemacht habe — glauben möchte, es sei dies eher des Him#
mels Wille als des Vaters Schuld gewesen, um so mehr, als auch
Mutter und Tante mit dieser Behandlung einverstanden waren.
Immerhin verfuhr er nun mit mir viel milder als früher, denn in*
zwischen hatte er zwei Neffen, einen nach dem andern, zu sich
ins Haus genommen, und da diese zu den gleichen Diensten an*
gehalten wurden, ward meine Knechtschaft erleichtert oder war
doch weniger schwer zu tragen, denn entweder mußte ich jetzt
den Vater gar nicht mehr oder doch nur gemeinsam mit den
Neffen begleiten.
Mehrmals wechselten wir die Wohnung, ich immer in des Vaters
Begleitung, bis wir schließlich, da ich das 16. Lebensjahr voll*
endet, in das Haus des alessandro cardano zogen, bei der Mühle
der Bossi.
Mein Vater hatte zwei Neffen, Söhne seiner Schwester : einer, evan:;
GELiSTA, trat in den Orden des heiligen Franziskus und wurde fast
70 Jahre alt, der andere, oddone cantone, war Steuereinnehmer,
ein reicher Mann. Der wollte vor seinem Tode mich zum einzigen
Erben seines ganzen Vermögens einsetzen; aber der Vater duldete
dies nicht, er sagte, das Geld sei unrecht erworbenes Gut. So wurde
sein Vermögen nach Gutdünken seines Bruders, der damals noch
lebte, verteilt.
Neunzehn Jahre alt geworden bezog ich zusammen mit giovanni
AMBROGio TARGio die Universität zu Pavia und blieb dort, dieses
Mal ohne meinen Kameraden, auch ein zweites Jahr. Als ich das
2 1 .Lebensjahr zurückgelegt, begab ich mich, wiederum mit targio,
ein drittes Mal nach Pavia, hielt nun meine öffentliche Disputation
und las im Gymnasium über denEUKLiD und schon nach wenigen
Tagen auch über Dialektik und die Anfangsgründe der Philosophie,
zuerst für den Servitenbruder romolo und kurze Zeit darauf
für einen gewissen Arzt namens pandolfo. Nach vollendetem
22. Lebensjahre blieb ich für einige Zeit zu Hause, in Mailand,
der Kriegswirren [zwischen Kaiser karl v. und franz i. von
Frankreich] wegen, unter denen unsere Gegend damals schwer
zu leiden hatte. Zu Beginn des Jahres 1524 begab ich mich nach
Padua; gegen Ende des Jahres, das heißt im Monat August, führte
mich, in Begleitung des gianangelo corio, irgend ein Zufall
wieder nach Mailand zurück. Ich fand meinen Vater todkrank in
den letzten Zügen. Doch er kümmerte sich mehr um mein als um
sein eigenes Wohlergehen und verlangte, daß ich nach Padua zu*
rückkehre; glücklich war er, hören zu dürfen, daß ich das sogeü
nannte Baccalaureat der freien Künste zu Venedig erworben. Ich
reiste also wieder nach Padua und erhielt bald nach meiner An#
kunft die briefliche Nachricht, mein Vater sei gestorben, acht
Tage, nachdem er sich jeder Speise enthalten habe. Gestorben ist
er am 28. August, und zu fasten fing er an am 20., einem Samstag.
Gegen Ende meines 24. Lebensjahres wurde ich Rektor der Uni#
versität zu Padua, ein Jahr später Doktor der Medizin. Bei der
Wahl als Rektor drang ich nach zweimal wiederholter Abstims
mung mit einer Stimme Mehrheit durch. Bei der Promotion zum
Doktorat war ich zuerst zweimal durchgefallen, da 47 Stimmen
gegen mich abgegeben wurden, und erst bei der dritten Abstim?
mung, über die hinaus keine weitere mehr zulässig war, blieb ich
Sieger : nurmehr 9 Stimmen wurden gegen mich abgegeben; eben*
soviele hatten bei den ersten Abstimmungen, gegenüber 47 ab*
lehnenden Stimmen, für mich gestimmt. Ich weiß wohl, ciaß dies
alles Kleinigkeiten sind, aber ich berichte sie genau, wie sie statt?
gefunden haben, weil ich meinen Spaß daran haben will, wenn
ich es wieder lese (für mich allein nämlich, nicht für andere, mache
ich diese Aufzeichnungen), weil ferner jeder, der vielleicht doch
10
einmal dies zu lesen geruht, wissen möge, daß großer Dinge
Anfang wie ihr Ausgang oft trüb und dunkel ist, und endlich,
weil manchem andern schon ähnliches begegnet ist, ohne daß er
Gewicht darauf gelegt hat.
Nachdem nun also mein Vater gestorben und meine Amtszeit
als Rektor abgelaufen war, begab ich mich, zu Beginn meines
26. Lebensjahres, nach dem Städtchen Sacco, das 10000 Schritt
von Padua, 25 000 von Venedig entfernt liegt, ermuntert und
unterstützt durch einen Arzt in Padua, francesco buonafede.
Dieser Mann, dem ich nie irgend welchen Dienst getan — nicht
einmal sein Hörer bin ich gewesen, obwohl er zu Padua öffentlich
las — war mir in höchst uneigennützigem freundschaftlichem Eifer
zugetan. Ich blieb nun zunächst in Sacco, indes mein Vaterland
durch alle Art von Übel heimgesucht wurde: im Jahre 1524 wü#
tete zu Mailand eine fürchterliche Pest, zweimal wechselte die
Stadt den Landesherrn [sie ging damals aus der Herrschaft Frank*
reichs in die Kaiser karls v. über], und in den Jahren 1526 und
1527 litt sie unter einer vernichtenden Hungersnot; die Preise für die
amtlichen Getreidescheine waren kaum zu erschwingen. Dazu ka«
men unerträglich drückende Abgaben. Im Jahre 1528 wüteten wie*
der Pest und andere Seuchen — Übel, die vielleicht nur aus einem
einzigen Grunde ein weniges leichter zu ertragen waren, weil sie
nämlich das ganze Land verheerten.
Im Jahre 1529, da die Kriegswirren ein wenig nachließen, sie*
delte ich wieder nach meiner Vaterstadt über. Ich wollte in das
Kollegium der Arzte aufgenommen werden, wurde aber abge#
gewiesen. Bei den [mit cardano verfeindeten, in Mailand damals
sehr einflußreichen Grafen] barbiani war nichts für mich zu er*
reichen, und da zudem meine Mutter launisch und griesgrämig
war, kehrte ich wieder in mein Landstädtchen [Sacco] zurück,
nicht so gesund freilich, als ich es verlassen hatte. Die Aufregungen,
Mühen, Sorgen und Arbeiten, dazu Husten und eiternde Ge#
schwüre, ein übelriechender Auswurf infolge verdorbenen Magens
hatten mich auf einen Zustand gebracht, von wo aus sonst nie*
mand mehr gesund zu werden pflegt. Doch ein Gelübde, das ich
der Allerseligsten Jungfrau gemacht, rettete mich aus dieser Krank*
heit, und unmittelbar darauf, gegen Ende meines 31. Lebensjahres,
11
vermählte ich mich mit lucia bandarini aus dem Städtchen
Sacco.
— Vier Beobachtungen habe ich im Laufe meines Lebens gemacht:
einmal, daß alle meine Unternehmungen, ohne daß ich es beab*
sichtigte, immer vor dem Vollmond zum Abschluß kamen; zwei*
tens, daß ich immer dann frohe Hoffnung schöpfen durfte, wenn
andere sie zu verlieren pflegen; weiter, daß sich mir das Glück,
wie ich schon gesagt, tatsächlich immer im letzten Augenblick
zum besten wandte ; und endlich, daß ich bis zu meinem 60. Le#
bensjahre fast alle meine Reisen im Monat Februar angetreten
habe. —
Meine Frau gebar mir nach zwei Fehlgeburten zwei Söhne und
zwischenhinein eine Tochter. Im Jahre nach meiner Vermählung
begab ich mich gegen Ende April nach Gallarate, blieb dort neun::
zehn Monate und erholte mich in dieser Zeit völlig. Und damals
hörte ich auch auf, arm zu sein, denn es war mir allmählich gar
nichts mehr geblieben. Doch jetzt ermöglichte es mir das liebe*
volle Entgegenkommen der Vorsteher des großen Xenodochiums
[des Armen* und Krankenhauses] und vor allem die Unterstützung
des erlauchten [späteren Erzbischofs von Mailand] filippo ar*
CHiNTi, damals berühmt als Redner, nach Mailand zu ziehen und
dort öffentlich Mathematik zu lehren, nunmehr im Alter von
mehr als 33 Jahren. Zwei Jahre darauf bot sich mir die Gelegen*
heit, zu Pavia öffentlich Medizin zu dozieren; ich nahm nicht an,
weil ich keinerleiAussichthatte,dort auch nur den nötigsten Lebens*
unterhalt zu finden. Im nämlichen Jahre, 1536, reiste ich nach Pia*
cenza; ein Brief des Bischofs archinti — er war damals übrigens
nochnichtPriester — rief mich dorthin zumPapst[pAUL in. 1534 bis
1549), doch wurde nichts aus der Sache. Auch der französische
Vizekönig von Mailand nahm sich meiner an und zwar, wie ich
später erfuhr, auf Drängen des erlauchten Herrn louis birague,
des Kommandanten der in Italien stationierten Infanterie des fran*
zösischen Königs. Dieser Vizekönig [Marschall cosse] brissac
war ein überaus eifriger Freund und Gönner der Gelehrten; er
machte mir viele und große Angebote, aber die Sache zerschlug
sich. Im Jahre darauf, 1537, verhandelte ich wieder mit dem Kol*
legium [der mailändischen Arzte], aber mein Gesuch um Auf*
12
nähme wurde wiederum glattweg abgewiesen. Im Jahre 1539 da#
gegen, als nicht mehr soviele gegen mich stimmten, bin ich tatsäch*
lieh wider alles Erwarten aufgenommen worden, auf Betreiben des
[späteren Kardinals, damaligen Senators francesco] sfondrati
und des ganz vortrefflichen francesco della croce. Später, näm::
lieh im Jahre 1543, habe ich dann auch zu Mailand über Medizin
gelesen, aber schon im folgenden Jahre bin ich, als mein Haus in
Mailand einstürzte, nach Pavia gezogen und habe dort Heilkunde
doziert; einen Konkurrenten im Lehramt hatte ich zwar nicht,
doch wurde mir auch mein Gehalt nicht ausbezahlt. So gab
ich denn gegen Ende meines 44. Lebensjahres diese Stellung
wieder auf und blieb nun zu Mailand mit meinem ältesten Sohn
[giovanni battista], der damals 11 Jahre alt war; meine Tochter
[chiara] war 9 und aldo 2 Jahre alt geworden. Da machte mir
im Sommer des Jahres 1546 der [als Kardinalpräsident des Kon#
zils von Trient berühmt gewordene] Kardinal [giovanni] mo?
RONE — ich nenne ihn hier, um ihm ein ehrendes Denkmal zu
setzen — ein Angebot [in der Stellung eines päpstlichen Leib*
arztes] unter nicht zu verachtenden Bedingungen. Aber da ich
nun schon einmal, wie ich oben [S. 5] erklärt habe, das ahnungsvolle
Wesen einer harpokratischen Natur besitze, so sagte ich mir: der
Papst [faul III. aus dem Hause farnese] ist alt und gebrechlich,
eine Mauer, die morgen einstürzen kann — soll ich Sicheres gegen
Unsicheres eintauschen? Ich kannte ja auch damals weder die Red#
lichkeit des morone, noch die glänzende Freigebigkeit des farnese.
Auch hatte ich seit dem Jahre 1542 die freundschaftliche Zunei*
gung des [mit dem Papst verfeindeten kaiserlichen Statthalters von
Mailand, ferrante gonzaga,] Fürsten von este gewonnen, der
mir schon einiges an Geld gegeben hatte. Er wollte mir weiteres
geben, doch ich nahm nichts an. Vielmehr kehrte ich mit dem Ende
des Sommers wieder auf meine Stelle als Dozent [in Pavia] zurück,
und im folgenden Jahr erhielt ich durch Vermittlung des hoch*
berühmten, mir befreundeten andreas vesal vom König [chri#
STiAN iii.] von Dänemark die Einladung, mit einem Gehalt von
jährlich 800 Kronen in seine Dienste zu treten. Ich lehnte ab, nicht
nur wegen der Ungunst des dänischen Klimas — auch hätte meine
dortige Lebenshaltung zu großen Aufwand verlangt, — sondern
13
vor allem der fremden Religion wegen [in Dänemark war im Jahre
1536 die Reformation durchgeführt worden]. Ich wäre dort ents^
weder schlecht aufgenommen worden oder aber gezwungen ge*
wesen, mein Vaterland und meine und meiner Ahnen Sitte und Art
ganz aufzugeben.
Nach vollendetem 50. Lebensjahre blieb ich wieder einige Zeit
in Mailand, weil man mir in Pavia mein Gehalt nicht ausbezahlte.
Im Februar des Jahres 1552 bot sich mir die Gelegenheit einer
Dienstreise nach Schottland [zu john Hamilton, Erzbischof von
St. Andrews]. Ich erhielt vor meiner Abreise aus Italien 500 Kros
nen französischer Währung und 1200 bei meiner Rückkehr. 311
Tage war ich unterwegs. Ich hätte, wenn ich dort hätte bleiben
wollen, eine noch viel größere Summe erhalten können. Von An?
fang Januar 1553 bis Anfang Oktober 1559 lebte ich wieder in
Mailand. Neue, größere Angebote lehnte ich ab: eines vom fran*
zösischen König [heinrich ii.] deshalb, weil ich fürchtete, die
kaiserlich Gesinnten in Mailand vor den Kopf zu stoßen, denn
damals wüteten Kriege zwischen beiden Fürsten; ein anderes, das
mir gleich nach meiner Rückkehr von Schottland durch Vermitt*
lung des ferrante gonzaga von dessen Oheim, dem Herzog von
Mantua, gemacht wurde; ein drittes endlich, ein weit einträgliche?
res noch, aber allzu unbestimmtes, das von der Königin [«Mutter
MARIA VON guise] von Schottland ausging, deren Schwager ich
in ärztlicher Behandlung gehabt hatte und die von mir geheilt
zu werden hoffte. Bezahlt freilich sollte ich erst werden, wenn die
Heilung geglückt wäre.
Im Jahre 1559 kehrte ich wieder nach Pavia zurück, und hier trat
bald darauf das unselige Verhängnis ein, das meinem Sohne [gio*
VANNi battista] das Leben kosten sollte. Mein Aufenthalt währte
gleichwohl fast bis ins Jahr 1562. Dann folgte ich einem Ruf nach
Bologna und setzte dort meine Lehrtätigkeit fort bis ins Jahr 1570.
Am 6. Oktober dieses Jahres bin ich eingekerkert worden; man
behandelte mich dabei in allem, abgesehen vom Verlust meiner
Freiheit, durchaus milde. Am 22. Dezember 1570, am gleichen
Wochentag und zur gleichen Tagesstunde, als ich eingekerkert
worden war, ließ man mich frei, an einem Freitag, in der abend*
liehen Dämmerung. Ich bezog wieder mein Haus, wurde aber dort
14
zunächst unter Hausarrest gehalten. So daß ich, da die Kerkerhaft
77 und der Hausarrest 86 Tage währte, im ganzen 163 Tage in
Haft war. Ich bheb noch das Jahr 1571, bis in die letzten Tage
des September, in Bologna und habe dort mein 70. Lebensjahr
beendet. Dann zog ich nach Rom und kam dort an am 6. Oktober,
eben als man den Sieg gegen die Türken [bei Lepanto] feierte.
Und heute ist seit meinem Einzug in Rom das vierte, seit meiner
Verhaftung das fünfte Jahr verstrichen. Ich lebe seither hier als
Privatmann; doch hat mich am 13. September dieses Jahres das
Kollegium der römischen Ärzte in seine Reihen aufgenommen, und
der Papst [piusv. 1566— 1572 und gregor xiii. 1572— 1585] zahlt
mir eine Pension.
Fünftes Kapitel
GESTALT UND AUSSEHEN
Meine Gestalt ist mittelgroß. Meine Füße sind klein, vorn an
den Zehen breit und haben einen etwas hochgewölbten
Rücken, so daß ich nur mit Mühe passende Schuhe finde und ge*
zwungen bin, mir solche eigens herstellen zu lassen. Meine Brust
ist etwas eng. Die Arme sind viel zu dünn, die rechte Hand zu
plump und ihre Finger unförmig, woraus die Handwahrsager wohl
schließen möchten, daß ich dumm und roh sei. Sie mögen sich
dieser ihrer Wissenschaft schämen. In der rechten Hand ist die
Lebenslinie kurz, die sogenannten saturninische lang und tief. Die
linke Hand ist schön, hat längliche, schlanke und wohlgefügte
Finger. Meine Nägel sind glänzend. Mein Hals ist etwas zu lang
und zu dünn, das Kinn geteilt, die Unterlippe schwülstig und herab*
hängend. Meine Augen sind klein und fast wie blinzelnd zuge*
gedrückt, außer wenn ich einen Gegenstand schärfer beobachte.
Auf dem linken Augenlid habe ich ein linsenförmiges Mal, so
klein, daß es nicht leicht zu sehen ist. Die Stirn ist breit und
an den Seiten, wo die Schläfen anstoßen, von Haaren frei. Haupt*
und Barthaare waren früher blond. Den Kopf pflege ich kurz ge*
schoren und den Bart gestutzt zu tragen. Der letztere ist zwei*
geteilt wie das Kinn. Unterhalb des Kinns wachsen viel reich*
lichere und längere Haare, so daß ich dort einen stärkeren Bart
15
tragen könnte. Mit dem Alter hat der Bart die Farbe ge#
wechselt, das Haupthaar nur wenig. Meine Sprechweise ist etwas
laut, so daß ich mitunter darob von Leuten getadelt wurde, die
sich gern als meine Freunde ausgaben; die Stimme selbst ist rauh
und stark und wurde gleichwohl in meinen Vorlesungen schon
in einiger Entfernung nicht mehr verstanden. Meine Redeweise
ist nicht gerade angenehm und viel zu umständlich; mein Blick
fest und starr wie der eines Nachdenkenden. Die oberen Vorder:s
zahne sind groß. Meine Hautfarbe ist ein ins Rötliche spielendes
Weiß; mein Gesicht längHch, freihch nicht übertrieben. Der Schä#
del läuft nach hinten stark verengend und in einer Art kleiner
Kugelform aus.
So ist also nichts Besonderes an mir. Und die Maler, deren meh*
rere aus fremden Gegenden gekommen sind, um mich zu porträ*
tieren, konnten nichts Charakteristisches an mir finden, woran ich
im Porträt leicht hätte erkannt werden können. Unten an der Kehle
habe ich eine — nicht sehr gut sichtbare — harte, kugelförmige Ge?
schwulst; sie ist von der Mutter vererbt und angeboren.
Sechstes Kapitel
VON MEINER GESUNDHEIT
Ich hatte viel unter körperlichen Schwächezuständen zu leiden,
und zwar handelte es sich dabei sowohl um natürliche Erkran?
kung, als um Unfälle äußerer Art und um bloße krankheitssymp*
tomatische Erscheinungen.
Von Natur litt mein Kopf an Katarrhen, die sich bald auf den Ma#
gen, bald auf die Brust legten, so daß ich mich immer dann am gesün*
desten fühle, wenn ich an Husten und Heiserkeit leide. Denn legte
sich der Katarrh auf den Magen, so waren Durchfall und Appetit*
losigkeit die Folge. Mehr als einmal glaubte ich, Gift zu haben,
aber jedesmal kehrte bald und wider alles Erwarten die Gesund*
heit wieder. Auch die Zähne litten unter diesen Katarrhen, und
ich habe auf diese Weise vom Jahre 1563 an rasch hintereinander
viele verloren, während mir bis dahin nur einer oder zwei gefehlt
hatten. Jetzt habe ich noch 14 gesunde und einen kranken; aber
16
der kann noch lange halten, glaube ich, denn ärztliche Sorge hat
viel geholfen. Auch an überladenem und schwachem Magen litt
ich viel; und von meinem 72. Lebensjahre an habe ich sofort,
wenn ich etwas zu viel oder zu hastig aß oder trank, oder wenn
ich etwas meinem Magen wenig Bekömmliches zu mir nahm,
Schmerzen gefühlt. Ein Mittel dagegen habe ich im zweiten Teil
meines Werkes »de tuenda sanitate« mitgeteilt. In meiner Jugend
hatte ich viel mit Herzklopfen zu tun; es war dies ein Familien*
erbstück, aber die ärztliche Kunst hat mich ganz davon be*
freit. Desgleichen litt ich auch an Hämorrhoiden und Podagra,
bin aber von diesem letzteren so gründlich geheilt worden, daß
ich oft hätte wünschen mögen, nicht gerade diese Krankheit
wiederzubekommen, wohl aber, wenn sie käme, sie wieder ver*
treiben zu dürfen. Einen Darmbruch, woran ich litt, hatte ich
anfangs ganz unbeachtet gelassen; später, von meinem 62. Lebens*
jähre an, reute es mich, ihn nicht genügend behandelt zu haben,
vor allem, als ich merkte, daß er mir vom Vater vererbt war.
Dabei ist mir folgendes ganz Sonderbare begegnet: der Bruch
war auf beiden Seiten eingetreten; auf der linken nun, wo ich ihn
durchaus vernachlässigte, ist er ohne jedes Zutun völlig geheilt,
auf der rechten dagegen, wo ich sorgfältig mit Bindungen und
anderen Mitteln ihm zu begegnen suchte, ist er nur noch stärker ge*
worden. Des weiteren litt ich auch ständig an Hautkrankheiten
und lästigem Jucken am ganzen Körper, bald hier, bald dort. Und
dann im Jahre 1536 — wer hätte es geglaubt? — bekam ich den
Harnfluß und zwar in sehr starker Weise, ungefähr 40 bis 100
Unzen im Tag. Und nun habe ich schon fast 40 Jahre damit zu
tun und lebe noch und leide durchaus nicht an Auszehrung — ich
trage noch immer dieselben Ringe — noch an Durst. Auch viele
andere Leute, die im nämlichen Jahre von diesem Übel ergriffen
worden sind und keinerlei ärztliche Hilfe suchten, sind weit länger
am Leben gebheben als solche, die sich in ärztliche Behandlung
gaben. Zehntens endlich leide ich an einer alljährlich viermal, im
Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, wiederkehrenden Schlaf*
losigkeit, die jedesmal fast acht Tage währt, so daß ich auf diese
Weise im Jahre fast einen Monat, mitunter weniger, mitunter auch
zwei, verliere. Diesem Leiden pflege ich durch Diät, und zwar in
2 Cardano
17
bezug auf Qualität, nicht Quantität, zu begegnen, vor allem durch
Enthaltung von allen harten Speisen. Es hat aber noch in keinem
Jahre ausgesetzt.
Die Krankheiten, die ich äußerem Zufall zu verdanken habe, wa*
ren folgende : Die Pest, die ich im zweiten Monat nach meiner Ge#
burt durch Ansteckung bekommen habe, und dann noch einmal
in meinem 19. oder 18. Lebensjahre, ich erinnere mich nicht mehr
genau, weiß nur noch, daß es im August war und daß ich drei
Tage lang fast ohne alle Nahrung blieb. Ich streifte vor der Stadt
und in den Gärten umher, und wenn ich am Abend nach Hause kam,
log ich, ich hätte bei agostino lanizario, einem Freund meines Va?
ters, gespeist. Wie viel ich in diesen drei Tagen an Wasser getrunken
habe, will ich nicht sagen. Am dritten Tage konnte ich nicht mehr
schlafen, mein Herz zitterte heftig, ein starkes Fieber hatte mich ge#
packt, und ich glaubte, im Bett des asklepiades zu liegen und mit
diesem unter heftigen Stößen ununterbrochen in die Höhe zu stei*
gen und wieder in die Tiefe zu stürzen. Damals glaubte ich, noch
in der Nacht sterben zu müssen. Aber inzwischen überkam mich
der Schlaf, und ein Geschwür, das sich an meiner rechten Seite oben
bei der ersten sogenannten falschen Rippe gebildet hatte, brach
auf, und eine anfänglich nur kleine Menge schwarzen Stoffes drang
heraus. Vermutlich der Arznei wegen, die mir mein Vater gegeben
und die ich viermal im Tag hinunterschlang, begann ich dann so
stark zu schwitzen, daß der Schweiß durch das ganze Bett drang
und durch die Bretter hindurch auf den Boden rann. In meinem
27. Lebensjahre sodann befiel mich ein einfaches Tertianfieber; am
vierten und siebenten Tage kam dann je ein Ohnmachtsanfall, und
am gleichen siebenten Tage wurde ich ganz gesund. Mit 43 Jahs
ren spürte ich zu Favia, zum erstenmal, mein Podagra, und mit
54 bekam ich ein Quotidianfieber, das 40 Tage lang anhielt und
wovon mich, am 13. Oktober des Jahres 1555, eine Krisis befreite,
bei der ich 120 Unzen Urin ließ. Und 1559 endlich, dem Jahre,
da ich nach Pavia zurückkehrte, litt ich zwei Tage lang an Schmer*
zen im Halse.
Krankheitssymptome zeigten sich mannigfache. Das erste war, daß
ich von meinem siebenten bis fast zum zwölften Jahre bei Nacht
mich erhob und Schreie ausstieß, die aber keinen bestimmten Sinn
18
hatten. Und hätten Mutter und Tante, zwischen denen ich schhef,
mich nicht gehalten, so wäre ich öfter aus dem Bette gestürzt. So
hatte ich nur heftiges Herzklopfen, das aber, sobald man die Hand
daraufdrückte, sich beruhigte, was das wesentliche Merkmal eines
beschleunigten Atems ist. Gleichzeitig — doch dauerte diese Er#
scheinung bis fast in mein 19. Jahr — hatte ich darunter zu leiden,
daß ich nicht Atem fassen konnte, wenn ich dem Winde, vor allem
einem kalten, entgegenging. Doch schwand dieses Übel, sobald
ich darauf achtete und den Atem zurückhielt. In dieser Zeit konnte
ich auch im Bette, selbst wenn ich schon in der sechsten Stunde
lag, von den Knien abwärts nicht warm werden. Deshalb vor ab
lem und auch aus anderen Gründen sagte meine Mutter oft, ich
werde gewiß kein hohes Alter erreichen. Und dann wieder konnte
in einzelnen Nächten, wenn ich einmal warm geworden war, mir
am ganzen Leib ein so starker und glühendheißer Schweiß aus*
brechen, daß, wer es hörte, es nicht glauben möchte. Mit 26 Jah#
ren fiel ich dann in ein doppeltes Tertianfieber, das sich am sie;s
benten Tage löste; später, mit 54 Jahren, in ein Quotidianfieber,
das 40 Tage anhielt. Im November des Jahres 1556 erlitt ich in#
folge eines mäßigen Trunkes von Meerzwiebelessig einen überaus
heftigen Anfall von Dysurie; ich fastete darauf zuerst 34 und dann
zum zweitenmal 20 Stunden, aß etwas Tannenharz und genas.
Ich hatte die Gepflogenheit — worüber manche Leute sich wun#
derten — , daß ich, sobald ich keine Schmerzen hatte, mir solche
selbst zu bereiten suchte, wie ich oben vom Podagra gesagt habe.
Auf diese Weise ging ich häufig der Gefahr einer Krankheit ent::
gegen, um nur, so gut es irgend ging, der Schlaflosigkeit entgehen
zu können. Ich bin nämlich der Ansicht, die Lust bestehe wesent?
lieh in dem Stillen eines'gehabten Schmerzes, und wenn ein Schmerz
freiwillig verursacht ist, so kann er ja leicht gestillt werden. Und
nun weiß ich aus Erfahrung, daß ich nie ganz ohne Schmerzen
sein kann; denn ist dies einmal der Fall, so befällt mich eine so
widerwärtige Stimmung, daß ich nicht wüßte, was schwerer zu er*
tragen ist. Ein viel geringeres Übel ist mir dann der Schmerz oder
dessen Ursache, die weder mit einer entstellenden Verletzung noch
mit irgendwelcher Lebensgefahr verbunden zu sein braucht. So
habe ich mir zu diesem Zwecke Schmerzen ausgedacht, die mir
2* 19
Tränen erpressen können: ein Beißen in die Lippen, ein Verren*
ken der Finger, ein Quetschen der Haut oder einer zarten Muskel
des linken Armes. Und mit Hilfe solcher Vorbeugungsmittel lebe
ich noch heute ohne jede Schädigung.
Von Natur fürchte ich erhöhte Orte, und seien sie auch noch
so breit, desgleichen solche Plätze, wo mir ein wütender Hund
begegnen könnte. Mitunter habe ich auch mit einer gewissen he#
roischen Leidenschaft zu tun gehabt, einer starken Neigung zum
Selbstmord. Ich vermute freilich, daß dies auch anderen begegnet,
nur daß sie es nicht in Büchern berichten. In früher Jugend end*
lieh, bis ungefähr in mein zweites Jahr, schien mir ein Krebsleiden
zu drohen ; und vielleicht war wirklich ein Anfang dazu vorhanden
an meiner linken Brustwarze, wo sich eine rote und dann schwärzlich
werdende Geschwulst zeigte, eine Unempfindlichkeit und dann
ein Beißen zu spüren war. Dies Übel lösten mit zunehmenden
Jahren Krampfadern ab, und diesen folgte dann in meinen Knaben*
Jahren das Herzklopfen, wovon ich schon erzählt habe. Später ka*
men dann Hämorrhoiden mit starken Blutungen, das erwähnte
Jucken und andere Hautunreinlichkeiten. Von all dem bin ich wider
alles Erwarten und ohne jede ärztliche Behandlung geheilt wor*
den; denn habe ich auch gegen einige dieser Krankheiten Mittel
gebraucht, so hat sich doch dadurch nur der natürliche Sitz des
Krankseins verändert.
Siebentes Kapitel
VON MEINEN LEIBESÜBUNGEN
Von früher Jugend an habe ich mich allen Arten von gladiato*
rischen Übungen eifrig gewidmet, so daß ich es bei dieser
wilden und übermütigen Klasse von Menschen wohl hätte zu eini#
gern Ansehen bringen können. Ich machte Fechtübungen mit dem
Schwert, und zwar mit diesem allein oder auch mit einem Schild, mit
dem oblongen oder mit dem großen oder kleinen Rundschild.
Auch lernte ich mit dem Stoßdegen und Schwert zugleich, mit der
langen Lanze und mit Wurfspeeren, oder aber auch mit Schwert
und schwerem Mantel ohne besondere Anstrengung auf ein hölzer*
nes Pferd zu springen und verstand es, unbewaffnet einem an#
20
dern den gezückten Dolch zu entreißen. Ich übte mich auch im
Laufen und Springen und habe es darin zu genügender Fertigkeit
gebracht; weniger bei Übungen mit den Armen, meiner schwachen
Armmuskeln wegen. Beim Reiten, Schwimmen oder Abfeuern von
Schußwaffen war es mir nicht recht behaglich, fürchtete ich doch
auch die Blitze wie den Zorn der Götter. Von Natur nämlich war
ich feig, nur künstliche Übung hat mich mutig gemacht, weshalb
ich mich auch in die Reihen der freiwilligen Miliztruppen aufneh*
men ließ. Auch streifte ich oft bei Nacht, entgegen den Vorschrift
ten der Obrigkeit, bewaffnet durch die Straßen der Stadt, wo ich
gerade wohnte. Bei Tage ging ich bewaffnet, mit bleiernen Soh#
len von 8 Pfund Gewicht an den Schuhen, bei Nacht verhüllte
ich das Gesicht mit einem schwarzen Leinentuch und trugStrumpf*
schuhe aus starkem Wollstoff. Oft machte ich meine Leibesübun*
gen in voller Waffenrüstung vom frühesten Morgen bis zum Abend
und mühte mich dann noch schweißdurchnäßt mit meinen Musik*
Instrumenten ab, trieb mich auch oft die ganze Nacht bis zum Mor#
gen im Freien herum.
Bei Ausübung meiner ärztlichen Praxis ritt ich auf einem Pferd
oder Maultier, häufiger aber ging ich zu Fuß. Vom Jahre 1562
an benutzte ich die Kutsche, in Bologna wie in Rom, und tue dies
heute noch. Morgens fahre ich im Wagen aus und kehre dann
zu Fuß zurück. Vom Mittagessen an trage ich leichtere Kleidung,
etwas schwerere immer dann, wenn ich fahre.
Achtes Kapitel
LEBENSWEISE
Ich pflege zehn Stunden im Bett zuzubringen und von diesen,
wenn ich gesund und ohne Störung bin, acht, wenn ich mich
weniger wohl befinde, vier oder fünf zu schlafen. In der zweiten
Stunde nach Sonnenaufgang stehe ich auf. Quält mich nachts
Schlaflosigkeit, so stehe ich auf, spaziere um mein Bett und zähle
in Gedanken bis auf Tausend; auch enthalte ich mich dann der
Speisen ganz oder esse doch um mehr als die Hälfte weniger als
sonst. Arzneimittel gegen das Übel gebrauche ich wenig, außer
21
etwas Pappelsalbe oder Bärenfett oder Haarwurzel, womit ich dann
meinen Leib an 17 [16?] Stellen einreibe: an den Schenkeln, den
Fußsohlen, am Nacken, an den Ellbogen, den Handgelenken, den
Schläfen, den Halsadern, in der Herz* und in der Lebergegend
und auf der Oberlippe. Namentlich morgens quält mich oft die
Schlaflosigkeit über die Maßen.
Vormittags pflege ich stets weniger Speisen zu mir zu nehmen
als am Abend bei der Hauptmahlzeit. Nach meinem 50. Lebens*
jähre begnügte ich mich morgens mit einer Brotsuppe; früherbe*
stand mein Frühstück sogar nur aus Brot in Wasser getunkt und
großen kretischen Trauben, sogenannten Zibeben. Später wünschte
ich mehr Abwechslung und verlangte zum Frühstück mindestens
einen Eidotter und zwei oder wenig mehr Unzen Brot, manchmal
ohne, manchmal mit einem bescheidenen Quantum reinen Weines.
Am Freitag oder Samstag wünsche ich am liebsten ein mäßiges
Stück Fleisch mit einer Suppe von Gienmuscheln oder Meerkrebsen.
Nichts habe ich lieber als ein kräftiges Stück Kalbfleisch, im Topf,
und zwar ohne Zutat irgend einer Flüssigkeit, gekocht; doch muß
es vorher mit dem Messerrücken lange geklopft sein. So schmeckt
es mir am besten; eine Brühe pflegt dabei ganz von selbst heraus*
zuträufeln. Es ist dies die beste Art der Zubereitung; auf diese
Weise ist das Fleisch viel saftiger und fetter noch als selbst ein
am Spieß geschmortes.
Zum Abendessen nehme ich gern einen Gang Gemüse, am liebsten
Mangold, mitunter auch Reis oder Endiviensalat, aber noch lieber
esse ich das breite Blatt der stachligen Gänsedistel und die weiße
Wurzel der Endivie. Fische esse ich lieber als Fleisch, doch müssen
sie gut und frisch sein. Vom Fleisch liebe ich die kräftigen Stücke
— so namentlichKalbs* und Schweinsbrust— geschmort und mit sehr
scharfen und zwar heißen Messern fein zerrieben. Zur Mahlzeit
lasse ich mir süßen, auch neuen Wein schmecken, im Maß von
ungefähr einem halben Pfund, dazu das doppelte, oder auch mehr,
an Wasser. Ganz besonders liebe ich die Flügel von ganz jungen
Hühnchen, die Leber und alle anderen blutreichen inneren Teile
von Hühnern und Turteltauben. Auch Flußkrebse esse ich gern
— wohl deshalb, weil meine Mutter, da sie mich im Leibe trug,
solche mit besonderer Lust gegessen hatte — desgleichen auch
22
Gienmuscheln und Austern. Des weiteren nähre ich mich Heber
und mit größerem Nutzen für meine Gesundheit von Fisch* als
von Fleischspeisen. Fische, die ich gerne esse, sind der Zungen*
fisch, der Stachelflunder, die Steinbutte, der Gründling, die Land*
Schildkröte, die Plötze, besonders aber der Rotbart oder die Meer*
barbe, femer die Steinbarbe und das Rotauge, der Seebrassen und
der Kabeljau, ein ganz leckerer Fisch, auch der Seebarsch, die ge*
wohnlichen Arten der Weißfische, die große und die kleine Äsche ;
von den Süßwasserfischen sind es vor allem der Hecht, der Karpfen,
der Barsch, beide Arten von Rotflossen oder Brachsen, außerdem
der Schmerling, der Drachenkopf, die verschiedenen Arten der
Thunfische, gesalzene Sardinen, die zarten und mehr noch die
etwas härteren. Sonderbar ist, daß wir die Platt* oder Gienmuschel
als eine sehr angenehme Speise lieben, die Miesmuschel oder ge*
wohnliche Meermuschel dagegen als giftig meiden, desgleichen
auch die Wegschnecke, außer sie wäre gereinigt. Auch Süßwasser*
krebse und andere Schaltiere schmecken mir; die Meerschaltiere
sind mir zu hart und Aale, Frösche und Morcheln zu schwer verdau*
lieh. Ich bin ein großer Freund von Süßigkeiten ; besonders liebe ich
den Honig, Zucker, frische reife Trauben, Melonen, nachdem ich
einmal ihre heilsame Wirkung verspürt habe. Feigen, Kirschen,
Pfirsiche, eingekochten Most, und bis heute hat mir noch keines
von allen diesen je geschadet, öl liebe ich über die Maßen, rein
oder auch mitSalz und weichen Oliven. Auch die Zwiebel bekommt
mir gut, und die Raute habe ich, für mich wenigstens, in meiner Ju*
gend wie im Alter, als Gegengift, nicht nur als Vorbeugungsmittel,
sondern auch als gegen jede Art von Vergiftung wirksam, erprobt.
Auch der römische Wermuth hat sich mir als gesundheitfördernd
erwiesen.
Den geschlechtlichen Genüssen habe ich mich immer mit Maß
hingegeben und habe auch nie mit den Wirkungen eines über*
mäßigen Genusses viel zu tun gehabt. Jetzt freilich beginnt offen*
sichtlich mein Magen darunter zu leiden. Das weiße Fleisch von
kleinen, am Rost gebratenen Fischen, wenn sie nur frisch und
weich sind, schmeckt und bekommt mir vortrefflich. Auch recht
fetten Schafkäse verachte ich nicht. Ein Karpfen aber, der aus*
genommen drei bis sieben Pfund wiegt, ist mir lieber als jede an*
23
dere Speise. Von den großen Fischen nehme ich Kopf und Bauch,
von den kleinen Rücken und Schwanz. Der Kopf und bei den
großen Fischen auch die übrigen Teile sollen immer in Wasser
gesotten oder in der Schüssel gedämpft, die kleinen Fische das
gegen geröstet, getrocknet, oder auch gesotten oder am Rost ge#
braten sein. Sind sie ganz zart, so liebe ich sie geröstet oder nur
ganz wenig gesotten. Von den vierfüßigen Tieren sind die weißen
Fleischteile die besten; die blutreichen inneren Teile, Herz, Leber,
Nieren sind weniger leicht verdaulich, die Lunge etwas leichter.
Doch sind alle diese letztgenannten von geringem Nährwert. Die
roten Fleischteile, das Herz ausgenommen, sind leicht verdau=
lieh, die weißen mittelmäßig, mit Ausnahme der Hoden, die
leicht verdaulich sind ; schwerer verdaulich sind die blauen Fleisch*
teile.
— Der obersten Genera dieser ganzen Sache sind es 7: Luft, Schlaf,
Leibesübung, Speise, Trank, Arznei und Vorbeugungsmittel. Der
Spezies sind es 15 : Luft, Schlaf, Übung, Brot, Fleisch, Milch, Eier,
Fische, öl, Salz, Wasser, Feigen, Raute, Trauben und scharfe
Zwiebel. Zubereitungsmittel haben wir 15: Feuer, Asche, Bad,
Wasser, Topf, Bratpfanne, Bratspieß, Bratrost, Mörser, Messer:;
rücken und Messerschneide, Reibeisen, Petersilie, Rosmarin und
Lorbeer. Von Übungsmitteln kennen wir: das Mühlrad, den Spa#
ziergang, das Reiten, kleine Wurfspieße, die Kutsche, Geräte wie
sie der Waffenschmied hat, noch einmal das Reiten, den Sattel,
die Schiffahrt, das Polieren von Platten, Reiben und Waschen,
wiederum genau 15 [?]. — So habe ich denn, wie es die Herren
Theologen machen, durch tiefsinnige Gedankenarbeit und blen*
dende Vernunftschlüsse die Sache auf wenige Begriffe zusammen*
geordnet. Denn ohne solche glänzende begriffliche Klarheit wird
dir alles dunkel und verschlossen bleiben, und wäre es auch noch
so hell und selbstverständlich. Fahren wir darum ebenso fort:
Fünf Dinge sind es, die man ohne Maß (man wäre denn ein Greis)
genießen darf: Brot, Fisch, Käse, Wein und Wasser. Zwei Dinge
dienen als Arznei: Mastix und Koriander, jedoch nur in großen
Mengen Zucker; zwei als Gewürze: Safran und Salz, wovon das
letztere zugleich ein Element ist. Vier Dinge sind nur mit Maß zu
nehmen, denn es sind Nahrungsmittel: Fleisch, Eidotter, Rosinen
24
und öl. Und dieses letztere ist ein verborgenes Element, das in
seinen Eigenschaften den Sternen zu vergleichen ist, nämlich wenn
es brennt.
Neunfes Kapitel
DER GEDANKE, MEINEN NAMEN ZU VEREWIGEN
Gedanke und Wunsch, meinen Namen zu verewigen, stellten
sich ebenso frühe bei mir ein, als spät ich Aussicht hatte, sie
zu verwirklichen. Es war mir klar, daß es ohne Zweifel ein doppeltes
Leben gebe, ein derbwirkliches, das wir Menschen mit Tier und
Pflanze gemein haben, und ein anderes, das nur der Mensch lebt, der
nach Ruhm und Arbeit strebt. Frühe sah ich auch, daß schon für
jenes erste Leben die Natur mich stiefmütterlich behandelt und zu
wünschen genug mir gelassen hat und daß mir vollends für das
zweite, höhere Leben rein gar nichts geworden war, das frohe Hoff*
nung mir hätte schenken können, weder Macht noch Mittel, keine
feste Gesundheit und keine Arbeitskraft, keine angesehene Familie,
keine besonders regsame Begabung, nicht einmal die Kenntnis
der lateinischen Sprache, keine Freunde und bei meinen Eltern
nichts als Armut und Verachtung. Einige Jahre später hat mir ein
Traum die feste Hoffnung auf ein ruhmreiches Leben erweckt; die
nähere Art und Weise freilich sah ich nicht, nur daß dabei ein
wunderbarer Zufall mir zumVerständnis des Lateinischen geholfen
hat. Vernünftige Erwägungen haben mich dann freilich von
solchen sehnsüchtigen Gedanken wieder abgebracht, und ich sah
ein, daß es nichts Aussichtsloseres geben könne als diese Hoffnung,
geschweige denn den bloßen Wunsch. Ich sagte mir: Wie kannst
du wohl ein Buch schreiben, das man lesen wird? Findest du wohl
einen Gegenstand, der von so allgemeinem Interesse und der so
wohl bekannt und geläufig ist, daß er Leser anziehen wird? Ver#
fügst du über genügend guten Stil und sprachliche Gewandtheit
und Feinheit, um die Leser zu fesseln? Und, gesetzt den Fall, du
fändest Leser, häuft sich denn nicht im Laufe der Zeit Tag für
Tag die Menge der Bücher, so daß, was früher einmal geschrieben,
der Verachtung, jedenfalls aber der Vergessenheit verfällt? Oder
werden deine Schriften ein paar Jahre dauern? Wieviel Jahre?
25
Hundert? Tausend? Zehntausend? Nenne mir irgend ein Buch
aus der Geschichte, auch nur ein einziges von so vielen Tausenden,
dem ein so langes Leben beschieden war! Und einmal wird doch
alles ganz und gar zugrunde gehen müssen, auch dann, wenn die
Welt — wie die Akademiker wollen — in ewiger Wiederkehr sich
erneuern sollte, nicht weniger als wenn sie nun ein Ende nehmen
wird, wie sie einst einen Anfang genommen hat. Was liegt denn
daran, ob dies nach 10 Tagen oder nach 10000 Myriaden von
Jahren der Fall sein wird? Nichts, gar nichts gegenüber der un*
ermeßlichen Spanne der Ewigkeit! Und du willst dich inzwischen
mit Hoffnung abquälen, mit Furcht plagen, mit nutzloser Arbeit
abhetzen? Und du verscherzest dabei, was das Leben schließlich
noch an Angenehmem dir bieten mag. O herrlicher Einfall ! — Und
doch haben caesar, Alexander, hannibal, scipio, curtius, hero*
STRATus dasselbe getan, haben ihr Leben geopfert, die größte
Schande auf sich genommen, die ärgsten Qualen erduldet, nur weil
die Hoffnung auf ewigen Ruhm ihnen mehr bedeutete als alles an*
dere. Sei es drum! Aber so nichtig auch ihr Ziel war, sie waren ihm
doch schon sehr nahe gerückt. Jenen weisen philosophischen Rat
haben sie freilich nicht beachtet, geschweige denn befolgt. Wohl
aber hatten sie viele Hilfsmittel bereit, ihr Ziel zu erreichen. Und
doch, wer will leugnen, daß sie Toren durchaus gewesen sind?
Das waren sie auch in des horaz' Urteil, wie seine Ode »Tyrrs
hena regum progenies«, die 29. des III. Buches, zeigt. Ich meine
die Stelle:
» Der ist sein eigner Herr
Und frohen Glücks, der täglich sich sagen darf:
Ich hab' gelebt. Mag schwarz der Himmel
Morgen bewölket uns droh'n, die Sonne
Erstrahlend glüh'n, nicht rückwärts geschraubet wird,
Was hinter uns liegt, nicht ungescheh'n gemacht
Und wieder neu zum Tun gestellet,
Was mit dem fliehenden Tag entschwunden.«
Die praktische Lehre aus diesem Gedanken hat er kurz zuvor mit
wenigen Worten gezogen : »Was vor dir liegt, das ordne in Gleich*
mut.« Mit anderen Worten: Klüger wirst du tun, zu nützen, was
du in den Händen hast, als ferne Pläne zu schmieden. Ein caesar
freilich, ein hannibal und Alexander waren entschlossen, sich
26
einen ewigen Namen zu erschachern um ihr eigen Leben, um
das der Ihrigen und ihres ganzen Hauses, selbst um das Wohl der
Stadt und ganzer Länder, und bis dahin froh des Erworbenen sich
zu freuen. Was haben sie damit erreicht? Was war das Ende?
Schon ein sulla hat seinem Ruhm zuliebe das von allen Früheren
mühevoll Errungene und alles, was an wunderherrlichen Werken
vor ihm war, vergeudet und zerstört. Und jeder der anderen, die
seinen Spuren folgten, haben ihre Familie und ihr eigenes Haus
geopfert und vernichtet. So hat Kaiser commodus das Geschlecht
der JULIER völlig ausgerottet, denn vor jedem rechtmäßigen Zweig
des Herrscherhauses hat sich der Fürst zu fürchten, der wider
Recht und Ordnung sich die Krone angemaßt. Und selbst das
Vaterland hat jener große Gedanke ewigen Ruhmes preisge*
geben. Denn wo ist heute das römische Kaisertum? Lächerlich
und ganz unerhört: in Deutschland! Wäre es nicht viel besser ge*
wesen, das herrliche Haus der julier, der Enkel des aeneas, hätte
seinen Namen überlebt? Viel besser, die Römer wären noch heute
die Herren der Welt, als daß mit caesars leerem Namen sich blöde
Larven und Puppen putzen?
Und dann, wenn die Seele unsterblich ist, was bedarf es dann
eines eitlen Namens? Und geht sie zugrunde, was nützt es ihr?
Wenn einmal das Menschengeschlecht ein Ende hat, wird auch all
dies ein Ende nehmen, und von uns Menschen wird nicht mehr
übrig bleiben als von Hasen und Kaninchen. — Kein Wunder
war es, daß ich einst brannte, besessen von der Gier nach Ruhm ;
aber heute ist es ein Wunder, daß ich immer noch brenne, ob*
wohl ich all dies eingesehen habe. Und doch ist jene tölpelhafte
Gier geblieben. Des caesar und jener andern Pläne waren töricht;
meine Ruhmbegierde aber, die ich inmitten soviel widriger Ge#
schicke und solcher Hindernisse hege, ist tölpelhaft dumm,
nicht bloß töricht.
Und doch habe ich nach Ruhm und äußeren Ehren nie gelechzt;
ich habe sie vielmehr stets verachtet : ich möchte wohl, daß es be*
kanntsei, daß ich bin; ich wünsche aber nicht, daßjeder wisse, wie
ich bin. Was aber das Fortleben in seinen Kindern und Kindes*
kindern anlangt, so weiß ich wohl, was für eine dunkel unsichere
Sache dies ist und wie wenig wir in solchen Dingen Vorsorgen
27
können. Darum habe ich auch immer, so viel ich konnte, mir ge*
lebt und habe stets, auf Besseres hoffend, meine Zeit verachtet.
Wenn es aber irgend eine Entschuldigung für diese meine eitlen
Wünsche gibt, so wäre es wohl die, daß ich trotz allem in der
Zwischenzeit gelebt habe, so gut ich eben konnte. Dies, dünkt mir,
ist ehrenvoll genug, und täuscht mich auch meine Hoffnung, so
ist doch mein stolzer Wunsch, weil er natürlich war, des Lobes
würdig.
Zehntes Kapitel
MEIN LEBENSWEG
So habe ich mir denn meinen Lebensweg selbst zurecht gelegt,
nicht gerade so freilich, wie ich ihn mir hätte wünschen mögen,
aber doch so gut, als es mir eben möglich war. Ich habe mir auch
im einzelnen nie das gewählt, was ich mir hätte wählen sollen,
sondern das, was ich für das beste hielt. Ich bin auch nie beharre
lieh bei einem und demselben geblieben — ist ja doch alles voll
Gefahren, Mühsal und Unvollkommenheit — sondern habe mir
immer gewählt, was mir zu jeder Zeit gerade das günstigste schien.
Daher es denn auch kam, daß solche, die mich an fremdem Maße
messen, mich für unbeständig, ja für wankelmütig halten. Doch
wer keinen geraden, sicheren Lebensweg vor sich sieht, der muß
eben manche Wege gehen und mit mancherlei Winkelzügen vor*
wärts zu kommen suchen. Und wie er auch im einzelnen sich än^
dem mochte, beharrlich war im Grunde genommen mein Zustand
immer : keine Mittel und keine Muße, nicht Ehre, noch Amt, noch
Macht, wohl aber jene Sehnsucht nach ewigem Ruhm. Auch
hemmten mich stets nacheinander böse Zwischenfälle, meine
Widersacher, der Zeiten Mißgunst und meine eigene Unwissen*
heit; dazu fehlte mir durchaus jede äußere Möglichkeit, das
Ziel zu erreichen. Auch war mir meine Kenntnis in der Astro*
logie, die ich damals betrieb, sehr im Wege : ich glaubte näm*
lieh, und von allen Seiten sagte man es mir, daß ich das 40. Le*
bensjahr nicht überschreiten, keinesfalls das 45. erreichen werde.
Und so bin ich denn, indes ich nach dem rechten Lebenswege
Ausschau hielt, teils im Zwang der Umstände, teils gelockt von
28
Lust und Vergnügungen, die sich mir boten, häufig in die Irre
gegangen. Einer trügerischen Hoffnung zuUebe habe ich den
wirkhchen Wert der Dinge mißachtet; in meinen Plänen und
Überlegungen ging ich fehl und häufiger noch habe ich in mei*
nem Tun gesündigt. So kam es denn, daß mein Leben eigentlich
erst anfing, da ich sein Ende gekommen glaubte, in meinem 43.
Lebensjahre.
Mein Alter, mein Charakter, die überstandenen Sorgen und
günstige Gelegenheiten verführten mich, das neue, frohe Leben
ganz auf Genuß und Vergnügen einzustellen. Frühmorgens ab#
solvierte ich meine Vorlesungen, wenn ich gerade, wie zuerst in
Mailand und später viel häufiger noch in Pavia, solche zu halten
hatte; dann spazierte ich im Schatten draußen vor den Mauern
der Stadt, frühstückte, trieb Musik, ging dann bei den Hainen
und Wäldern in der Nähe der Stadt zum Fischen, las, schrieb und
zog mich am Abend in mein Haus zurück. Sechs Jahre dauerte
diese glückliche Zeit, dann aber, ach, hieß es bald : »Entschwun::
den sind die Tage, da heiter die Sonne dir strahlte«, wie der Dich?
ter sagt. Eine bittere Einkehr gab es nach einem langen, ehren*
vollen Wege. Fahrt wohl, gewonnenes irdisches Glück und stolze
Ehren, du eitles Buhlen um Ruhm, unzeitiges Genießen! Mich
selbst habe ich vergeudet und zugrund gerichtet; drängende Sor*
gen und schwere Mühsale wuchsen wieder gleich dem Schatten
eines Taxusbaumes, wie das Sprichwort sagt. Nirgendwo blieb
mir ein anderer Trost als der, der zum Tode führt. Doch Glück«
Seligkeit kann in solchem Tun nicht liegen, sonst wären ja wohl
die Tyrannen, die am fernsten dem wahren Glücke stehen, die
glückseligsten] — Wenn ein Stier im wildesten Ungestüm mit
verbundenen Augen seines Weges rast, so muß er unfehlbar bald
wider eine Mauer rennen und stürzen. So rannte denn auch ich
wider eine Mauer und stürzte [gemeint ist wohl die Katastrophe
vom Oktober 1570; s. o. S. 14].
Inzwischen, noch vor dieser Sache, traf mich das unselige Geschick
meines ältesten Sohnes. Einige seiner Richter haben eingestanden
— ich glaube freilich, sie wollten nicht, daß man dies Geständnis
auf sie selbst beziehe, — sie hätten ihn nur deshalb verurteilt, daß
ich aus Schmerz darüber sterben oder doch den Verstand verlieren
29
sollte. Wie wenig ich davon entfernt war, wissen die Götter, und
ich selbst will am gegebenen Ort davon erzählen. Erfüllt hat sich
freilich ihr Wunsch nicht. Ich will — darum habe ich dies so
nebenbei mitgeteilt, — daß der Leser sehe, was dies für Zeiten,
für Sitten sind! Weiß ich doch gewiß, daß keiner dieser Leute je
von mir, auch nicht einmal von meinem Schatten, ist gekränkt
worden. Ich habe mich damals, so gut es ging, auf eine Verteil
digungsrede für meinen Sohn vorbereitet. Doch was konnte sie
nützen gegenüber so feindselig erbitterten Richtern? Ich selbst
war ganz gebrochen von schmerzlichem Mitleid mit dem Elend
meines Sohnes, zitterte angstvoll vor dem, was ihm noch drohte,
war wie gelähmt durch das Unglück, das über mich hereinge;;
brochen, und bangte vor dem, was noch kommen sollte. Und doch
sprach ich, begann damit, das Gericht an seine oft bewiesene
Menschlichkeit und Billigkeit, an einzelne Beispiele seines Mit*
leids zu erinnern. Ich erwähnte die Milde, die der Senat damals
in der Sache des Notars giovanni pietro solari bewiesen hatte,
dessen unehelicher Sohn überführt worden war, seine beiden legi*
timen Schwestern vergiftet zu haben, nur um ihr Vermögen zu
erben ; man begnügte sich damals, ihn zu den Galeeren zu ver*
urteilen. Ich erwähnte auch, daß damals das Gericht beim Verhör
dem Angeklagten lobend zugestand, daß er doch den eignen Vater
nicht ermordet habe. Und dann fuhr ich fort : v/as wäre das für
eine Grausamkeit, mich, den unschuldigen, altersschwachen Vater,
in meinem Sohne zu töten ! Wenn damals der Vater der Gunst
einer Milderung für würdig erachtet wurde, als sein Sohn zum
Tierkampf verurteilt war [?], um wie viel mehr heute, wo es sich um
ein anderes, leichteres Vergehen handelt? Was vermögen künftig*
hin alle Verdienste der Menschheit, wenn die schönste Tugend,
die Unschuld, so schwer getroffen wird? Ist es denn nicht viel
ärger, den Vater mit seines Sohnes, als mit seinem eigenen Tode
zu bestrafen? Werde ich getötet, so stirbt nur einer, der doch gar
bald auch so ohne weitere Leibesfrucht sterben würde. Tötet ihr
aber meinen Sohn, so raubt ihr mir die Hoffnung auf Leibes*
erben. Beredet euch, die ganze Menschheit flehe euch an für den
Sohn dessen, dem alle sich verschuldet fühlen : für einen zorner*
regten hitzigen Jüngling, der unter so vielen Widerwärtigkeiten
30
leidet, den die größte Schmach getroffen hat, von seinem Weib
betrogen worden zu sein, das er ohne Heiratsgabe genommen
hat, von einem verdorbenen, schamlosen Weibe, dem er sich wider
Wissen und Willen seines Vaters vermählte — was würdet ihr tun?
Doch freilich, niemand fleht für ihn, niemand kennt sein Un*
glück?! Und keiner kann doch so sehr mein oder meines Sohnes
Todfeind sein, daß er nicht gerne dem das Leben schenkte, des*
sen Tod die Teufel selbst zu Mitleid rühren würde. Dies und an*
deres der Art brachte ich vor; was ich erreichte, war einzig und
allein der Gerichtsbeschluß, daß man sein Leben schonen werde,
wenn es ihm gelinge, von denVerwandten seiner Frau Verzeihung
zu erlangen. Dies vermochte er nicht; der Tor hatte mit Reich:;
tümern geprahlt, die ich nicht hatte, und seine Verwandten for#
derten Summen, die ich nie zahlen konnte.
Doch lassen wir dies alles! Von früher Jugend an hielt ich stets
den Beruf für den besten, der für das Leben selbst sorgte. Von
diesem Gesichtspunkt aus schien mir das Studium der Medizin
förderlicher zu sein als das der Jurisprudenz. Und ich fand, daß
es nicht nur diesem Zwecke näher steht und auf der ganzen Erde
und zu allen Zeiten gleich gültig und wertvoll, sondern auch ehr*
lieber und reiner ist und daß es auf der Vernunft, dem ewigen
Gesetze der Natur, und nicht wie die Jurisprudenz auf den vor*
übergehenden Meinungen der Menschen ruht. Darum ergriff ich
den Beruf des Arztes, nicht den des Juristen; auch deshalb vor
allem, weil ich, wie ich schon gesagt habe, die Förderung durch
Freunde, Mittel, Macht und Ehren nicht bloß verachtete, sondern
floh. Mein Vater freilich, als er merkte, daß ich mich vom Studium
der Jurisprudenz abwandte und zu dem der philosophischen
Disziplinen neigte, weinte in meiner Gegenwart und klagte dar*
über, daß ich nicht dieselben Studien wie er betreiben wolle. Er
hielt nämlich die Jurisprudenz für eine vornehmere Disziplin — und
zitierte auch dafür mit Stolz eine Stelle aus Aristoteles, — eine Dis*
ziplin, die auch vielgeeignetersei, Geld und Machtzu erwerben und
vor allem auch die ganze Familie in die Höhe zu bringen. Auch
schmerzte es ihn, daß er sein juristisches Lehramt in Mailand,
dessen er sich schon seit vielen Jahren erfreute und das ein Honorar
von 100 Scudi abwarf, nicht auf mich vererben könne, wieerge*
31
hofft hatte, sondern einst einen fremden Nachfolger auf seinem
Lehrstuhle sehen müsse und daß auf diese Weise seine Kommen?
tarienwerke nicht vollendet, noch von mir herausgegeben werden
sollten. Kurz zuvor nämlich hatte in seinem Kopfe die Hoffnung
auf ewigen Ruhm aufgeleuchtet; er hatte eine verbesserte Neu?
ausgäbe des Werkes des Erzbischofs john [peckham] von canter?
BURY [gestorben 1292] über Optik und Perspektive vorbereitet
und hoffte, in diesem Buche sollten einst, mit Lettern gedruckt,
die Verse stehen:
»Stolz nennt diesen das Haus der Cardani sein eigen. Es wußte
Alles der Eine. Nicht kennt seinesgleichen die Zeit.«
Diese Weissagung galt freilich mehr denen, die einst auf seine
Arbeit sich stützend Erfolge haben sollten, als ihm selbst, der
zwar die Jurisprudenz, wie ich erfuhr, ganz vorzüglich beherrschte,
in der Mathematik aber nicht über die Anfänge hinauskam,
nichts Neues darin erdacht, auch nichts aus dem Griechischen
übersetzt hat. Daran war freilich mehr der stete Wechsel in seinen
wissenschaftlichen Arbeiten und die Unbeständigkeit seiner Pläne
schuld, als daß er von der Natur mit Gaben kärglich ausgestattet,
träge oder von geringer Urteilskraft gewesen wäre, Mängel, von
denen er durchaus frei war.
In mir aber waren damals mein Wunsch und mein Vorsatz uner*
schütterlich fest gewurzelt, vielerlei Gründe sprachen dafür, auch
sah ich wohl, daß auch mein Vater durchaus nicht ohne Schwierig?
keiten und Hindernisse seinen Weg gemacht hatte. Deshalb und
auch aus anderen Gründen blieb ich seinen Mahnungen gegen?
über unbewegt.
Elftes Kapitel
LEBENSKLUGHEIT
Bisweilen ist es besser, auf seinem Vorsatz zu beharren, auch
wenn er nicht gerade sehr gut gewählt wäre, als den aller?
besten Vorsatz zu fassen und ihn dann wieder zu ändern, und
sollte auch nichts anderes daran schuld sein als lebhaft tätiger
Eifer oder die allgemeine Unbeständigkeit, Wandelbarkeit und
Nutzlosigkeit menschlichen Tuns.
32
Ich persönlich habe — um zugleich von mir selbst und von der
Lebensklugheit im allgemeinen zu sprechen, — nachdem ich mir
über diese sehr schwierige Sache genau Rechenschaft gegeben,
eingesehen, daß es nicht nur um manches andere, sondern auch
um diese Tugend eine sehr leichte Sache ist. Fürs erste deshalb,
weil ja die Dinge so mannigfach in ihrem Endzweck sind und
jeder wählen kann, was ihm am meisten zusagt, und weil es dann
ferner im einzelnen so viele Arten und Möglichkeiten, Gegen;:
stände und Gelegenheiten gibt, daß es gewiß niemand wagen darf,
mir mit einigem Recht Unklugheit vorzuwerfen, außer er wollte
behaupten, meine Pläne und meine Verhältnisse besser durch=
schauen zu können, als ich selbst, was doch sicher nicht der Fall
sein kann. Sind wir uns aber über unsere Ziele klar, so handelt
es sich für uns nur noch darum, zu erkennen, welcher Weg zum
Ziele der bessere und ob ihn zu gehen erlaubt ist, was freilich
meiner Ansicht nach das Wichtigste ist. Dann, welcher Weg der
bequemere; des weiteren, wie das Erreichte festzuhalten ; endlich,
wie das Erreichte zu nutzen ist.
Von Anfang an habe ich bewiesen, wie wenig ich von dem besitze,
was der Grieche evßovXia oder (pQovrioiQ nennt. Und wenn auch
diese Worte nur soviel bedeuten als Klugheit an sich, so ist es
doch dasselbe, als sagten wir »menschliche Klugheit«; denn von
allen Dingen, die wir kennen, besitzt doch keines Klugheit als
allein der Mensch, auch keines der übrigen Lebewesen. Die Himms
lischen nämlich besitzen etwas weit Besseres, das unmittelbare
Schauen. Von den harpokratischen [hellsehenden] Naturen aber,
die eine Gattung für sich sind, ist hier nicht die Rede.
So ist es mit dem Begriff der Lebensklugheit eine unklare Sache.
Im einzelnen urteilt jeder anders, weil eben alle an die Dinge den
Maßstab ihres eigenen Geistes anlegen. Ich für meinen Teil aber
sehe sehr wohl ein, daß ich von jener Gewandtheit und sicheren
Klugheit wenig besitze und wenig besessen habe. Daran ändert
auch das wenig, was ich oben ausgeführt habe.
3 Cardano
33
Zwölftes Kapitel
MEINE FREUDE AM DISPUTIEREN
UND DOZIEREN
Um so größeren Eifer und Erfolg hatte ich auf diesem Gebiete.
Zu Bologna dozierte ich fast immer auswendig. Weshalb
auch die Gelehrten, die mit mir hätten disputieren sollen, nicht
wagten, mir gegenüberzutreten. Ich erinnere an jene dreitägige
Disputation, die zu Pavia zwischen mir und [andrea] camuzio
angesagt und beim Senat der Akademie angemeldet worden war:
schon am ersten Tage nach meiner ersten Ausführung schwieg mein
Gegner. Dies bezeugten auch alle meine Widersacher, die damals
anwesend waren. Wird davon auch einmal, mit eingemeißelten
Lettern, auf den Denkmälern des camuzio zu lesen sein? So sehr
war die Sache damals allen Leuten bekannt, daß man schon gar
nicht mehr vom Gegenstand meiner Ausführung sprach, sondern
nur noch von meiner Redegewalt, die unwiderstehlich schien.
Und heute noch, glaube ich, mag die Erinnerung daran lebendig
sein. BRANDA PORRO, mein Lehrer, schrieb meinen Sieg meinem
Können und meiner größeren Begabung zu, meine W^idersacher
dem Teufel, andere — und diese Vermutung wird der Wahrheit
näher kommen — einem besseren und wirksameren Grunde. Ich
habe nämlich weder in Mailand, noch in Pavia oder in Bologna, auch
nicht in Frankreich oder Deutschland in den letzten 23 Jahren
jemanden gefunden, der sich mit mir in eine Auseinandersetzung
oder in eine Disputation eingelassen hätte. Ich will damit nicht
prahlen; ich glaube vielmehr, wenn ich ein Stein wäre, so wäre
die Sache nicht anders. Denn es ist dies kein Verdienst meiner
Veranlagung und meines glänzenden Geistes, sondern nur eine
Folge der Unklarheit und Unwissenheit jener Leute, die sich mit
mir messen wollten. Wenn der Tintenfisch den Delphin angreift
und zu fliehen zwingt, so braucht das keine Heldentat des Tinten*
fisches zu sein. Solche Dinge sind uns vom Schicksal in die Wiege
gelegt.
Als ANGELO CANDiANO sich einmal vor vielen Fachleuten über
einen Gegenstand geäußert und ich mich bereit erklärt hatte, ihm zu
erwidern, schämte er sich nicht, zu versichern : »Ich habe von vorn*
34
herein erklärt, mich über diese Sache äußern, nicht aber mit Euch
mich auseinandersetzen zu wollen.« Und das war ein ganz vor*
trefflicher Arzt, der in Mailand bei unserem Fürsten [dem Herzog
FRANCESCO SFORZA II.] Und bei der Königin von Ungarn und Re?
gentin der Niederlande die größte Rolle spielte, ein Mann von
allerhöchstem Ansehen und, wenn dies etwas zur Sache tut, von
großem Reichtum. Und wenn ich dann in solchen Fällen auf
meine ehrliche Schlichtheit und auf meine mangelnden Kennt^
nisse hinwies, sagten viele: In diesem einen Funkte wissen wir,
daß du lügst und daß du die größten Kenntnisse besitzest; den
anderen Punkt betreffend aber sind wir uns nicht klar, weil wir
nicht sehen, wo hinaus das mit deiner Schlichtheit will, vor allem
bei einem Mann, der, wie du, so oft erklärt hat, nie zu lügen.
Und was deine unnachahmliche Art zu dozieren betrifft, so hat
längst jedes Urteil, das im Positiv steht, wie die Grammatiker
sagen, aufgehört uns wunderzunehmen, da uns ja selbst ein im
Superlativ gesetztes Lob vertraut geworden ist. Zwar hat niemand
das Verlangen geäußert, ein Probe davon zu hören; aber wenn
auch eine dunkle Wolke sie verhängt, so hört die Sonne doch
nicht auf zu sein. Und du brauchst dich auch nicht darob zu
grämen, daß du soviele herrliche Lichter im stillen Schlafzimmer
hast, die niemand von denen sehen will, die draußen sind. Denn
es steht nicht zu fürchten, daß eine so göttliche Sache zugrunde
gehe. Die Afrikaner von Phloria beten die aufgehende Sonne an, die
von Garama verfluchen sie [?]. Über allem thront nicht nur die gött#
liehe Vorsehung, sondern strahltauch die ewige Herrlichkeit. —
Von der Gabe des freien Vortrags habe ich nicht nur selbst immer
rühmlichen Gebrauch gemacht, sondern habe auch andere darin
unterrichtet. Wenn ich also auch hierin als so bedeutend erscheinen
konnte, so besaß ich doch keinerlei gefälligen Ton in der Sprech?
weise, noch auch irgendwelche eigentliche Fertigkeit im Vortrag
selbst; hatte ich einmal auf der einen Seite ein Mehr, so durfte
man glauben, daß mir dafür ebensoviel auf der anderen Seite ent#
zogen worden sei. Im Disputieren freilich war ich von solcher
Gewandtheit und Schärfe, daß alle mich bewunderten und jeder
einer Probe aus dem Wege ging. Weshalb ich auch lange Zeit
ohne solche Plackerei leben durfte. Nur zwei Fälle mußten meine
3»
35
Gegner wider alle Hoffnung erleben. Das eine Mal war es in
Pavia, BRANDA PORRO, der einst mein Lehrer in der Philosophie
gewesen war, hatte sich in die öffentliche Disputation eingemischt,
die ich mit camuzio über ein Thema aus der Philosophie hatte.
Meine Gegner lockten mich nämlich häufig auf philosophischen
Boden, weil sie auf dem Gebiet der Medizin keine Hoffnung
hatten, Lorbeeren gegen mich zu sammeln, branda führte damals
eine Stelle aus Aristoteles an, und als er den Text zitiert hatte,
sagte ich: »Gib acht, nach dem Wort »weiß« fehlt ein »nicht«;
inWahrheit spricht der ganze Satz gegen dich.« Darauf rief branda,
das könne nicht sein. Ich hatte wie gewöhnlich einen Schnupfen,
schneuzte mich und widersprach in aller Ruhe, bis branda wütend
nach dem Kodex schickte. Ich verlange ihn, er läßt ihn mir geben,
und ich lese den Text, wie er dasteht, branda glaubt, ich wolle
ihn hintergehen, reißt mir das Buch aus den Händen, schreit, ich
wolle die Zuhörer täuschen und fängt selbst zu lesen an. Er kommt
zu dem betreffenden Wort, liest es, schweigt, alles ist überrascht,
und aller Anwesenden Augen sind bewundernd auf mich ge?
richtet. Ein Zufall wollte es, daß branda ein paar Tage darauf
nach Mailand ging; dem Senat der dortigen Akademie war die
Sache schon geschrieben worden, und einige fragten ihn nun, ob
es wirklich wahr sei. branda, ein ehrlicher und wackerer Mann,
hat gewiß geantwortet: »Nur zu wahr; ich glaube, daß ich damals
betrunken war.« Und die Herren vom Senat verzogen den Mund
und schwiegen.
Der andere Fall spielte zu Bologna mit andrea fracanzano, dem
dortigen ersten Professor der praktischen Medizin. Als dieser in
seinen Ausführungen auf den Weg zu sprechen kam, den die
Galle zum Magen nimmt, zitierte er vor der ganzen Akademie —
man hatte gerade eine anatomische Vorführung — eine griechische
Stelle. Ich sagte: »Ihr laßt ein ov aus.« Worauf er, das sei nicht
wahr. Ich, in aller Ruhe, beharre darauf, und einige Schüler rufen,
man solle das Buch holen. Er schickt lächelnd darnach, es wird
sofort gebracht, er liest, findet, daß ich bis aufs Haar recht hatte,
er schweigt, staunt, sieht mich bewundernd an. Noch mehr frei*
lieh taten dies die Schüler, die mich damals zu diesem Zweck mit
Gewalt in den Hörsaal geschleppt hatten, fracanzano aber floh
36
von diesem Tag an jedes Zusammentreffen mit mir, so zwar, daß
er den Diener bat, ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn ich
käme. Und dann bog er aus, um mir ja nie zu begegnen. Und als
ihn die Studenten einmal mit List in den gefüllten Hörsaal der
Anatomie führten, machte er rasch kehrt, verwickelte sich in
seinen Mantel und fiel zu Boden, worauf alle Anwesenden stau*
nend den Kopf schüttelten. Er selbst aber zog bald darauf von
Bologna fort, obwohl er noch für mehrere Jahre dort angestellt war.
Dreizehntes Kapitel
MEIN CHARAKTER, GEISTIGE MANGEL
UND SCHWÄCHEN
Ist es schon an sich schwer, über dieses Thema zu schreiben, so
noch viel mehr, wenn man bedenkt, daß die Menschen, die
sonst wohl Selbstbiographien zu lesen pflegen, nicht gewohnt
sind, darin eine ehrliche, aufrichtige Schilderung zu hören, wie ich
sie hier geben will. Die einen, wie etwa antoninus, äußern sich
darüber, wie sie hätten sein sollen; andere, wie flavius josephus
berichten alles wahrheitsgetreu bis auf ihre eigenen Fehler, die sie
unterschlagen. Wir aber wollen in dieser Sache der Wahrheit völlig
zu Willen sein, obschon wir wohl wissen, daß, wer in sittlichen
Dingen sich verfehlt, nicht, wie bei anderen Fehlern, Entschul*
digung findet. Wer aber konnte mich zu dieser Aufrichtigkeit
zwingen? Bin ich also nicht der eine von den zehn geheilten Aus*
sätzigen, der dankbar zum Herrn zurückkehrte?
Ärzte undAstrologen sehen die natürlichenCharaktereigenschaften
in den angeborenen Grundformen der Veranlagung begründet, die
Formen der Charakterbildung dagegen von Erziehung, geistiger
Beschäftigung und gesellschaftlichemVerkehr beeinflußt. Alles dies
trifft nun zwar bei allen Menschen zu, doch weisen die einzelnen
Altersstufen spezifische Unterschiede auf, und aus den gleichen
äußeren Anlässen entstehen oft die allerverschiedensten Folgen.
Weshalb in diesen Dingen Scheidung und Auswahl nötig ist. Ich
will nun also vor allem von diesen wesentlichen Charaktereigen:=
Schäften sprechen, soweit eben jenes griechische yvibOi oeaviov von
37
mir gilt. Über meinen natürlichen Charakter bin ich mir durchaus
klar geworden: ich bin heftig von Temperament, naiv, der Sinn*
lichkeit ergeben. Und aus diesen Eigenschaften, gleichwie aus
Prämissen, folgen die weiteren: Grausamkeit, hartnäckige Streit*
sucht, eine gewisse Rauhheit des Charakters, Unvorsichtigkeit,
Jähzorn und eine Rachgier, die das Maß meiner Kräfte und Mittel
weit übersteigt, jedenfalls aber ein stets zur Vergeltung geneigter
Wille, der dem alten Worte huldigte, das so viele — mit dem Munde
wenigstens — verdammen :
»Süßeres Gut noch als selbst mein Leben dünkt mir die Rache.«
Im allgemeinen habe ich nie gewollt, daß der berühmte Satz an
mir seine Gültigkeit verliere: »Unsere Natur ist geneigt zum
Bösen.« Doch bin ich ein wahrheitsliebender Mensch, treu dank*
bar für empfangene Wohltaten, voll Gerechtigkeitsgefühl, an*
hänglich an die Meinigen, ein Verächter des Geldes, beseelt
von dem Wunsche eines ruhmvollen Fortlebens in der Nachwelt.
Stets gewohnt, Dinge von mittelmäßigem, geschweige denn von
geringem Werte zu mißachten, pflege ich doch keinerlei Gelegen*
heit, die sich mir bietet, geringschätzig zu übersehen, wohl wissend,
von welch großer Bedeutung oft die kleinsten Dinge sind. Zwar
bin ich von Natur zu jedem Laster und zu jedem Bösen geneigt,
doch frei von jedem Streben nach äußeren Ehren und kenne meine
eigene Unfähigkeit mehr als irgend ein anderer. Auch übersehe
ich oft mit Absicht Gelegenheiten, die sich mir zur Befriedigung
meiner Rache bieten mögen, aus einer gewissen religiösen Empfin*
düng heraus und weil ich sehr wohl einsehe, wie lächerlich all
diese Dinge sind.
Ich bin von Natur furchtsam, habe ein kaltes Herz, aber einen
heißen Kopf, bin ständig in Gedanken versunken und mit vielen
und sehr großen, oft auch ganz unmöglichen und undurchführ*
baren Dingen beschäftigt. Auch ist mein Geist imstande, sich mit
zwei verschiedenen Arbeiten zugleich zu befassen.
Die Leute, die mir Geschwätzigkeit und maßloses Eigenlob vor*
werfen, klagen mich eines Lasters an, das mir fremd ist. Ich greife
niemanden an, verteidige mich nur. Und muß ich mich denn solcher
Vorwürfe wegen abmühen, da ich doch oft genug versichert habe,
für wie wertlos ich dies Leben halte? Was eine Entschuldigung
38
ist, halten diese Leute für ein Selbstlob ; ein so großes Ding dünkt
es ihnen, einmal ohne Fehler zu sein.
Ich habe mich daran gewöhnt, meinen Gesichtszügen unmittelbar
nacheinander den ganz entgegengesetzten Ausdruck zu geben.
Ich vermag auf diese Weise ein fremdes Gefühl zu heucheln, doch
verstehe ich es nicht, ein Gefühl, das ich wirklich besitze, zu ver*
bergen. Dies ist nur dann leicht, wenn es sich darum handelt, den
Ausdruck der Hoffnungslosigkeit vorzutäuschen. Volle 15 Jahre
lang habe ich mir die größte Mühe gegeben, mir diese Fertigkeit
anzueignen, und es gelang. Zu diesem Zwecke gehe ich bald in
Lumpen, bald reich geschmückt, bin jetzt schweigsam, dann wieder
gesprächig, bald heiter, bald traurig; denn jede Art des Benehmens
und jeden Gefühlsausdruck gebe ich sofort auch in seinem Gegen*
spiel wieder.
In meinen jüngeren Jahren habe ich selten und nur wenig auf die
äußere Pflege meiner Person geachtet, immer gierig besorgt, Wich*
tigeres zu tun. Meine Gangart ist ungleichmäßig: bald rasch, bald
langsam. Zu Hause pflege ich die Beine bis zu den Knöcheln nackt
zu tragen. Ich bin wenig fromm und sehr vorlaut im Reden ; überaus
jähzornig, so daß ich mich darob schäme und mir vor mir selber
ekelt. Und wennschon ich stets bereut habe, so habe ich doch immer
die schwersten Strafen des Geschicks auf mich genommen, um nur
das schändlich üppige Leben eines sardanapal abzubüßen, das
ich in den Jahren meines Rektorats an der Universität zu Padua
führte. Doch um zu meiner Schande ein Lob, zu meinem Ver#
brechen eine Tugend zu gesellen, füge ich hinzu, daß ich all dies
mit Weisheit und Geduld getragen und stets mich zu bessern ge#
trachtet habe. Zur Entschuldigung dieses Selbstlobs diene mir,
daß ich mich gezwungen fühle, es auszusprechen. Ich wäre ja un?
dankbar, wollte ich die gütigen Gaben Gottes verschweigen, und
noch weniger darf ich doch von den Opfern reden, die ich ge*
bracht, ohne zu erzählen, wie ich sie gebracht habe. Auch sind ja,
wie ich schon gesagt, all diese Dinge durchaus nicht so hoch eins
zuschätzen, wie der Pöbel will; es sind wertlose und lächerliche
Kleinigkeiten, sind wie die Schatten, die die untergehende Sonne
wirft, groß, doch ohne Nutzen und von kurzer Dauer. Wenn
man dies ohne Gehässigkeit erwägen und dazu überlegen wollte,
39
warum es mir nicht erlaubt sein soll, auszuführen, mit weichet
Gesinnung, unter welchem Druck und Zwang der Verhältnisse
ich meine Fehler beging und wieviel Schmerzen mir alle diese
Dinge schon bereitet haben; wenn man weiter bedenken wollte,
daß andere Menschen, ohne dem geringsten Zwang zu unterstehen,
viel schwerere Sünden als diese begangen haben, ohne sie zu be*
kennen, weder vor sich, noch öffentlich vor anderen, daß diese
Leute ferner empfangene Wohltaten weder dankbar erwähnen,
noch auch überhaupt ihrer gedenken, so würde man mich vielü
leicht etwas billiger beurteilen.
Doch fahren wir fort. Als eine eigenartige und große Untugend
empfinde und betrachte ich es, daß ich gewohnt bin, lieber gar
nichts zu reden, als etwas, was meinen Zuhörern mißfallen könnte.
Doch beharre ich in diesem Fehler mit Wissen und Willen, denn
ich weiß sehr wohl, wie oft schon diese Sitte allein mir Feinde
versöhnt und gewonnen hat. Soviel vermag natürliche Anlage,
wenn sie mit langer Gewohnheit verbunden ist. Meinen Wohl*
tätern, auch angesehenen und mächtigen Leuten gegenüber unters
lasse ich dies. Ich will kein Speichellecker, nicht einmal ein Schmeichs
1er sein.
Auch im Handeln bin ich vorlaut und unbesonnen, wennschon
ich sehr wohl weiß, was zu tun mir nützlich und schicklich wäre.
Aber kaum wird man einen Menschen finden können, der so
hartnäckig in diesem Fehler steckt wie ich. Ich lebe auch gerne
und soviel ich kann in der Einsamkeit, obwohl mir bekannt ist,
daß ARISTOTELES diese Lebensart verurteilt. Er sagt nämlich: »Der
Einsiedler wird entweder zum Tier oder zum Gott.« Und den Be#
weis für die Wahrheit dieser Lehre habe ich selbst erbracht. Ein
ähnlicher Wahnwitz, der mir nicht minder schadet, ist es, daß ich
Diener bei mir zu behalten pflege, von denen ich ganz bestimmt
weiß, daß sie nicht bloß mir nutzlos, sondern auch m»einem guten
Namen schädlich sind — ebenso, wie ich auchTiere, die ich irgend?
einmal zum Geschenk erhalten habe, wie Ziegenböckchen, Schafe,
Hasen, Kaninchen, Störche, um mich behalte, so daß ihr Gestank
das ganze Haus verpestet.
Auch habe ich immer unter dem Mangel an Freunden, besonders
an treuen, sehr gelitten. Und viele, ja überaus viele Fehler habe
40
ich dadurch begangen, daß ich mich überall in alle Dinge, von
denen ich erfuhr, in wichtige und unwichtige, einzumischen suchte,
bald mit, bald ohne Erfolg. Ganz besonders fehlte ich darin, daß
ich Menschen beleidigte, die zu loben ich mir vorgenommen hatte;
so war es auch gegenüber dem Präsidenten [des Appellationshofs]
zu Paris, einem höchst gebildeten Manne, namens aimar de ran*
CONET, von Nation ein Franzose [gestorben 1559]. Und solche
Fehler habe ich nicht etwa bloß aus meiner vorlauten, unbedachten
Art heraus begangen oder aus einer Unkenntnis der Eigenschaften
und Verhältnisse des anderen — Mängel, die leicht auszugleichen
gewesen wären, — sondern darum, weil ich auf gewisse Formen
gesellschaftlicher Lebensart, die ich erst später erlernte, nicht
achtete, Umgangsformen, die den Menschen von Rang und BiU
düng fast durchweg geläufig sind.
Wenn es gilt zu überlegen, bin ich allzu rasch und hastig, weshalb
meine Pläne zumeist überstürzt und voreilig sind. Bei Geschäften
jeder Art dagegen dulde ich keinerlei Drängen. Nun haben meine
Gegner wohl bemerkt, daß ich dann schwer zu fassen bin, wenn
ich Zeit habe ; darum richten sie nun ihr ganzes Augenmerk darauf,
mich zu drängen. Ich ertappe sie oft bei solchem offenkundigen
Treiben und hüte mich vor ihnen wie vor schlimmen Widersachern
und betrachte sie als meine Feinde, was sie auch in Wirklichkeit
sind.
Hätte ich mich nicht daran gewöhnt, nie eine Sache zu bereuen,
die ich freiwillig unternommen habe, und hätte sie auch ein noch
so übles Ende genommen, so hätte ich wohl beständig unter der
unglücklichsten Stimmung zu leiden gehabt. Das meiste Unglück,
das mich getrofifen, hat jedoch die ungeheure Torheit meiner
Söhne verschuldet, verbunden mit dem schändlichen Benehmen
und der beschränkten Gesinnung meiner Verwandten, die stets
gewohnt sind, die Ihrigen mit Neid und Schelsucht zu betrachten
— ein spezifisches Laster unserer Familie, das freilich fast allen
Kleinstädtern anhaftet.
Von früher Jugend an bin ich ein über alle Maßen leidenschaft*
lieber Schachspieler gewesen. Ich habe auf dieseWeise die Bekannt*
Schaft des Herzogs francesco Sforza ii. von Mailand gemacht und
mir außerdem die Freundschaft vieler vornehmer Herren erworben.
41
Da ich mich aber viele Jahre, fast 40, beständig diesem Spiele
widmete, ist kaum zu sagen, wie viel an Vermögen, ohne jeden
greifbaren Nutzen, ich durch diese Leidenschaft vergeudet habe.
Noch schädlicher freilich ist mir das Würfelspiel geworden; denn
ich habe darin auch meine Kinder unterrichtet, und nur zu oft
stand mein Haus allen Würfelspielern offen. Ich habe für dieses
Laster nur eine einzige, recht dürftige Entschuldigung: die arm*
liehen Verhältnisse, in denen ich geboren bin, verbunden mit der
nicht unbedeutenden Geschicklichkeit, die ich nun einmal für
solche Dinge habe.
Es ist dies eben eine menschhche Unsitte, Andere gibt es, die man
nicht nennen will und nicht nennen darf, und wer weiß, ob sie
besser und weiser sind? Wie, wenn einer zu den Königen der
Erde sich wenden und ihnen sagen wollte : »Ist doch keiner unter
euch, der nicht schon Läuse, Fliegen, Wanzen, Flöhe und anderen
noch häßlicheren Unrat aus der Hand seiner Diener gegessen
hat« — ?Wie werden die Herren dies hören mögen? Und doch
ist es sicher wahr. Wir wollen eben gewisse Dinge nicht wissen,
auch wenn sie uns eigentlich längst bekannt sind, und wollen sie
lieber mit Gewalt unterdrücken. Und was ist der Grund? Nichts
anders, als eine Unkenntnis unseres allgemeinen Zustandes. So
ist es auch mit unseren Sünden und allem andern; es sind eben
häßliche, lächerliche, unordenthche und unzuverlässige Dinge:
faules Fallobst am Baume. Ich habe also hier nichts Neues vor?
gebracht, nur die nackte Wahrheit gesprochen.
Vierzehntes Kapitel
MEINE GEISTIGEN VORZÜGE, STAND.
HAFTIGKEIT UND CHARAKTERFESTIGKEIT
In vielen Irrtümern sind die Menschen befangen, keiner aber ist
größer als der, wenn sie das Wort »Standhaftigkeit« schwat*
zend im Munde führen. Denn einmal muß hier wohl unterschieden
werden : die wahre Beharrlichkeit ist eine Gabe Gottes, die unechte
dagegen eine Sache der Tölpel und Narren. Jedermann wird die
Standhaftigkeit des diogenes, der den ganzen Sommer in der
42
Sonne lag und im glühend heißen Sand sich wälzte und winters
eiskalte Säulen nackt umarmte, lächerlich und völlig töricht finden.
Eine ganz herrliche Tugend aber war die Standhaftigkeit des
BRAGADiNO, jcnes Venezianischen Adligen^ der Dinge erduldete,
die selbst der roheste seiner übermütigen Besieger sich scheute
an ihm zu vollziehen, Qualen, die ihn unsterblichen Ruhmes
würdig machten: es wurde ihm lebendigen Leibes die Haut ab#
gezogen. Und wenn es auch Gnade Gottes war, daß er solche
Martern ertragen konnte, so war es doch gewiß menschliche Größe,
sie ertragen zu wollen.
Und wenn nun auch im Unglück leichter einer zu strahlender
Seelengröße sich erheben mag, so gibt es doch auch in glücklichen
Lebenslagen nicht seltener Gelegenheiten, sich echter Bewunde*
rung würdig zu erweisen. Und weiter sind auch Menschen, denen
solche Gelegenheiten fehlen, darum doch nicht als minder stand;;
haft zu betrachten. Da man sich nun auf so vielerlei Weise in bezug
auf diese Tugend irren kann, so ist jedenfalls festzuhalten, daß wir
an sich es uns weder zum Ruhm anrechnen dürfen, wenn wir ein
Übel ertragen haben, noch zum Tadel, wenn uns die Gelegenheit
dazu fehlte, daß wir nicht als unser Verdienst noch als unsere
Schande betrachten dürfen, was die Natur getan oder unterlassen
hat. Ich will mich nicht damit verteidigen, daß ich behaupte, es
habe mir in irgend einer Weise an Gelegenheiten zum Erweis
meiner Standhaftigkeit gefehlt; denn niemand, glaube ich, ist mir
so feind und beurteilt mich so ungerecht, daß er nicht eher meine
Geduld im Unglück und meine Selbstbeherrschung im Glück
bewunderte, als mir zum Vorwurfe machte, daß ich angenehme
Dinge mißachte oder unangenehme ruhig ertrage. Ich erinnere
an die Vergnügungen und heiteren Ereignisse meines Lebens, aber
auch an meine Krankheiten, an meine stets schwachen Leibes^
kräfte, an die Verleumdungen meiner Neider, an manche wenig
glücklichen Erfolge, an Prozesse, Anfeindungen, an die Drohungen
einflußreicher Leute, an die Verdächtigungen, womit einzelne
* Gemeint ist marco Antonio bragadino, der gemeinsam mit astorre baglios
Ni die venezianische Festung Famagusta auf Cypern heldenmütig gegen die
Türken verteidigte und nach der schlielMichen Übergabe der Festung
(I.August 1571) unter den grauenvollsten Martern hingerichtet wurde.
43
mich verfolgten, an das Unglück in meiner Familie, an den Mangel
so vieler irdischen Güter, endlich an die zweifelhaften Ratschläge,
die mir solche gaben, die wirklich meine Freunde waren oder mir
doch Freundschaft heuchelten, vor allem an die Gefahren, die für
mich die überall wuchernden Irrlehren mit sich brachten.
Mochte mir auch manchmal ein freundliches Geschick lächeln und
mochten mir auch noch soviele glückliche Erfolge beschieden sein,
nie habe ich meine Sitten und mein Betragen geändert; ich bin da#
durch nicht hochmütiger geworden, noch ehrgeiziger, noch auch un*
geduldiger, ich habe deswegen nicht die Armen verachtet, noch
meine alten Freunde vergessen, ich bin nicht spröder imVerkehr,
noch hochfahrender in meiner Rede geworden; ich habe auch
darum keine kostbareren Kleider getragen, außer, wenn die ge?
sellschaftliche Stellung, die ich einnahm, mich dazu zwang, und
vielleicht auch im allgemeinen, weil ich, wie ich schon erzählte,
in früheren Jahren meiner Armut wegen eben allzu schäbige
Kleidung getragen hatte. In widrigen Lebenslagen freilich erwies
sich mein Charakter als nicht ganz so fest und standhaft. Hatte
ich doch auch Dinge zu ertragen, die in keinem Verhältnis zu
meinen Kräften standen. In solchen Fällen habe ich mit äußeren
Mitteln meine Natur bezwungen. Ich habe nämlich mitten unter
den ärgsten Seelenqualen mit einer Rute meine Beine gepeitscht,
habe mich stark in den linken Arm gebissen, habe gefastet und
durch reichliche Tränen mein Herz erleichtert, wenn es mir gelang
zu weinen, was freilich nur sehr selten der Fall war. Auch habe
ich dann mit Vernunftgründen gegen meine seelischen Schmerzen
angekämpft, habe mir selbst versichert: Es ist ja gar nichts Neues
geschehen, die Zeit nur hat sich geändert, rascher freilich, als ich
dachte. Aber hätte ich denn für ewige Zeiten von dieser Stunde
und ihrer Qual verschont bleiben können? Und bin ich so imi
ein paar Jahre betrogen worden, was soll dies bißchen Zeit, vers
glichen mit der Ewigkeit? Schließlich, habe ich nur noch wenige
Jahre, so habe ich nur wenig verloren; lebe ich noch länger, nun
so lacht mir ein langes Leben, und vielleicht wird noch manches
eintreten, das meinen Schmerz lindert und mir an seiner Stelle
ewigen Ruhm schenken mag. Und endlich, stünde ich besser,
wenn dieser Schmerz mir nie geworden wäre? — In Wirklichkeit
44
freilich war ich dem Schmerz nie gewachsen, wie ich weiter unten
erzählen werde, Gottes Barmherzigkeit und ein offensichtliches
Wunder haben mich von ihm befreit.
Bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten bewies ich eine noch
größere Beharrlichkeit, vor allem bei der Abfassung meiner Bücher.
Boten sich mir auch die günstigsten Gelegenheiten anderer Art,
ich ließ doch nie von dem einmal Angefangenen ab, sondern harrte
treu bei der begonnenen Arbeit aus; bei meinem Vater nämlich
hatte ich die Beobachtung gemacht, wieviel ihm der stete Wechsel
in seinen Beschäftigungen geschadet hat. Ich glaube nicht, daß mich
jemand darum tadeln wird, daß ich damals [1562], als man mich
in die»Accademia degli Affidati« aufnahm, in der viele Fürstlich*
keiten und Kardinäle die erste Rolle spielten, nicht von vornherein
ablehnte und mich der Sache ganz entzog. Nur aus ängstlicher
Bescheidenheit nahm ich damals an; als die Akademiker aber, mit
allen Insignien bekleidet, dem König vorgestellt werden sollten,
lehnte ich für meinen Teil ab und erklärte offen, daß ein derartiger
Pomp meinem Charakter nicht entspreche.
Bezüglich der Tugend im allgemeinen habe ich nichts anderes zu
sagen, als was schon horaz gesagt hat:
»Tugend heißt das Laster fliehen«. —
Nie habe ich mit einem Freunde gebrochen, und war es dennoch
einmal wider meinen Willen zum Bruch gekommen, so habe ich
nie Geheimnisse ausgeschwatzt, die ich als Freund erfahren — wie
ich denn überhaupt mir niemals fremdes geistiges Eigentum ans
geeignet habe — und habe auch nie dem mir Verfeindeten frühere
Äußerungen vorgehalten, ein Funkt, in dem ein Aristoteles man*
ches, ein galenus, der bis zu den häßlichsten Streitereien sich hin*
reißen ließ, sehr viel gesündigt hat. Nur dem plato stehe ich in
dieser Sache nach. Ein Vorbild in dieser Tugend hatte ich an an*
DREAS VESAL, einem vornehm ruhigen Charakter, der, von matteo
cuRzio durch kleinliche Angriffe gereizt, gleichwohl dessen nie ta*
delnd erwähnen wollte. Auch habe ich, stets von reinem wissen*
schaftlichem Interesse beherrscht, den curzio seiner Gelehrsamkeit
wegen nie beneidet. Und wenn er mich auch als Dieb verschrien
hat, weil ich einmal ein Pfand von ihm zurückbehielt für eine
Geldsumme, die er mir ohne Zeugen versprochen hatte, so hat
45
er doch, als er nach Pisa übersiedelte und der Senat [der Universi*
tat von Pavia] ihn frug, ob ich wohl geeignet sei, seine Stelle ein*
zunehmen, geantwortet: »Mehr als irgend ein anderer.« Und
da der Senat wohl wußte, daß wir uns nicht versöhnt hatten, er;:
teilte er mir den Lehrauftrag, den curzio innegehabt.
Zu meinen guten Eigenschaften gehört auch zweifellos, daß ich
von frühester Jugend an niemals eine Lüge gesprochen, daß ich
Armut, Verleumdungen und soviel anderes Unglück ertragen
habe und daß man mit einigem Rechte mich niemals der Undank*
barkeit bezichtigen konnte. Doch schon zuviel des Selbstlobes!
Fünfzehntes Kapitel
VON MEINEN FREUNDEN UND GÖNNERN
Mein erster Jugendfreund war ambrogio varadeo, mein Ge#
nosse im Schachspiel und im Musizieren; Ähnlichkeit des
Charakters hatte uns zusammengeführt. In späteren Jugendjahren
war ich dann vor allem befreundet mit prospero marinoni aus
Pavia, mit dem Mailänder ottaviano scotto, der mir oft mit Dar*
lehen aus Geldverlegenheiten geholfen hat, und mit gaspare gal*
LAREATO. Während meines Aufenthaltes im Städtchen Sacco ver*
band mich eine enge Freundschaft mit giovanni maria mauro*
CENO, einem venezianischen Adligen, und mit dem Drogisten
PAOLO iLLiRico. Nach meiner Rückkehr nach Mailand gewann ich
die Freundschaft des dortigen Erzbischofs, filippo archinti, der
mich dann mit lodovico madio bekannt machte, dessen Unter*
Stützung ich bedurfte und genossen habe. Unter manchen anderen
lernte ich zu Mailand den Juwelier girolamo guerrini kennen,
von dem ich viele Geheimmittel erfuhr, über die ich später in
meinen Büchern berichtet habe, aber nicht in der Art der Plagia*
toren, die aus fremden Büchern ihre Weisheit zusammenstehlen.
Durch guerrini wurde ich auch bei dem Florentiner francesco
BELLOTi eingeführt. Des weiteren befreundete ich mich mit dem
Rechtsgelehrten francesco della croce, einem angesehenen, wak*
keren Manne, der auch in der Mathematik Bescheid wußte und
dessen Hilfe ich sehr viel verdankte, als es sich um meine Auf*
46
nähme in das Kollegium der Ärzte handelte. Durch die Vermitt*
lung des Drogisten donato lanza wurde ich mit dem Senator von
Cremona [Günstling Kaiser karls v.] francesco sfondrati be#
freundet, der später [1544] Kardinal wurde [gestorben 1550];
und durch diesen wiederum machte ich die Bekanntschaft des
GiAMBATTiSTA sPECiARio, der gleichfalls von Cremona gebürtig
und Vorstand des dortigen Kriminalgerichtshofes war, ein ge#
bildeter und überaus tüchtiger Mann, durch den ich dem Gouver*
neur von Mailand und Kommandanten der kaiserlichen Armee,
ALFONSO d'avalos, vorgestellt wurde, sfondrati war es auch, der
mir die Stelle eines Dozenten der Medizin in Pavia verschaffte.
Später schenkte mir andrea alciati seine Freundschaft, jener be*
rühmte Jurist und glänzende Redner [gestorben 1550], und nach
ihm sein Neflfe francesco alciati, der jetzt Kardinal ist [gestorben
1580]. Einige Zeit darauf lernte ich noch zwei andere Kardinäle
kennen, den giovanni morone [Bischof von Modena, berühmt
als Präsident des Konzils von Trient, gestorben 1580] und den
pietro donato cesi. Und auf dem Mäcenat dieser drei Kardinäle
ruht heute meine Lebensstellung. Ein vierter Kardinal, mit dem
ich befreundet bin, ist cristoforo madruzzo, Bischof von Trient
[gestorben 1578], der Sprößling eines hocherlauchten Fürsten?
geschlechts, der wie kein zweiter mich mit Wohltaten überhäuft
und freigebig ist gegen jedermann.
Dann stand ich — um wieder von Freunden zu sprechen, die mir
gleichgestellt waren — in herzlichem Verkehr mit panaetius bene?
vento aus Arezzo [?], dem allertrefflichsten Manne, und diese
Freundschaft, die nur auf der eigenen Kraft unserer Zuneigung
ruhte, schien mir würdiger und köstlicher als alle anderen, die für
mich mit finanziellen Vorteilen verknüpft waren. In Rom war ich
befreundet mit dem ehrwürdigen Bischof taddeo massa, einem
ebenso hochintelligenten Kopf als reinen Charakter, und schon
früher mit giovanni meone [?], einem der Räte des dom fer?
rante gonzaga, [seit 1 546, nach dem Tode des alfonso d'avalos]
Gouverneurs von Mailand und Generals der kaiserlichen Armee.
Auch mit den Kardinälen carlo borromeo [der später heilig ges
sprochene Nepot Papst pius iv., bekannt durch seine ausgedehnte
kirchliche Reformtätigkeit, gestorben 1584] und marco Antonio
47
AMULio, einem Venezianer [gestorben 1570], zwei ganz ausgezeichs
neten Männern, war ich befreundet und mit noch soviel anderen,
daß es zuviel wäre, sie alle aufzuzählen. Dem Einfluß der ange?
sehenen Kardinäle borromeo und alciati verdanke ich es auch,
daß ich, als ich nach Bologna kam, Medizin zu dozieren, die Freund*
Schaft des ganzen dortigen erlauchten Senats gewonnen habe;
denn diese edlen Herren sind ganz staunenswert gefällig und
liebenswürdig und ebenso klug als vornehm.
Von den Ärzten, die ich kannte, verband mich ein besonders
freundschaftliches Wohlwollen mit camillo montagnani und
AURELio STAGNi, beide aus Modena gebürtig, von untadelhafter
Lebensführung und nicht geringer Bildung, des weiteren mit dem
Mailänder melchiorre della valle und mit toma iseo aus Brescia ;
ich habe freilich darum auch die schwersten Feindschaften auf mich
genommen. In England lernte ich an vornehmen Männern vor allem
den Sir john cheke, den Jugendlehrer des späteren Königs edu*
ARD VI., kennen und den Franzosen Claude laval, Herrn von bois*
DAUPHIN, der damals Gesandter seines Königs am englischen Hofe
war. Von den Bürgern unserer Stadt schuldete ich nicht wenig Dank
der unvergleichlichen Tüchtigkeit des sehr intelligenten Stadt*
präfekten lodovico taverna. Von den Professoren achtete ich am
meisten den francesco vicomercato, Professor der Philosophie
in Mailand, und den Andreas vesal, die erste Autorität im Fach
der Anatomie. Zwei Freunde meines Vaters verehrte ich besonders
in meinen jungen Jahren, den Senatssekretär agostino lanizario
aus Como und den Schmied galeazzo rossi, die beide ich mehrfach
schon erwähnt habe; ebenso den francesco buonafede, Arzt zu
Padua, von dem gleichfalls an anderer Stelle die Rede war. Viele
andere sehr gebildete und mir befreundete Männer übergehe ich
hier, weil sie auch ohne mein Zutun bekannt genug geworden
sind durch ihre Gelehrsamkeit. Ich gebe nur einige Beispiele meiner
dankbaren Gesinnung, die dem Leser beweisen sollen, daß ich
keinen vergessen habe, dem ich Dank schulde, so daß ich, so viel
an mir liegt, gerne jedem dadurch, daß ich ihn hier nenne, einen
ewigen Namen schenken würde. Ich nenne also noch den guil#
LAUME CHOUL, den königlichen Statthalter in Savoyen und in der
Dauphine, der ein gelehrter Herr war, und den bonifazio rodi*
48
GiNO, bekannt als Rechtsgelehrter und zugleich als trefflicher
Astrolog, des weiteren den giorgio porro aus Rhätien, den Ge*
nuesen luca giustiniani und den berühmten Mathematiker ga:;
BRiELE ARATORE aus Caravaggio. Einen ganz außerordentlich regen
freundschaftlichen Verkehr pflog ich mit dem Mailänder Arzt
und Professor gianpietro albuzio, mit [dem Humanisten] marco
ANTONIO MAJORAGIO Und mit MARIO GESSio aus Bologna. Viel aufs
richtige Freundestreue, große Dienste und Wohltaten erwies mir
auch der kärntische Arzt lorenz zehener und der Belgier adrian.
Noch göttlicher aber war die Gunst, die mir der Fürst von
Matelica [ein Städtchen und Lehen im Kirchenstaat] schenkte;
größer ist sie, als daß ich glauben könnte, sie aus menschlichen
Gründen gewonnen zu haben. Ich will hier nicht von des Fürsten
seltenen Geistesgaben reden, die einer Königskrone würdig wären ;
von seiner allseitigen Kenntnis und Bildung, von der Liebens;;
Würdigkeit und Freundlichkeit seines Charakters, nicht von der
Größe seinesVermögens noch von seiner vornehmen Abstammung,
von seiner Weisheit, die alle menschlichen Begriffe übersteigt, oder
von seiner dankbaren Gesinnung, die nie empfangener Dienste
und früherer Beziehungen vergißt. — Was war an mir, das ihn zu
solch huldvoller Freundschaft bewegen konnte? Ich hatte ihm nie
Dienste geleistet und er konnte nichts mehr von mir erhoffen; ich
bin ein alter Mann, verachtet und gebrochen, ein unsympathischer
Mensch. Wenn es etwas sein konnte, so war es einzig und allein
der Glaube an meine Redlichkeit.
Mögen die Leser alle diese Männer — Götter sollte ich lieber
sagen — achten und schätzen, die in warmem Bildungsinteresse,
in edel einfacher Lebensauffassung und dankbaren, treuen Sin*
nes den lobwürdigen Versuchen und Unternehmungen einer auf
ewige Werte gerichteten wissenschaftlichen Arbeit so viele und
große Opfer gebracht haben, als sonst wohl ein anderer dem
Machthunger oder stolzen Hoffnungen, der alltäglichen Gewohn*
heit, dienstbeflissener Unterwürfigkeit und Schmeicheleien zu
bringen pflegt.
4 Cardano
49
Sechzehnfes Kapitel
VON MEINEN FEINDEN UND NEIDERN
Ich will in dieser Sache nicht die gleiche Methode verfolgen wie
vorhin und die Namen meiner Feinde und Neider nicht eben::
so eifrig aufzählen wie die meiner Freunde. Ich bin nämlich der Ans
sieht, daß galenus keinen kleinen Fehler gemachthat, denxHESSA*
Lus überhaupt zu nennen ; denn dadurch, daß er ihn zerpflückt und
zerreißt, unterrichtet er seine Leser erst von dessen Existenz und
zeigt, wieviel Achtung er selbst ihm schenkte. Wenn es nicht ges
rade feige ist, ist es immer besser, sich dem Gegner, von dem
man Unbill erlitten, zu versöhnen oder jedenfalls sich nicht zu
rächen; tut man dies doch, so soll man es lieber mit Taten, nicht
mit bloßen Worten tun. Ich habe gelernt, meine Gegner nicht bloß
zu verachten, sondern sie in ihrer Erbärmlichkeit zu bemitleiden.
Feinde, die uns im Geheimen angreifen, beweisen schon dadurch,
daß sie nur zu bedauern sind ; nur solche, die uns offen angreifen,
sind darum anzuklagen, vorausgesetzt, daß sie auf gleicher Stufe
mit uns stehen.
Siehzehnfes Kapifel
VERLEUMDUNGEN, FALSCHE ANKLAGEN, HEIM*
TÜCKISCHE ANSCHLÄGE, MIT DENEN MICH
DENUNZIANTEN VERFOLGTEN
Es gibt zwei Arten von verleumderischen Anschlägen : die einen
richten sich gegen unseren guten Ruf und unsere Ehre, und
von solchen will ich hier erzählen ; von den andern wird später die
Rede sein. Wenn ich mich nun hier entschlossen habe, von der*
artigen Anschlägen, vor allem von geheimen, hinterlistigen zu
sprechen, so darf ich gleich hinzufügen, daß es sich dabei nur um
Kleinigkeiten handelt ; denn größere, wichtigere Dinge lassen sich
nur schwer verheimlichen, und was in der Öffentlichkeit geschieht,
ist eben nicht so heimlich*hinterlistig. Auf solche Kleinigkeiten
nun aber seine angestrengte Aufmersamkeit zu richten, wäre eine
zu alberne Sache. Darum will ich mich hier mit der Erzählung
von vier Fällen begnügen.
50
Der erste Fall spielte sich ab, als es sich für mich darum handelte,
nach Bologna berufen zu werden. Damals schickten meine dortigen
Feinde irgend einen Beamten nach Pavia, Erkundigungen über
mich einzuziehen ; der sah weder mein Auditorium, noch befrug
er meine Schüler, sondern schrieb glattweg, nachdem er zuvor
einige ganz wunderbare Dinge von einem andern Herrn erzählt
— wahrscheinlich, weil er glaubte, daß der ja doch nicht berufen
würde — ich weiß nicht, wie er dazu kam, folgenden Satz oder
besser Urteilsspruch über mich nach Bologna zurück : »Was den
GiROLAMO CARDANO betrifft, SO habe ich in Erfahrung gebracht,
daß er ohne Schüler vor leeren Bänken unterrichtet. Er ist ein
übelgesitteter Mensch, jedermann verhaßt und nicht frei von
Dummheit, hat ein völlig ungebildetes Auftreten, versteht auch
von der medizinischen Wissenschaft recht wenig, sondern schwätzt
hierin einigen fremden Meinungen nach ; in seiner Heimat hat ihn
darum auch niemand als Arzt angenommen, und so übt er keiner;;
lei ärztliche Praxis aus.« Der Abgesandte selber verlas dies Schrift*
stück im Senat von Bologna in Gegenwart des hocherlauchten
BORROMEO, des päpstlichen Legaten in dieser Stadt, und man war
schon entschlossen, meine Berufung fallen zu lassen. Als er aber
zu der Stelle kam, wo es hieß, ich übte keinerlei ärztliche Praxis
aus, rief einer der Anwesenden: »Ei, ei! Ich weiß, daß das Gegen*
teil wahr ist! Ich habe die angesehensten Herren kennen gelernt,
die ihn konsultierten, und habe selbst, obschon ich nicht zu den
angesehensten Herren gehöre, mich von ihm kurieren lassen.«
Und dann ergriff der Legat das Wort und sagte : »Auch ich kann
bezeugen, daß er meine Mutter, die schon von allen andern Ärz*
ten aufgegeben war, geheilt hat.« Worauf ein anderer hinzufügte:
»In der Tat, dann wird wohl alles andere in diesem Bericht genau
so wahr sein wie dies!« Dem stimmte der Legat bei, und der Ab*
gesandte wurde still und schamrot. Daraufhin faßte dann der
Senat folgenden Beschluß : »cardano soll zunächst das Lehramt
nur für ein Jahr, vom Tage des Beschlusses ab gerechnet, erhalten.
Erweist er sich so, wie er im Bericht geschildert ist, oder auch sonst
wenig nützlich und brauchbar für die Akademie und die Stadt, so
mag er sich anderswo eine Stellung suchen; verhält sich dagegen
die Sache anders, so können wir dann immer noch den Kontrakt ver*
4* 51
längern und auch über die strittige Frage des Gehaltes festen Be#
Schluß fassen.« Dem stimmte der Legat bei, und so wurde auch
beschlossen.
Damit waren nun aber meine Gegner nicht zufrieden; sie setzten
es durch, daß der Senat bald darauf einen weiteren Boten an mich ab::
sandte, der zu den Bedingungen, auf die wiruns schon geeinigt hat?
ten, andere beizufügen hatte. Ichlehntejedochdie Annahme seiner
Angebote ab; mein Gehalt war darin niedriger als zuvor anges
setzt, kein bestimmter Ort für meine Vorlesungen war in Aussicht
genommen, kein Heller Beitrag für meine Umzugskosten bewilligt.
Da ich also glatt ablehnte, mußte der Bote wieder nach Bologna
zurückkehren und dann ein zweitesmal wiederkommen, diesmal
mit den schon verabredeten Bedingungen. — Obwohl derlei Treis
bereien offensichtlich allen Beteiligten überaus schaden, so koms
men sie doch immer wieder vor, infolge eines ganz verkehrten
menschlichen Vorurteils. Alles nämlich, was wir Menschen tun,
richtet sich nur nach schnell vergänglichen Zwecken, geschweige
denn, daß es sich einmal um ewige Gedanken handelte. Darum
ist es dem Weisen genug, auf diese Zwecke sein Augenmerk zu
richten und sich nur um sie zu kümmern. Um die Wahl seiner Mittel
macht er sich keine, auch nicht die allerleisesten Sorgen; jeder*
mann steht es ja frei, die Augen offen zu halten und auf alles zu
achten. Er glaubt vielmehr, die Mittel durchaus als nebensächlich
betrachten zu dürfen, weil sie ja, verglichen mit dem Zweck, um
kein Haar wichtiger sind als die Nüsse, womit Kinder spielen.
Wäre also der nicht ein vollendeter Narr, der sich über die Mittel
und ihre Folgen und ihren Charakter Gedanken machte, wenn es
sich darum handelt, mit einiger Geschicklichkeit sich den Lorbeer
oder ein Amt oder eine Herrschaft zu erwerben, die ihm der Zu#
fall in den Weg treibt? —
Als ich dann meine Vorlesungen begann, suchten sie mir auf fol?
gende hinterlistige Weise den Hörsaal zu entziehen: sie setzten
meine Vorlesungen ganz nahe der Essenszeit an und gaben über?
dies den Saal für die nämliche Stunde oder doch kurz zuvor
einem andern Dozenten. Ich machte nun diesem drei Vorschläge:
entweder solle er seine Vorlesungen früher beginnen, jedenfalls
aber zeitiger schließen, oder aber sich einen andern Hörsaal
52
aussuchen, so daß ich in dem mir angewiesenen unbehindert lesen
könne, oder endlich er möge in dem besagten Hörsaal lesen, wor#
auf ich mir dann einen andern aussuchen würde. Als ich sah,
daß er alle drei Vorschläge ablehnte, verlangte ich und setzte es
auch tatsächlich durch, daß eine neue Anordnung getroffen und
ihm irgend ein anderer Hörsaal angewiesen wurde. Darob nun
großes Geschrei und Jammern. Aber inzwischen trat jener vierte
Fall ein, wovon ich gleich reden werde, und hat es schließlich da*
hin gebracht, daß einerseits ich mit heiler Haut aus so vielen An*
feindungen und Komplotten entrann und andererseits meine
Feinde davon verschont blieben, mich mein Lehramt ausüben
sehen zu müssen.
Schießlich, als die Vertragsfrist zu Ende ging, verbreiteten sie das
Gerücht, vor allem in den Ohren des Kardinals morone, ich do#
zierte vor einem verschwindend kleinen Hörerkreis. Dies war
nun durch und durch unwahr; ich hatte vielmehr von Anfang
des Schuljahres bis in die Fastenzeit hinein eine sehr große Ans
zahl Hörer, trotz allen Verleumdungen und Intriguen meiner
zahllosen Feinde. Aber schließlich wich dennoch die Tüchtigkeit,
wie man zu sagen pflegt, der brutalen Gewalt. Sie hatten dem
Kardinal eingeredet, scheinbar ganz im Interesse meiner Ehre,
es sei notwendig, daß ich freiwillig auf mein Amt verzichte, und
erreichten es wirklich, daß er entsprechende Schritte tat. So ent?
schied sich die Sache, meinen Gegnern, die diesen Ausgang so
sehnlichst herbeigewünscht hatten, mehr zu Gefallen als zu gutem
Nutzen.
Ich will nicht weiter von dem reden, was ich sonst noch unter
Verleumdungen und Ehrabschneidungen zu leiden hatte. Sie
waren alle so übertrieben stark, so unermüdlich wiederkehrend, so
töricht und so durchaus absurd, daß sie ihr Ziel, mich auf die
Angeklagtenbank zu bringen, nicht erreichten, sondern nur die er=:
wünschten Stänkereien zur Folge hatten. Offensichtlich haben
meine Feinde damit auch mehr ihr eigenes Gewissen geplagt, als
mir geschadet. Denn während sie mit vieler List mich von den
allzugroßen Mühen des Lehrberufs befreiten, wuchs mir die Ar?
beitslust und mehrte sich mein Wissen von vielen verborgenen
Dingen; ich gewann durch ihr Treiben nur noch mehr freie Zeit
53
zur Abfassung meiner Bücher, sorgte damit noch wirksamer
für die Verbreitung meines Namens und verlängerte mein Leben.
Deshalb pflege ich zu sagen und jedermann zu versichern, daß
ich meine Feinde nicht hasse, wie auch keiner Strafe für würdig
erachte, weil sie mir geschadet hätten; sie wollten mir ja nur scha*
den. Von jenen weit böseren Angrififen, die sie damals auf mich
richteten, als ich in Bologna angestellt wurde, soll weiter unten,
im dreißigsten Kapitel die Rede sein.
Achtzehntes Kapitel
LIEBHABEREIEN
Ich habe Freude an feinen stilettartigen Schreibgriffeln, für die
ich schon mehr als 20 Golddukaten ausgegeben habe. Große
Geldsummen verwendete ich auch auf den Kauf verschiedener
Arten von Federn; ich glaube sagen zu dürfen, daß mich mein
ganzes Schreibzeug mehr als 200 Dukaten gekostet hat. Auch für
Edelsteine habe ich eine große Leidenschaft, ferner für kleine
Vasen, für Körbchen aus Bronze oder Silber, auch für kleine be#
malte Glaskugeln [den Erd* oder Himmelsglobus darstellend?]
und seltene Bücher. Das Schwimmen hat mir nur wenig, das
Fischen sehr viel Freude gemacht, und ich habe, als ich zu Favia
wohnte, dieser Beschäftigung mich mit Eifer hingegeben und
wollte, ich wäre nie davon abgekommen. Sehr gern lese ich Ge*
Schichtswerke, von den Philosophen am liebsten Aristoteles und
PLOTiN, abenteuerliche mystische Abhandlungen, auch medizi*
nische Bücher. Die liebsten italienischen Dichter sind mir pe#
TRARCA und LuiGi PULCi. Einsamkeit ist mir lieber als der Um#
gang mit Freunden, denn ich habe deren nur ganz wenige
ehrliche, gar keine gelehrten. Ich sage dies nicht etwa deshalb,
weil ich von jedem Gelehrsamkeit verlangte — die ist ja doch
immer und überall eine kleine, — aber wer will uns zwingen,
unsere kostbare Zeit zu vergeuden? Das ist es, was ich verab#
scheue.
54
Neunzehntes Kapitel
SPIEL UND WÜRFELSPIEL
Vielleicht verdiene ich in keiner Beziehung Lob, am aller:*
wenigsten aber darob, daß ich dem Schach* und Würfelspiel
frönte; ich tat dies so über die Maßen leidenschaftlich, daß ich
mir vielmehr bewußt bin, Tadel zu verdienen. Beide Spiele habe
ich während vieler Jahre getrieben, das Schachspiel mehr als 40,
das Würfelspiel etwa 25 Jahre lang und zwar während dieser Zeit
— zu meiner Schande sei es gesagt — Tag für Tag. Ich habe auf
diese Weise gleichermaßen an Achtung wie an Vermögen und Zeit
Einbuße erlitten. Und ich habe nicht das leiseste Recht, mich zu
entschuldigen, es sei denn, daß einer mich damit verteidigen wollte,
daß er sagte, ich hätte nicht das Spiel geliebt, sondern die bitteren
Umstände gehaßt, die mich zum Spiel getrieben haben : erlittenes
Unrecht, Verleumdungen, Armut, die Unverschämtheit gewisser
Leute, die beständige Unklarheit meiner beruflichen Stellung, das
Mißachtetsein, meine dauernde Kränklichkeit und die Folge aller
dieser üblen Umstände, die unwürdige und unfreiwillige Beschäf*
tigungslosigkeit. Daß diese Erklärung berechtigt ist, das beweist
der Umstand, daß ich tatsächlich das Spielen aufgegeben habe,
sobald ich eine standesgemäße berufliche Stellung gefunden hatte.
Ich habe also nicht aus Spielwut oder Vergnügungssucht gespielt,
sondern aus Mißmut und um meine üble Lage zu vergessen. —
In meinem Buch über das Schachspiel ^ habe ich viele wichtige
Erfindungen und Beobachtungen aus diesem Gebiete nieder*
geschrieben. Manches davon ging freilich unter der Beschäftigung
mit anderen Dingen wieder verloren. Acht oder zehn Punkte
waren es vor allem, die ich nie wieder finden noch auch rekon*
struieren konnte und die von ganz unglaublicher Stärke der Er*
findung waren und allen menschlichen Scharfsinn zu übersteigen
schienen. Ich erwähne dies hier deshalb, weil ich hoffe, daß bald
' In seinem zu Mailand am 19. September 1543 niedergeschriebenen „Ephe*
merus seu libellus de libris propriis" erwähnt cardano ein in 4 Teilen ab^
gefaßtes Buch über das Schachspiel, das er im Alter von 23 Jahren in italie«
nischer Sprache geschrieben habe. Das Werk ist verloren gegangen ; ein«
zelne Partien mögen in den uns erhaltenen „liber de ludo aleae" über*
gegangen sein.
55
ein neugieriger Leser daraufstoßen und dem Werkchen die Krone,
das heißt den Schlußschnörkel aufsetzen möge.
Zwanzigstes Kapitel
KLEIDUNG
Was ich in diesem Punkt über mich zu sagen habe, das deckt
sich ganz mit dem, was horaz [Sat. I, 3] von seinem Ti:ä
GELLius sagt; ja ich möchte fast sagen, horaz habe mich selbst mit
dieser Person gemeint:
»Nichts von Gleichmaß war an dem Mann. Bald rannt' er, als folgt' ihm
Hart auf den Fersen der Feind, bald ging er behutsam und würdig,
Gleich als trüg' er ein Heiligtum. Heut' hat er zweihundert.
Morgen nur zehn der Diener. Heut' spricht er prahlend von Fürsten,
Kön'gen und Herrlichkeiten und morgen heißt es: Ein Tischchen
Klein und bescheiden lieb' ich, ein Schüsselchen Salz und der Kälte
Wegen ein Kleid und wär's noch so grob.« —
Und willst du den Grund oder die Gründe hierfür wissen, so habe
ich deren zur Genüge bereit: Erstens ist der stete Wechsel in
meinen Ansichten und Sitten daran schuld, sodann der Umstand,
daß ich immer in erster Linie für meine körperliche Gesundheit
Sorge trage. Ferner zwang mich auch der häufige Orts? und Wob?
nungswechsel zu Änderungen in meiner Kleidung ; ich konnte die
Kleider weder verkaufen, des Verlustes wegen, den ich dabei er*
litten hätte, noch sie immer wieder unbenutzt für spätere Zeiten
aufbewahren. So war mir hierin die Not ein Gesetz. Ein anderer
Grund, der nicht weniger wichtig als dieser, noch auch weniger
zwingend war, lag darin, daß ich der wissenschaftlichen Arbeiten
wegen mein Hauswesen vernachlässigte; die Folge davon war
eine Vernachlässigung meiner Kleider, deren große Zahl durch
die wenig schonende Benutzung auf eine recht geringe zusammen*
schmolz. Ich bin darum mit galen durchaus einverstanden, wenn
er erklärt, der Mensch müsse mit vier Kleidern zufrieden sein,
oder auch nur mit zweien, wenn man nämlich die Unterkleider
nicht dazu zählen will. Und da man tatsächlich mit diesen Klei*
dem im einzelnen Falle dem Zweck und den Umständen ent*
sprechend wechseln kann und soll, so glaube auch ich, daß vier An*
56
züge genügen, ein solcher von etwas schwerem, einer von ganz
schwerem, einer von leichterem und endlich einer von ganz leich*
tem Stoffe. Damit kann man dann 14 Zusammenstellungen er?
zielen, wobei die eine nicht gerechnet ist, die darin besteht, daß
man alle zugleich anzieht.
Einundzwanzigstes Kapitel
MEINE NACHDENKLICHKEIT UND MEINE ART
ZU GEHEN
Der Grund meiner ungleichmäßigen Art zu gehen liegt in
meinem dauernden Versunkensein in Gedanken. Sobald
nämlich einer nicht darauf achtet, bewegen sich seine Beine ganz
von selbst; bei vielen Leuten kann man auch ein unwillkürliches
Fuchteln mit den Händen als ein Zeichen ihres unruhig beschaff
tigten Geistes beobachten. Dazu kommen dann noch der Wechsel
in der beruflichen Beschäftigung, Überraschungen, vor allem aber
auch der gesundheitliche Zustand des Körpers: befinden wir uns
wohl und sind wir jugendlich lebhaft, nicht ermüdet, sorglos und
heiter, so pflegen wir rasch zu gehen; alle anderen Zustände und
Stimmungen verlangsamen den Gang. Meine Art zu gehen paßt
wie ein Exempel zu dieser Regel: sie ist stets hastig und unregel*
mäßig, wenn ich mich im Geiste gerade mit anderen Dingen bc#
fasse als denen, die vor meinen Augen liegen. Überhaupt sind
wohl alle Bewegungen dann ungleichmäßig, wenn die harte Not*
wendigkeit drängt und ein von Natur ungestümer Geist die Zügel
führt, der alles Gute dauernd machen kann und nichts Übles er*
tragen möchte. Diese Nachdenklichkeit, von der ich sprach, be*
herrscht mich zwar ununterbrochen, richtet sich aber nicht uns
unterbrochen auf denselben Gegenstand. Nichtsdestoweniger ist
sie immer so stark, daß ich nicht essen oder sonstiger Vergnügung
mich hingeben, ja nicht einmal Schmerzen verspüren oder schlafen
kann, ohne von ihr beherrscht zu sein. Und doch weiß ich nicht,
ob es zu größerem Nutzen oder Schaden wäre, wenn sie aufhörte;
denn der einzige Vorteil wäre dann, daß ich Ruhe hätte und ein
anderes Übel käme. — Im übrigen ist mein Gang bald rasch, bald
57
langsam, bald sind Kopf und Schultern aufrecht, bald gesenkt,
eine Unregelmäßigkeit, die den Eindruck der Jugendlichkeit macht,
in Wirklichkeit freilich weit davon entfernt ist.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
RELIGION UND FRÖMMIGKEIT
Ich bin geboren in der Zeit der größten Religionswirren, hatte,
von Armut niedergedrückt, zahllose Gelegenheiten zum Ab*
fall, habe auf meinen Reisen viele Menschen kennen gelernt, die der
Religion nicht nur fremd, sondern feindselig gegenüber standen
— wenn ich mich trotz alledem nicht habe verführen lassen, so ist
dies mehr einem Wunder als meiner Weisheit, der göttlichen Hilfe
eher als meiner Stärke zuzuschreiben. War ich doch auch von früher
Jugend an zu beten gewohnt: »Herr mein Gott, in deiner grenzen*
losen Güte schenke mir ein langes Leben, Weisheit und Gesundheit
an Leib und Seele.« So ist es kein Wunder, wenn ich stets ein treuer
Anhänger meiner Religion und ein gottesfürchtiger Mann geblie*
ben bin. Auch andere Gaben sind mir zuteil geworden, wie man
meinen könnte, aber sie waren derart, daß sie offenbar eher einem
andern zu Nutz und Vorteil wurden als mir. Ich war in Wirklich*
keit ununterbrochen krank und war gelehrt, um es gerade heraus*
zusagen, mehr in solchen Dingen, die ich gar nicht studierte und
die ich auch von keinem andern gelernt habe, als in denen, deret*
wegen ich den Lehrern nachlief.
Meinen Kindern war ich eine liebe vollerVater, und ich habe damals
gegen den Tod und das Leiden meines Sohnes nach Kräften ge*
kämpft. Er sollte sterben, und wenig fehlte, so hätte er die Welt
ohne Nachkommenschaft verlassen; nun habe ich von ihm einen
Enkel, der, wenn ich mich nicht täusche, noch im Jahre seines
Todes zur Welt kam. — Doch was soll dies? Warum willst du der
Menschen Leiden und Elend dem Glück der Seligen gegenüber*
stellen? Freimütig sei es gesagt: würde er denn ewig leben, wenn
er damals nicht gestorben wäre? Was soll das also nur? Was habe
ich dabei verloren? O eitel törichtes Denken der Menschen! Straf*
lieber Wahnwitz! —
58
Ich gedenke im Gebete nicht nur der götthchen Majestät, sondern
auch der sehgsten Jungfrau Maria und des heihgen Martinus; denn
ein Traum hat mir verheißen, daß ich unter seinem Schutze einst
noch ein ruhigeres, langes Leben führen werde.
Ich habe vor Jahren einmal eine Abhandlung geschrieben, von
der ich hier einen Auszug geben will. Ich führte darin aus, daß
die Trübsal dieses Lebens in keiner Weise mit dem Glück ver*
glichen werden könne, daß wir vom anderen Leben uns erhoffen.
Wenn derartige übernatürliche Hoffnungen uns beseelen, so sind
sie freilich so stark, daß wir nicht an ihnen zweifeln können und
sie für das höchste Gut halten möchten; sobald sie uns aber ent*
schwunden sind, scheint uns der ganze Glaube wie ein Traum.
O daß es Gott gefallen hätte, diese Charybdis des Zweifels uns
zum höchsten Heile von uns zu nehmen! Viel eifriger würden die
Menschen den göttlichen Weisungen gehorchen, viel treuer der
Gebote Gottes gedenken und die Wohltat dieser Gebote viel reich*
lieber genießen, viel frömmer würden sie leben und andern zum
guten Beispiele sein! — Doch ich sehe ein, daß nur Schande und
Schmach mich für meine Mühe lohnt, den Menschen ein Gesetz
der Weisheit aufnötigen zu wollen. Frommes Mitleid mit den Lei*
den dieser Armen riß mich hin. So habe ich auch über die Un*
Sterblichkeit der Seele in der besagten Abhandlung einige Ge=
danken vorgebracht, die mit plato, Aristoteles und plotin, mit
dem gesunden Menschenverstand und der allgemeinen Lehre über*
einstimmen, die natürlichsten Gedanken, glaube ich, von all denen,
die einfache Laien darüber geäußert haben. Bei plato nämlich ist
die Tiefe der Gedanken, bei Aristoteles die scharfe logische Ein*
teilung, bei plotin die klare letzte Definition, was hervorgehoben
zu werden verdient, der Hinweis auf die Folgen aber wird vermißt
— eine Entdeckung, die freilich nicht ich gemacht habe, sondern
AVICENNA [iBN siNA, arabischer Philosoph des 11. Jahrhunderts],
dessen Ansicht in diesem Punkte, als die vernünftigste aller Philo*
sophen, ich gerne unterschreibe.
59
Dreiundzwanzigstes Kapitel
MEINE WICHTIGSTEN LEBENSREGELN
\uf keinem Gebiete glaube ich Wertvolleres geleistet zu haben,
JLjL als in der Erwerbung guter Grundsätze. Ein langes Leben
und eine Fülle trüber Erfahrungen haben mir dazu verhelfen.
Meine erste Lebensregel, die die frühen Kindergebete ablöste, so#
bald ich zum Gebrauch der Vernunft gelangte, war die feste Ge#
wohnheit, Gott für alles zu danken, was mir zustieß, für alles Gute
und Freundliche zum wenigsten. Denn Undankbarkeit für gelei#
stete Wohltaten hielt ich immer für Schmach und Schande, auch
Menschen und dem lieben Vieh gegenüber. Mißgeschicke leichte*
rer Art nahm ich auf als eine Mahnung des Himmels, achtsam zu
sein. Und wie oft habe ich dank solcher Mahnung die schwersten
Unglücksfälle zu vermeiden gewußt! Auch für jedes nur einiger*
maßen erträgliche Unglück fühlte ich mich dem Himmel zu Dank
verpflichtet, einmal weil ich glaube, daß nichts schwer und drük*
kend ist, was die Zeit wieder vergessen machen kann, und dann
weil ich überzeugt bin, daß jedes Unglück aus den Händen Gottes
kommt. Und mag mir selber auch manches als schlimm und widrig
erscheinen, so zweifle ich doch nicht, daß es in der Ordnung des
All gut und trefflich ist. Der Tod ist freilich durchaus unvermeid*
lieh, aber macht ihn nicht gehäuftes Unglück erträglicher? So sagt
auch derÄginete [paul von ägina, griechischer Arzt und Schrift*
steller des 7. nachchristlichen Jahrhunderts]: »Wer sich einen
großen Harnstein aus der Blase schneiden läßt, der leidet im Ver*
gleich mit den vorausgegangenen Schmerzen weniger als der, der
sich einen kleinen Stein herausnehmen läßt, und wird in einer große*
ren Zahl von Fällen dem Tod entgehen.« Und traf mich auch das
schwersteUnglück, so war ich doch überzeugt, daß Gott noch immer
meiner gedenke. Und von solchen Gedanken aus habe ich — mag
es auch sonderbar klingen — den Tod mit dem Tod vertrieben.
Der zweite wichtige Grundsatz war der, immer den Geist Gottes
anzurufen, aus seinen heiligen Schritten des höchsten Gottes leben*
spendende Gnade zu erflehen und zu bitten, daß er mich lehre,
nach seinem Willen zu tun. Denn er ist mein Gott. Lind siehe, wie
gut und wie heilsam war mir dies! Eine dreifache Wohltat erwuchs
60
mir daraus: stets schenkte mir Gott ein Gutes, ehe er mir ein ande?
res nahm; er schützte mich vor den drohenden Meereswogen des
Unglücks; er verheh mir ein ruhiges Leben.
Die dritte Regel war: erlitt ich Verluste, so genügte mir nicht, den
Schaden wieder gut zu machen, sondern ich suchte stets noch etwas
darüber hinaus zurückzugewinnen. Auf diese Weise kam ich
soweit — vielleicht als der einzige von allen Menschen — in der
Theorie nicht bloß, sondern auch in der Praxisjedem Verlust ohne
Haß entgegenzusehen.
Die vierte: die Zeit zu nützen, so gut es irgend ging. Ich habe
immer, beim Reiten, beim Essen, im Bett, wachend, redend, noch
über irgend etwas anderes nachgedacht, mich mit etwas anderem
nebenbei befaßt. Ich handelte nach dem bekannten Sprichwort:
»Viel Kleines gibt zusammen ein ordentlich Großes«, das heißt:
macht schließlich einen Haufen. — Ich will hier kurz eine kleine Ge*
schichte, übrigens eine wahre, erzählen : Als ich in Bologna im Palaz:=
zo Ranuzzi Wohnung nahm, gab es dort zwei Quartiere, ein etwas
dunkel bescheidenes, aber sicheres, und ein ganz glänzendes, des::
sen Decke aber baufällig war und bei jeder Bewegung einstürzen
konnte. Ich bezog diese letztere Wohnung, und tatsächlich stürzte
dieDecke ein. Es wäre zweifellos um mein Leben geschehen gewesen,
hätte ich mich darunter befunden; aber ich hatte mich kurz zuvor
— ein einziges Glück in so vielem Unglück — in Sicherheit begeben.
Die fünfte : alte Leute zu verehren und ihren Umgang zu suchen.
Die sechste: alles mit Aufmerksamkeit zu beobachten und nie zu
glauben, daß die Natur etwas von ungefähr tue. Auf diese Weise
freilich habe ich mich mehr mit Geheimnissen als mit Reichtümern
beladen.
Die siebente: das Sichere stets dem Unsichern vorzuziehen. In
diesem Punkte habe ich es so weit gebracht, daß ich überzeugt bin,
das meiste von dem, was mir in meinem Leben geglückt ist, diesem
Grundsatz zu verdanken.
Die achte Regel war die, bei keiner Sache, die mir schlecht aus*
gehen wollte, länger zu verharren. Vernünftige Erwägung brachte
mich auf diesen Gedanken. Viel mehr gab ich auch stets auf die
sichere Erfahrung als auf meine Weisheit oder auf mein bloßes
Zutrauen zu meinen Können, vor allem wenn es sich um die Hei*
61
lung von Kranken handelte. Im übrigen gebe ich mich stets mit
dem einmal Geschehenen zufrieden und mache mir über Dinge,
die hinter mir liegen, keine Gedanken, wie es die meisten zu tun
pflegen : »Wie wäre es nun, wenn ich dies so oder so gemacht hätte?«
Wem soll damit genützt sein? Ein Gewinn, der mich einen
größeren versäumen läßt, ist kein Gewinn, vor allem dann nicht,
wenn ich dadurch Zeit verliere.
Bei Behandlung von Krankheiten halte ich es stets für besser,
einen operativen EingriflF, wie etwa ein Klystier bei einer Mast*
darmfistel, eine Abzapfung von Wasser bei Wassersucht, vorzu#
nehmen, als sich auf die Wirksamkeit von Medikamenten zu ver#
lassen. Wenn du aber einmal mit der Anwendung eines etwas
starken oder auch eines ganz ordnungsmäßigen Mittels, vor allem
eines als gut erprobten, Mißerfolge haben solltest, so bleibe dar*
um um so ruhiger; denn alles, habe ich schon einmal gesagt, muß
in Ruhe und mit Maß geschehen.
Geschäfte, vollends solche schwieriger Art, übernehme ich nie —
es sei denn, daß ich sonst gerade gar nichts zu tun hätte, — nicht
nur, weil das an sich besser ist, sondern auch, weil ich stets ge#
wohnt bin, sparsam mit meiner Zeit umzugehen.
Ein freundschaftliches Verhältnis werde ich nie gewaltsam zer*
reißen, selbst wenn es ein heimtückisch erheucheltes wäre, sondern
nur langsam auflösen.
Seit ich 74 Jahre alt geworden bin, nehme ich nie mehr an einem
gemeinsamen geschäftlichen Unternehmen gewinnhalber teil ohne
zu wissen, wieviel und was für Leute daran beteiligt sind.
Meide jeden Verkehr, wo aus vertrautem Umgang Geringschät*
zung entstehen kann.
Ich habe mich stets, so gut es ging, weniger auf mein Gedächtnis
als auf Geschriebenes verlassen.
Vierundzwanzigstes Kapitel
MEINE WOHNUNGEN
A Is ganz kleines Kind wohnte ich zu Mailand zuerst bei der
XA. Porta Ticinese in der sogenannten Via Arena und wenig
62
später, als ich noch ein kleiner Knabe war, in der Via Dei Maini,
im Viertel der Burg, ganz in der Nähe, im Hause des Arztes
LAzzARO SONCINO; einige Jahre später in der Via dei Rovelli im
Hause des girolamo ermenolfo. Als Jüngling lehte ich im Palazzo
Cusani und dann bis zu meinem 19. Lebensjahre im Hause des
ALESSANDRO CARDANO.
Zu Pavia wohnte ich bei San Giovanni in Borgo, dann bei Santa
Maria ad Venerem im Hause der catanei, weiter bei San Giorgio
in Monfalcone im Borgoliate [?], später ganz nahe bei der Uni*
versität in der Nähe des Procuratore ceranova, und von da bezog
ich mein eigenes Haus, das ich mir bei der Kirche Santa Maria in
Pertica [Santa Maria di Canepanova ?] gekauft hatte.
Zu Bologna wohnte ich zuerst in der Via Gombru, dann bei der
Porta Galiera im Palazzo Ranuzzi und schließlich in dem Hause,
das ich mir selbst gekauft, bei San Giovanni in Monte.
Zu Rom wohnte ich an der Porta dei Popolo, an der Piazza San
Girolamo bei der Curia Savelli und später in der Via Giulia bei
Santa Maria di Monserrato.
Zuvor noch hatte ich in Mailand in dem Hause gewohnt, das
meine Mutter gekauft hatte, bei San Michele ad Clusiam; dann
zog ich in eine Wohnung bei der Porta Orientale und von dort
zu den Cinque strade. Schließlich kehrte ich, als das mütterliche
Haus, das eingefallen, wiederhergestellt war, nach San Michele
zurück.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
ARMUT UND UNGÜNSTIGE VERMÖGENS.
VERHÄLTNISSE
Ich bin stets arm und weder gewinnsüchtig noch auf Vermögens*
erwerb bedacht gewesen und habe mich in meinem Ehrgeiz
mit leeren Würden zufrieden gegeben; mein Haus traf Unglück
auf Unglück; fast ununterbrochen tobten Kriege in meinem Vater*
land und drückten uns unerträgliche Steuerlasten ; mein Hauswesen
war groß, ich selbst von meinen Gegnern vielfach geschädigt, von
dem Kollegium der Arzte lange Zeit abgewiesen ; dazu war ich selbst
mitunter verschwenderisch und unbedacht in meinen Ausgaben,
63
stets krank und körperlich schwach, von Diebstählen heims
gesucht; ich verschwendete Unsummen für den Ankauf von
Büchern, wechselte sehr oft die Stadt und vielleicht noch viel öfter
meine Wohnung innerhalb der einzelnen Stadt; völlig nutzlos
war mein Aufenthalt zu Gallarate, denn in den 19 Monaten, die
ich dort wohnte, habe ich nicht einmal die 25 Dukaten verdient,
die den Mietpreis meiner Wohnung ausmachten; im Würfelspiel
hatte ich Pech und mußte den Schmuck meiner Frau und meine
Hausgeräte verpfänden — so daß es bei all dem ein Wunder ist,
daß ich ohne jede Unterstützung leben konnte, noch mehr, daß
ich in meiner Armut nicht betteln mußte, und noch mehr, daß
ich bis heute nichts zugelassen noch gedacht habe, was meiner
Ahnen und meines Charakters, noch der ehrenvollen Stellung,
die ich damals schon einnahm und später noch einnehmen sollte,
unwürdig gewesen wäre. Mit Gleichmut und ruhigen Herzens
habe ich dies alles getragen, volle 15 Jahre lang, und habe wäh*
rend dieser ganzen Zeit darauf verzichtet, von einem offiziell aus*
geübten ärztlichen Beruf zu leben.
Doch, wirst du fragen, wie ging dies zu? Hast du privaten Unter*
rieht erteilt? Nein. Oder hast du vielleicht leihweise, ohne Pfand,
Geld aufgenommen? Nein. Oder hast du wohl jemanden ge*
beten, dir welches zu schenken? Nein; ich glaube nicht, daß ich
auf den Gedanken gekommen wäre und daß ich mich dessen
wohl geschämt hätte. So hast du vielleicht deine Lebensweise eins
geschränkt? Auch das nicht. Was denn sonst? Ich habe Kalens
der geschrieben und habe in den Schulen vom Katheder öffents
lieh doziert, habe auch durch einzelne Heilungen einiges zu vers
dienen gewußt; auch waren fast alle meine Hausgenossen in eins
träglichen Berufen tätig. Einige kleine Geschenke und Unters
Stützungen wurden mir auch vom Hause des archinti zuteil; ich
verkaufte meine ärztlichen Ratschläge, achtete auf zufällige Eins
nahmen und machte es wie ein Ährenleser; dazu hatte ich gar
keine Ausgaben für Kleidung. Und so ertrug ich die ungünstigen
Zeiten und lernte dadurch auch die Gaben eines freundlicheren
Geschickes besser zu genießen.
64
Sechsundzwanzigstes Kapitel
EHE UND KINDER
Ich wohnte Vorjahren froh und heiter im Städtchen Sacco, ledig
allen Übels — wie fremd und kalt klingt heute dieser Traum,
und doch stimmt er nur allzusehr zu dem, was ich erzählen will —
und lebte, ein Sterblicher, wie im seligen Hause der Unsterb*
liehen, oder, um es besser zu sagen, in sorglos schönem Dasein:
da sah ich mich eines Nachts im Traume in einem freundlichen,
überaus herrlichen Garten, der blumengeschmückt und reich be#
laden war mit Früchten aller Art, ein sanfter Wind wehte — kein
Maler, auch nicht pulci, mein Dichter, vermöchte Schöneres zu
schildern, und keine Phantasie könnte sich ersinnen, was dieser
Herrlichkeit ähnlich wäre! Ich stand am Eingang des Gartens;
die Türe, ebenso wie eine zweite auf der Seite gegenüber, stand
offen. Da sah ich ein Mädchen, in ein weißes Gewand gehüllt;
ich trete zu ihr, umarme sie, küsse sie. Doch gleich nach meinem
ersten Kusse kam der Gärtner und schloß die Türe. Inständig
bat ich ihn, er möge sie doch offen lassen; umsonst. So sah ich
mich, traurig und noch immer am Halse des Mädchens hängend,
aus dem Paradiesesgarten ausgeschlossen.
Wenige Tage darauf brach in einem Hause des Städtchens Feuer
aus. Ich wurde mitten in der Nacht aufgeweckt, eilte hinaus und
sah nun, welches Haus brannte. Es gehörte einem aldobello ban#
DARINI, der Kommandant einer venezianischen Söldnertruppe im
Bezirk von Padua war. Ich sah dem Brande untätig zu; der Mann
war mir ja kaum dem Gesichte nach bekannt, nur zufällig hatte
er ein Haus in meiner Nachbarschaft gemietet. Ich war sogar
ärgerlich darüber, denn ich hatte mir keine Nachbarschaft gerade
der Art gewünscht; doch was konnte ich machen?
Und dann wieder nach ganz wenigen Tagen sah ich unterwegs
die Tochter dieses Mannes, ein Mädchen, an Gesicht und Klei*
düng auf ein Haar dem ähnlich, das ich in jener Nacht im Traume
gesehen hatte. Ich sagte mir: was soll ich wohl mit diesem Mäd*
chen zu tun haben? Wenn ich, der ich selbst arm bin, sie zur Frau
nehmen wollte, die nichts besitzt als einen drückenden Haufen
von Brüdern und Schwestern, so gehe ich sicherlich zugrunde,
5 Cardano OJ
da ich doch jetzt schon für mich allein kaum imstande bin, für
Lebensunterhalt zu sorgen. Wenn ich aber versuchte, sie zu ents
führen und in aller Heimlichkeit zu beschlafen, so wird es nicht
an Leuten fehlen, die es auskundschaften und ihrem Vater, der
selber im Städtchen wohnt, hinterbringen, und der wird als Offizier
die Schande kaum stillschweigend hinnehmen. In jedem Falle, was
blieb mir zu tun? Ärmster, das Beste, was dir noch irgend zu tun
bleibt, ist schleunigste Flucht! Und während ich dies und ähns
liches bei mir erwäge, kommt mir der Gedanke in den Kopf, besser
wäre es zu sterben als ein solches Leben weiter zu führen. Doch
von diesem Tage an begann ich, sie nicht bloß zu lieben, sondern
in Liebesglut zu ihr zu entbrennen. Ich sah ein, soweit sich hier
mutmaßen ließ, daß dies Band mich nicht allzusehr beengen
werde, und so nahm ich freudig die freudig Willige zur Frau. Auch
ihre Eltern baten mich darum und boten gerne Unterstützung an,
wenn sie nötig sein sollte; sie waren nämlich durchaus nicht un*
vermögend. Die Verwirklichung jenes Traumes aber war mit dieser
Heirat nicht abgeschlossen; seine volle Kraft hat er erst an meinen
Kindern bewiesen. Fünfzehn Jahre lang hat diese Frau mit mir
gelebt [1531 — 1546]. Jener unselige Traum aber ist die Ursache
aller der Übel geworden, die in meinem ganzen ferneren Leben
über mich hereinbrachen. Ich weiß nicht, ob es ein göttlicher
Ratschluß war oder ob es eine Sühne sein sollte für meine und
meiner Väter Sünden. Denn ich selbst war sonst eine stahlharte
Natur und bin auch über alles Unglück, das mich traf, Herr
geblieben.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
DAS BÖSE SCHICKSAL MEINER KINDER
An meinen Kindern aber hat jener trübeTraum [vom verschlos*
senen Paradiesesgarten] ganz unzweideutig seine volle Kraft
erwiesen. Zuerst hatte meine Frau zweimal eine Fehlgeburt im
fünften Monat, männlichen Geschlechts; ich wollte schon daran
verzweifeln, jemals Kinder zu bekommen, und hatte mitunter den
Verdacht, Gift sei im Spiele. Endlich [14. Mai 1534] brachte sie
das erste Kind zur Welt, einen Knaben, im Gesicht ganz meinem
66
Vater ähnlich, so wie dieser in seiner Jugend wohl ausgesehen
haben mochte, ein gutes, freundliches, treuherziges Kind. Auf
dem rechten Ohr war er taub, hatte kleine, helle, stets unruhig
bewegliche Augen. Auch waren zwei Zehen seines linken Fußes,
wenn ich mich nicht täusche, die dritte und vierte von der großen
Zehe an gerechnet, zusammengewachsen. Sein Rücken war etwas
gewölbt, doch ohne entstellt zu sein. Dieser Sohn [gianbattista]
lebte bis zu seinem 23. Lebensjahre völlig ruhig, dann verliebte
er sich, gerade als er sich das Laureat erworben hatte, in bran?
DONiA SERONi und heiratete das Mädchen ohne jede Mitgift
[21. Dezember 1557]. Seine Mutter, meine Frau, war damals, wie
ich schon gesagt habe, längst gestorben und ebenso noch viel
früher seiner Mutter Vater, der meine Hochzeit nur wenige Monate
überlebt hatte. Es lebte zu dieser Zeit nur noch die Mutter meiner
Frau, TADDEA BANDARINI.
Und jetzt begannen die Schmerzen und Tränen. Mein Sohn hatte
schon früher, als seine Mutter noch lebte, viel Trübes zu erdulden
gehabt; ich meine die Zeiten, da ich so vielfach angefeindetwurde.
Aber all dies hat schließlich ein Ende genommen. Nun aber ward
er angeklagt, seine Frau vergiftet zu haben, da sie im Wochenbett
lag; am 17. [15.] Februar [1560] wurde er gefangen gesetzt und
53 Tage darauf, am 7. April, im Kerker durch das Schwert ents
hauptet. Das war das ärgste und größte Unglück, das mich traf.
Die Folge war, daß ich mich nun mit Ehren nicht mehr als Pro*
fessor an der Universität zu Pavia halten konnte und doch ohne
Grund meine Stellung nicht verlassen durfte, daß ich ferner weder
in meiner Vaterstadt in Sicherheit leben noch auch gefahrlos sie
verlassen konnte. Mißachtet ging ich von da an durch die Straßen
der Stadt; wo ich mit anderen zusammentraf, sah man mich ver?
ächtlich über die Schultern an; da ich ihnen doch stets unwill?
kommen war, ging ich meinen Freunden aus dem Wege ; nirgends
zeigte sich ein Ausweg, was zu tun; nichts hatte ich, wohin ich
hätte fliehen können. Ich weiß nicht, was größer war, mein Un#
glück oder der Haß, womit man mir begegnete.
Dann begannen die Torheiten meines jüngeren Sohnes [aldo],
seine Verbrechen; Plackereien, wie sie größer nicht hätten sein
können. Mehr als einmal war ich gezwungen, ihn ins Gefängnis
5* 67
stecken, aus der Heimat ausweisen zu lassen und ihm testamen*
tarisch das väterhche Erbe zu entziehen; mütterliches Vermögen
war keines vorhanden. Die Tochter [chiara] allein hat mir nie
Kummer gemacht, abgesehen von der Aushändigung der Mitgift;
doch die habe ich gerne, wie es sich gehört, gegeben.
Mein älterer Sohn hatte mir zwei Enkelkinder hinterlassen. Inner*
halb weniger Tage hat unser Haus allein drei Leichen gesehen,
die meines Sohnes, meiner Schwiegertochter und meiner Enkelin
DIAREGINA. Wenig hat gefehlt, so wäre auch mein Enkel [fazio]
damals gestorben. Alles in allem habe ich mit allen meinen Kin:;
dem nur das größte Unglück gehabt. Denn meine Tochter, von
der doch Gutes zu erhoffen war, vor allem nach ihrer Heirat
[1556?] mit BARTOLOMEO SACCO, einem reichen und ganz treffe
liehen jungen Mailänder Adligen, blieb unfruchtbar, so daß meine
einzige Hoffnung sich auf meinen Enkel baut.
Ich weiß sehr wohl, daß alle diese Dinge später einmal, nament*
lieh fremden Leuten, unwichtig erscheinen mögen. Ist ja doch, wie
ich schon oft gesagt habe, in dieser Sterblichkeit alles nur lächers
lieh, ärmlich und nichtig wie ein Schatten. Was ist es denn nur,
worin der Sterblichen Tun und Treiben, ihr Leben und ihr Schick*
sal besteht? Aber wie selbst ein cicero, der Vater der Beredsam*
keit, von einem krantor^ gelernt hat, wie er sich über den Tod
seiner Tochter tröste, so kommen auch uns mitten in den trübsten
Zeiten bald von hier, bald von dort tröstende Gedanken dieser
Art in den Sinn, und sie sind von nicht zu verachtendem Wert
und Nutzen. Im übrigen weiß ich auch sehr wohl, was allein
wert ist, in Büchern niedergeschrieben zu werden, ganze Ketten
großer Ereignisse zum Beispiel, die aus kleinen Anfängen ihren
Ursprung genommen haben mögen, und weiß auch, daß der
Schriftsteller an nebensächlichen Dingen dieser Art rasch vorüber*
gehen oder noch besser, sie genau ihrem Werte und ihrer Ordnung
nach behandeln soll, damit ein treues Abbild des Geschehenen
gegeben werde, und daß selbst die größten Taten, mögen sie nun
aus Tüchtigkeit oder aus niedriger Gesinnung oder aus einem
' Ein angesehener Anhänger der älteren akademischen Schule und Schüler
des XENOKRATEs; gemeint ist sein von cicero zitiertes, uns nicht mehr er»
haltenes Werk »de luctu«.
68
Zufall geboren sein, so kurz wie möglich geschildert werden sollen,
es sei denn, sie hätten mit Kunst oder Philosophie zu tun. Aber
heute? O Zeiten, o Sitten! Nicht anderes schreiben wir mehr als
schändliche Schmeicheleien! Zwar mag es wohl erlaubt sein, dem
volles Lob zu spenden, dessen Tüchtigkeit und Unbescholtenheit
es verdient, so wie einst plinius dem trajan, horaz dem maecenas
gehuldigt hat. Doch es ist töricht von uns getan, lehren zu wollen,
wie man sich in diesen Dingen zu benehmen habe. Wenn man
nur einsehen wollte, wie unendlich häßlich ein solch unberechs
tigtes Lob ist, womit man sich gegenseitig schmeichelt wie zwei
Esel, die einander kratzen. Wie aber, wenn das Lob verdient
wäre? Dann läßt es sich mit einem Worte vorbringen, so ganz im
Verborgenen, als handle es sich um die allerbekannteste Sache,
wie es plinius der Jüngere bezüglich des martial getan hat.
Ein Buch, das wert ist, gekauft zu werden, muß vollkommen sein,
was den geistigen Gehalt sowohl als die künstlerische Form be*
trifft. Vollkommen aber ist nur jenes Buch, das seinen Gegen:;
stand ununterbrochen von Anfang bis zum Ende fortspinnt, ihn
völlig erschöpft, ohne ihn mit fremden Dingen zu überladen,
streng an der sachlichen Einteilung festhält, uns bisher Unbekannt
tes offenbart und die wesentlichen Grundlagen des Gegenstandes
aufdeckt, oder auch eines, das uns ein genaues Bild eines großen
Künstlers und seines Werkes vermittelt, so wie es guillaume
PHiLANDRiER^ in Seinem Buch überviTRUv getan hat.
Achtundzwanzigstes Kapitel
PROZESSE OHNE ENDE
Vom Tode meines Vaters an bis zum Jahre 1546, das heißt
23 Jahre lang, habe ich fast ununterbrochen Prozesse ge*
führt. Zuerst mit alessandro castiglione, genannt gatico, wegen
einiger Waldungen; dann mit meinen Verwandten; des weiteren
mit den Grafen barbiani; ferner mit dem Kollegium [der Ärzte
zu Mailand] ; endlich mit den Erben des domenico della torre,
* Französischer Architekt und Kunsttheoretiker, 1505—1565; gemeint sind
seine »annotationes in Vitruvium«.
69
der mich einst als Pate aus der heiligen Taufe gehoben hatte. In
allen diesen Prozessen blieb ich Sieger. Sonderbar war dabei, daß es
mir gelang, den Prozeß gegen alessandro castiglione schließlich
doch zu gewinnen, obwohl sein Oheim Richter war und obwohl
er schon einen Rechtspruch durchgesetzt hatte, der, wie die Juristen
sagen, in eine rechtskräftige Entscheidung übergegangen war. Zu*
letzt mußte er mir doch die ganze strittige Summe bezahlen. Mit
ähnlichem Glück hatten die Rektoren des Ärztekollegiums gegen
mich entschieden: in mehrfachen Entscheiden wurde meine Auf?
nähme abgelehnt; dann kam ein letzter Beschluß zustande, wo*
nach ich vertragsmäßig aufgenommen, dem Kollegium aber unter*
stellt und nicht sein gleichberechtigtes Mitglied wurde. Schließlich
aber wurde ich trotz meiner zahlreichen Gegner doch ohne Ein*
schränkung aufgenommen. Auch mit den barbiani einigte ich mich
schließlich nach langen Prozessen, vielfachen Verschleppungen
und Drohungen ihrerseits, ich erhielt die ganze verabredete Geld*
summe und blieb dadurch von jedem weiteren Prozessieren völlig
verschont.
Neunundzwanzigstes Kapitel
REISEN
Ich habe auf mehreren Reisen fast ganz Italien kennen gelernt,
mit Ausnahme von Neapel, Apulien und den übrigen süd*
liehen Gegenden. Des weiteren habe ich Deutschland, vor allem
Niederdeutschland, die Wests und die Ostschweiz kennen gelernt,
außerdem Frankreich, England und Schottland. Doch ich will er*
zählen, wie dies zugegangen ist.
[john] HAMILTON, Erzbischof von St. Andrews in der Hauptstadt
von Schottland, der unechte [?] Bruder des Regenten^, und zu*
gleich päpstlicher Legatund Primas, litt an immer wiederkehrenden
Atembeschwerden. Das Übel befiel ihn nach bestimmten Pausen,
die früher länger waren, aber später, nachdem er 40 Jahre alt ge*
* JOHN HAMILTON, der letzte Krzbischof von St. Andrews in Edinburg,
hingerichtet am I.April 1571, war der Bruder des james Hamilton, Earl of
Arran, gestorben 1575, der während der Minderjährigkeit der Königin
MARIA STUART Regent von Schottland war.
70
worden, immer kürzer wurden, und schließlich trat es fast alle
8 Tage auf, so daß er dem Tode schon sehr nahe schien. Und doch
wurde er innerhalb 24 Stunden ohne jede, oder doch nur mit
kaum nennenswerter ärztlicher Hilfe, davon befreit. Er hatte ohne
Erfolg die Ärzte des damaligen Kaisers karl v. und des französi::
sehen Königs Heinrich ii. bemüht, und als er nun von mir gehört
hatte, wandte er sich schließlich an mich. Er ließ mir zunächst
durch seinen Leibarzt 200 Gulden nach Mailand schicken, ich
möge nach Lyon, im äußersten Falle nach Paris kommen; er werde
mich dort erwarten. Da ich damals gerade keinen Lehrauftrag
hatte, wie ich oben erzählt habe, griff ich mit Freuden nach diesem
günstigen Angebot. So machte ich mich im Jahre 1552, am 22. Fe*
bruar, auf den Weg, reiste über Domodossola, über den Simplon,
Sitten, Genf, verließ dann den Genfer See und traf am 13. März
in Lyon ein, dem sechsten Tag des Mailänder Karneval, nach der
gewöhnlichen Berechnung. Ich blieb 46 [38] Tage in Lyon, sah
aber nichts vom Erzbischof, noch von seinem Leibarzt, den ich
erwartet hatte. Meinen Lebensunterhalt gewann ich trotzdem und
noch darüberhinaus, denn ich traf zu Lyon einen illustren Herrn
aus Mailand, louis birague, den Kommandanten der königlichen
Infanterie, mit dem mich bald so innige Freundschaft verband,
daß er mir schließlich ein Angebot von jährlich 1000 Gulden ver*
schaffte, wenn ich in den Dienst des französischen Vizekönigs
BRissAC treten wolle. Aber inzwischen war william cassanate,
der Leibarzt des Erzbischofs, eingetroffen und überbrachte mir
weitere 300 Gulden mit dem Auftrag, ich möge mich nach Schott*
land begeben. Die Reisekosten bis dorthin sollten mir ersetzt
werden, und noch viele andere Geschenke wurden mir in Aussicht
gestellt. So reiste ich denn über die Loire nach Paris. Dort hatte
ich das Glück, den orontius [oronce eine, französischer Mathe*
matiker und Astronom 1494—1555] kennen zulernen; doch weis
gerte er sich, mich seinerseits aufzusuchen. Unter Führung des
MAGNiENUS [piETRO PAOLO MAGNi aus Piacenza, italienischer Arzt
des 16. Jahrhunderts?] besichtigte ich den Kronschatz des französ
sischen Königs in der Kirche vonSaintsDenis, eine Sehenswürdig*
keit, die zwar im allgemeinen weniger groß ist als ihr Ruf, die für
mich persönlich aber deshalb von großer Wichtigkeit war, weil
71
sich dort das vollständig erhaltene Hörn eines Einhorns befindet.
Dann traf ich auch mit den königlichen Ärzten zusammen und
wir speisten gemeinsam; doch konnten sie mich auch bei Tisch
nicht dazu bewegen, meine Ansicht [über die Krankheit des Erz#
bischofs] zu bekennen, nachdem sie schon vor Tisch vergebens
versucht hatten, von mir etwas darüber zu hören, ehe sie selbst
sich geäußert hatten.
Ich verabschiedete mich gleichwohl ziemlich freundschaftlich von
JEAN FERNEL [berühmter französischer Arzt 1497—1558] und
siLvius [jACQUES DUBOis 1498—1555] und einem dritten Leibarzt
des französischen Königs, die in Paris zurückblieben, setzte meine
Reise fort, kam nach Boulogne, erhielt dort, weil es der Fürst von
Sarponne [?] so wollte, eine Begleitung von 14 Bewaffneten zu
Pferd und 20 zu Fuß, gelangte nach Calais, sah dort den heute
noch stehenden Turm caesars, fuhr über den Kanal, kam durch
London und traf endlich am 29. Juni beim Erzbischof in Edin*
bürg ein. Ich blieb dort bis zum 12. September und erhielt weitere
400 Goldgulden, eine Halskette im Werte von 125 Gulden, ein
ganz vorzügliches Pferd und viele andere Geschenke, wie denn
überhaupt der Erzbischof niemanden unbeschenkt ziehen läßt. Ich
reiste über Brabant und die Niederlande zurück, sah Grävelingen,
Antwerpen, Brügge, Gent, Brüssel, Löwen, Mecheln, Lüttich,
Aachen, Köln, Koblenz, Kleve, Andernach, Mainz, Worms, Speier,
Straßburg, Basel, Neustadt, Bern, Besan(;on, die innere Schweiz
mit ihren Städten Chur und Chiavenna, kam über den Comer
See und traf am 30. Dezember 1552 wieder in Mailand ein. Von
allen diesen Städten habe ich nur in Antwerpen, Basel und Besan^on
längeren Aufenthalt genommen. In Antwerpen wollte man mich
mit aller Mühe zurückbehalten. In London war ich dem englischen
König [eduard vi.] vorgestellt worden und hatte von ihm ein
Geschenk von 100 Gulden erhalten. Ein Angebot von 500 Gul*
den — einige sagen auch, es seien 1000 gewesen, genau konnte
ich es nicht erfahren — wies ich zurück, weil ich den vom König
dem Papst zum Trotz angemaßten Titel [eines defensor fidei] nicht
anerkennen wollte. In Schottland machte ich auch enge Bekannt?
Schaft mit dem dortigen französischen Gesandten, dem Fürsten
de LA CELLE, In Basel hätte wenig gefehlt, und ich wäre, hätte nicht
72
GUGLiELMO GRATOROLO [italienischer Arzt 1516—1568] mich ges
warnt, in ein verpestetes Hospiz geraten. Zu Besannen nahm mich
der Bischof von Lisieux aufs freundschaftlichste auf, wie ich an
anderer Stelle erwähnt habe, und ich wurde von ihm, wie auch
an anderen Orten, reichlich beschenkt.
So lebte ich bis heute im ganzen zu Rom 4 Jahre, zu Bologna 9,
zu Padua 3, zu Pavia 12, zu Moirago die 4 ersten Jahre meines
Lebens, zu Gallarate 1 Jahr, im Städtchen Sacco fast 6 Jahre, zu
Mailand zu drei verschiedenen Malen zusammen beinahe 32, und
3 Jahre lang bin ich sozusagen auf der Wanderschaft gewesen.
Außer der oben geschilderten Reise habe ich auch noch Venedig,
Genua, Rom und die Städte, die dabei am Wege liegen, gesehen,
nämlich Bergamo, Crema, Brescia und die übrigen, außerdem
Ferrara und Florenz und überdies Voghera und Tortona. Und,
um die Sache kurz zu machen, ich habe fast ganz Italien gesehen
mit Ausnahme des Königreiches Neapel und der anliegenden
Gegenden wie Apulien, Latium, das Gebiet von Piceno, Umbrien,
Calabrien, die Gegend umTarent, die Basilicata und das Gebiet der
Abruzzen. Aber du wirst sagen, was soll mir dieAufzählung sovieler
Städte nützen ? Viel, sobald du nämlich einmal diese Gegenden vom
Gesichtspunkt der Lehre des hippokrates aus betrachtet hast. Du
wirst die natürliche Beschaffenheit des Ortes kennen lernen, den
Charakter der Einwohner, wirst sehen, welcher Teil der Gegend
zum Aufenthalt am besten sich eignet, welche Krankheiten dort
vorkommen. Und aus all dem wirst du entnehmen können, wo
am besten zu leben ist. Jene ganze Gegend zum Beispiel, von der
ich sprach [Schottland usw.], war für uns schon von jeher wegen
ihres kalten Klimas wenig von Nutzen und ist es heute noch viel
weniger der zerrissenen, unsicheren Verhältnisse wegen. Dann
ist aber die Kenntnis fremder Länder auch wichtig für das Ver;;
ständnis ihrer Geschichte, vor allem dann, wenn sie uns natur?
wissenschaftlich genau beschrieben sind. Wir erfahren dann vom
Charakter des Klimas, vom Vorkommen der Pflanzen und Tiere,
welchen Weg der Reisende am besten einschlägt, wie wir denn
auch schon mehrere Bücher der Art gedruckt besitzen, die uns in
italienischer Sprache über solche Dinge unterrichten und dazu
noch die einzelnen Entfernungen angeben.
73
Dreißigstes Kapitel
UNFÄLLE UND ZUFÄLLE.
VON VIELEN MANNIGFACHEN UND UNAUFHOR:«
LICHEN NACHSTELLUNGEN
Die Dinge, die ich hier erzählen will, sind mir tatsächlich zu?
gestoßen. Ich wohnte [zu Pavia] im Hause der catanei.
Eines Tages ging ich in der Frühe zur Vorlesung, es war Schnee
gefallen, und ich pißte bei einer baufälligen Mauer an der rechten
Seite der Universität; dann ging ich auf dem tiefer gelegenen Teile
des Weges weiter, gerade in dem Augenblick, als ein Ziegelsteinvon
der Mauer, in der Richtung auf mich zu, herunterfiel. Ich wäre zweis
fellos getroffen worden, wenn ich auf dem höher gelegenen Teile
des Weges gegangen wäre; dies konnte ich aber nicht, des Schnees
wegen, obwohl mich mein Begleiter nach dieser Seite drängte.
Ein Jahr darauf, wenn ich mich nicht täusche, war es im Jahre 1 540,
ging ich einmal in der Via Orientale, als mir ohne jeden vernünf*
tigen Grund in den Sinn kam, von der linken Seite der Straße auf
die rechte hinüberzugehen. Und gerade in diesem Augenblick
stürzte auf der anderen Seite von einem sehr hohen Vordach ein
großer Bruchstein herunter, genau an der Stelle, daß ich, wäre
ich nicht auf der anderen Seite der Straße gegangen, dadurch völlig
zerschmettert worden wäre. Doch so entkam ich nach Gottes Willen.
Bald darauf ritt ich, ganz nahe derselben Stelle, auf einem Maul*
tiere; hart neben mir fuhr ein Wagen, und ich wollte diesem an
der rechten Seite vorbeireitend vorankommen, da mich ein Ge#
schäft drängte, das keinen Aufschub litt. Und da sagte ich bei
mir: »Wenn jetzt dieser Wagen umfiele!« Und kaum hatte ich das
gedacht, fiel er auch tatsächlich um, und er hätte mich ohne Zweifel
erdrückt,was mir offenbar sehr unangenehm und nicht ungefährlich
hätte werden können. — Nicht darüber wundere ich mich, daß mir
solche Dinge zustießen, sondern deshalb, weil ich jedesmal, so oft
ich den Weg ändere, und zwar ganz unfreiwillig, einer derartigen
Gefahr entgehe. Vielleicht freilich mag ich auch auf andere Fälle
nicht achtgegeben haben. Eine sonderbare Sache jedenfalls. Auf*
hebens wäre nicht davon zu machen, hätte ich nicht so viele Bei*
spiele dafür.
74
Als ich ein Knabe war, von ungefähr 1 1 Jahren, wenn ich mich
nicht täusche, betrat ich einmal den Hof des erlauchten Herrn
DONATO CARCHANi Und wurde dort von einem nicht gerade großen,
weichhaarigen Hund in den Bauch gebissen; es waren fünf Wun?
den, keine schweren freilich, doch waren sie bald schwarz unter*
laufen. Ich will dazu nur soviel sagen, daß es damals ein Glück
war, daß ich nichts von der Gefahr der Tollwut wußte. Wäre ich
etwas älter gewesen, so hätte ich davon gewußt, und was der Wunde
nicht gelang, hätte die Angst zustande gebracht: ich hätte die
Tollwut bekommen.
Im Jahre 1525, dem Jahre meines Rektorats, wäre ich beinahe im
Gardasee ertrunken. Ich hatte gemietete Pferde bei mir und wurde
so wider meinen Willen zur Überfahrt gezwungen. Ein Mast
brach, dazu der Klüverbaum und eines der beiden Ruder; die
Segel fielen herunter, auch die des kleinen Mastbaumes; die Nacht
war hereingebrochen. Bei Sirmione wurden wir schließlich ans
Land gerettet, nachdem ich nur noch ganz geringe, alle andern schon
gar keine Hoffnung mehr hatten. Hätte sich unsere Landung auch
nur um den 40. Teil einer Stunde verzögert, so wären wir verloren
gewesen, denn es brach plötzlich ein solcher Sturm herein, daß die
Eisenstangen an den Fenstern unseres Gasthofes sich bogen. Ich,
der ich von Anfang an am meisten Furcht zu haben schien, setzte
mich ruhig zu Tisch — man hatte einen großen Hecht aufgetragen
— und speiste fröhlich und guter Dinge. Nicht so die anderen,
außer dem einen, der die ganze Irrfahrt verschuldet hatte, in der
Gefahr aber unser energischer Retter gewesen war.
Während meines Aufenthaltes in Venedig verlor ich am Feste
Maria Geburt im Glücksspiel einen grollen Teil meines Geldes,
am nächsten Tage den Rest. Es war in der Wohnung meines Spiel*
genossen. Und da ich entdeckte, daß er mit falschen Karten spielte,
verwundete ich ihn mit dem Messer im Gesicht, nur ganz leicht.
Zwei seiner Diener waren anwesend, junge Leute, und an der
Wand hingen zwei Speere. Die Haustüre war mit dem Schlüssel
abgesperrt. Ich raffte sofort alles daliegende Geld zusammen,
seines wie das meinige, griff nach meinen Kleidern — die Ringe,
die ich am Tage zuvor verspielt, zu Beginn des zweiten Tages
aber zurückgewonnen hatte, hatte ich schon vorher durch meinen
15
Diener nach Hause bringen lassen, — dann warf ich dem Partner
freiwillig einen Teil des Geldes wieder hin, weil ich sah, daß er ver*
wundet war, und stürzte mich sofort auf die Diener, so daß sie nicht
mehr nach den Waffen greifen konnten und mich um Gnade flehten.
Ich schenkte ihnen das Leben unter der Bedingung.daß sie mir sofort
die Haustüre aufschlössen. Der Herr des Hauses sah die allgemeine
Verwirrung und das Durcheinander, und da er jedes Aufsehen
vermeiden mußte, weil er ja im eigenen Hause mit falschen Karten
mich betrogen, wie ich überzeugt bin, und da er wohl auch ab*
schätzen konnte, daß Gewinn und Verlust sich ungefähr gleich
waren, ließ er mir die Tür öffnen, und ich lief davon. Noch am
nämlichen Tage streifte ich mit verborgenen Waffen unter den
Kleidern durch die Gassen, um gegebenenfalls der Stadtwache zu
entkommen, die mich vielleicht derVerwundung jenes Herrn wegen
— es war dies nämlich ein Senator — aufsuchen mochte. Es war in
der zweiten Stunde der Nacht. Da glitt ich plötzlich mit beiden
Füßen aus und fiel in das Meer. Doch verlor ich beim Sturze die
Geistesgegenwart nicht, sondern streckte rasch die rechte Hand
aus und faßte nach einem Balken. Eine eben daherfahrende Ge#
Seilschaft rettete mich, und wie ich in ihr Schiff einsteige, finde ich
— ein sonderbarer Zufall — den Menschen, mit dem ich gespielt
hatte, und der jetzt sein Gesicht der Wunde wegen in einem Ver#
band trug. Freiwillig bot er mir trockene Matrosenkleider an, ich
zog mich um und fuhr, seiner Einladung folgend, mit ihm aufsei*
nem Schiffe bis nach Padua.
Als ich mir in Antwerpen, ich weiß nicht aus welchem Grund und
zu welchem Zwecke, in einem Laden einen Edelstein kaufen wollte,
fiel ich in eine Grube, verletzte mich und zerquetschte mir das
linke Ohr. Das Unglück war klein und leicht wieder gut gemacht;
es handelte sich nur um eine Hautschürfung.
Im Jahre 1566 sprang ich in Bologna aus einem in voller Fahrt
befindlichen Wagen heraus, weil ich ihn nicht mehr zum Anhalten
bringen konnte, brach mir dabei den Ringfinger der rechten Hand
und verletzte mich derart am Arme, daß ich ihn nicht mehr beugen
konnte. Die Sache verging erst nach einigen Tagen, das heißt, sie
verzog sich nach der linken Seite, und am rechten Arm war sonder*
barerweise gar nichts mehr zu spüren. Noch sonderbarer aber
76
ist es, daß die Sache nach 9 Jahren ohne jeden äußeren Anlaß
ganz unheimHcherweise mir wieder in den rechten Arm gefahren
und mir heute noch lästig ist. Der gebrochene Finger heilte, ohne
daß ich irgendwelche Mittel anwandte, völlig, nahm auch keinen
dauernden Schaden, sondern ist heute beinahe wieder ganz gerade
geworden.
Was soll ich von der Pestgefahr sagen, die mir im Jahre 1541 drohte?
Ich hatte den kranken Diener des Obersten isolani, eines genuesi=
sehen Adligen, besucht. Die Pest hatte ihn gepackt, er war nämlich
von der Schweiz gekommen und hatte dort einmal zwischen zwei
Pestkranken geschlafen, die dann starben. Ich kannte den Charak*
ter seiner Krankheit noch nicht und trug gerade damals den Bal=
dachin des Kaisers bei seinem Einzug in Mailand, weil ich Rektor
des Kollegiums der Ärzte war. Als wir die Sache festgestellt hatten,
wollte nun der Oberst, wir sollten den Toten — wir hielten ihn
nämlich für tot — auf seinem Landgute verbergen. Dem wider*
setzte ich mich jedoch, denn nichts fürchte ich mehr als Trug und
Hinterlist und was deren Folgen sind. Doch Gott hat geholfen.
Der Kranke wurde nämlich wieder gesund, obwohl wir schon trotz
aller meiner väterlichen Fürsorge daran verzweifeln wollten.
Und dann im Jahre 1546 begegnete mir folgende, beinahe wun*
derbare Geschichte. Ein Hund hatte nach mir geschnappt, ohne
mich freilich mit einem Biß zu verwunden. Doch da er ganz still
und ohne Bellen mich angefaßt hatte, fürchtete ich, er möchte die
Tollwut bekommen. Ich bot ihm Wasser an, doch er wollte nicht
saufen, lief aber auch nicht davon, sondern fraß ruhig das Bein
eines Kapaunen, das ich ihm zumFressen gegeben hatte. Und nun
verließ ich am Tag darauf von jeder Sorge befreit das Haus, in
dem sich dies zugetragenhatte,alsich plötzlich wiederum einen gro*
ßen Hund, zunächst aus einiger Entfernung, auf mich zukommen
sah. Es war am Fest vom Heiligen Kreuze [Kreuzauffindung] im
Monate April [Mai], ein wunderschöner Tag. Der Weg war auf
beiden Seiten mit grünen Hecken und Bäumen eingesäumt. Ich
sagte zu mir selbst: »Was soll das, daß ich heute wie gestern mit
Hunden zu tun habe?« Ich ließ keine nutzlose Angst in mir auf;:
kommen, sondern dachte : »Warum soll ich annehmen, daß gerade
dieser Hund wirkhch die Tollwut hat?« Und während ich noch
77
dieses denke, war der Hund schon näher herangekommen und
sprang, sobald er nahe war, so rasch über den Kopf meines Maul#
tieres auf mich los, daß ich nicht imstande war, einen Gedanken
zu fassen. Ich ritt auf einem ganz kleinen Maultier, und das war
meine einzige Rettung. Ich tat, was ich mir zuvor schon überlegt
hatte, beugte meinen Kopf bis auf den Nacken meines Tieres her*
unter, und der Hund sprang, mit den Zähnen schnappend, über
mich hinweg, ohne mich zu verletzen noch überhaupt zu beruh*
ren, was doch wahrlich als ein Wunder zu bezeichnen ist. Hätte
ich diese Episode nicht sehr oft und auch an verschiedenen Stel*
len schriftlich erzählt, so möchte ich glauben, daß ich damals ge*
schlafen und nur im Geiste eine Halluzination gehabt habe. Aber
wie ich damals zurücksah, ob wohl der Hund wieder kommen und
mich noch einmal angreifen werde, sah ich einen Knaben, der
nach mir kam und links nahe dem Zaun ging, und ich frug ihn:
»Du, sag mir (der Hund war nämlich im schnellen Anlauf, den
er genommen, schon weggerannt), hast du gesehen, was der Hund
dort gemacht hat? Hat er dir etwas getan?« Der sagte: »Gar
nichts hat er mir getan. Aber ich habe ganz genau gesehen, was
er dir getan hat.« »So sag mir doch bitte,« frug ich weiter, »was
hat er getan ?« Worauf der Knabe sagte : »Er ist von rechts nach
deinem Kopf gesprungen; da du dich aber gebückt hast, ist er
über dich weggegangen, ohne dich zu verletzen.« Da sagte ich zu
mir selbst : »Also habe ich doch sicher keine Halluzination gehabt.«
Und doch wird diese Sache gewiß jedem unglaublich klingen.
Im ganzen bin ich viermal in die äußerste Gefahr geraten, die mir
jedesmal das Leben gekostet hätte, wenn es mir nicht gelungen
wäre, mich zu retten: erstens, als ich am Ertrinken war, zweitens,
als der tollwütige Hund mich angriff, drittens als der Bruchstein
herunterfiel, doch war dies nur eine leichtere Sache, da ich ihm
schon von vornherein ausgewichen war; und die vierte Gefahr
endlich war die Rauferei im Hause des vornehmen Venezianers.
Ebensoviel zähle ich an Fällen schweren Schadens und Unglücks,
die mich trafen : erstens mein früheres geschlechtliches Un#
vermögen, zweitens den tragischen Tod meines Sohnes, drittens
meine Einkerkerung und viertens die Schlechtigkeit meines junge*
ren Sohnes. So sollte das ganze Leben der Ordnung nach geprüft
78
werden. Ich schweige von weiterem Unglück, von derUnfrucht*
barkeit meiner Tochter, von dem langen Kampf mit dem Kolle*
gium der Ärzte, von den vielen ungerechten und niederträchtigen
Anfeindungen, die ich zu erleiden hatte, von meiner unausge*
glichenen körperlichen Beschaffenheit und von meinem ewigen
Kranksein, endlich davon, daß ich nie einen Freund hatte, der
vernünftig und rechtschaffen war. Hätte mir ein solcher nicht ge*
fehlt, so wäre mir in vielen Dingen geholfen gewesen und ich
von den meisten kleinen Übeln verschont geblieben.
Was nun aber die lebensgefährlichen Nachstellungen betrifft,
unter denen ich zu leiden hatte, so will ich hier ganz son?
derbare Dinge erzählen. Merke wohl auf, denn solche Geschieh*
ten ereignen sich nicht alle Tage.
Ich war Professor in Pavia und dozierte in meinem eigenen Hause.
Ich hatte eine ganz zufällig gewählte Magd um mich, außerdem
den jungen ercole visconti, zwei Knaben und einen Diener,
wenn ich mich nicht täusche. Einer dieser beiden Knaben, ein Mu?
siker, war mein Schreiber, der andere ein Laufbursche. Man zählte
das Jahr 1562, das Jahr, da ich mich entschlossen hatte, Pavia zu
verlassen und mein Lehramt aufzugeben, womit freilich der Senat
durchaus nicht einverstanden war, da er annahm, mein Entschluß
sei nur im Zorn und Ärger gefaßt. Damals waren zu Pavia zwei
Herrn Doktoren ; von denen war der eine ein schlauer Mensch,
der früher mein Schüler gewesen war, der andere, ein außeror*
dentlicher Professor der Medizin, war ein einfältiger Mann, und,
wie ich glaube, durchaus nicht schlecht. Doch was vermögen nicht
alles Ehrgeiz und Geldgier, dann vor allem, wenn sie mit ehrbarer
Wissenschaft verbunden sind? Dieser zweite war übrigens ein
unehelich Geborener. Meine Gegner suchten nun mit allem Eifer
durchzusetzen, daß ich die Stadt verlasse, und waren, wie es schien,
fest entschlossen, alles zu tun, um diesen Wunsch zu verwirklichen.
Und da sie nun der Haltung des Senats wegen nicht hoffen durf?
ten, mich vertreiben zu können, obschon ich selbst um Entlassung
nachsuchte, so faßten sie den Entschluß, mich umzubringen, nicht
mit Stahl und Eisen zwar, wegen des öffentlichen Skandals und
aus Furcht vor dem Senat, sondern auf hinterlistigerem Wege. Denn
79
mein Konkurrent sah deutlich ein, daß er nur dann an die erste
Stelle aufrücken könne, wenn ich von der Universität entfernt
würde. So fingen sie denn die Sache auf weitem Umwege an. Zu?
erst setzten sie einen Brief auf unter dem Namen meines Schwie?
gersohnes — einen so ganz garstigen und abscheulichen Brief —
und auch unter dem Namen meiner Tochter, des Inhalts, sie
schämten sich beide meiner Verwandtschaft und schämten sich
auch für den Senat und für das Kollegium der Ärzte, und die
Sache komme ja wohl bald so weit, daß man mich meines Lehr?
amts für unwürdig erachte und mich von ihm entfernen werde.
Ich war ganz bestürzt über diesen unverschämten und frechen
Tadel seitens der Meinigen, wußte nicht, was ich tun, was ich sagen,
was ich antworten sollte. Auch konnte ich mir gar nicht erklären,
was die ganze Sache bezwecke, diese ganz schamlose und nieder*
trächtige Sache. Jetzt freilich ist mir klar, daß sie ganz demselben
Plan entsprungen war wie auch die anderen Machenschaften. Denn
schon nach einigen Tagen brachte man mir einen zweiten, von
einem gewissen fioravanti unterzeichneten Brief, der ungefähr
in folgendem Sinn abgefaßt war : Er schäme sich meiner für seine
Vaterstadt, für das Kollegium der Ärzte und für sämtliche Profes»
soren der Universität, denn allmählich verbreite sich überall das
Gerücht, ich mißbrauche Knaben, und zwar genüge mir nicht einer
allein, ich müsse deren zwei haben. Die Sache sei ja ganz un*
glaublich. Er flehe mich an im Namen aller meiner Freunde, ich
möge doch diesem offenen Skandal entgegentreten. In ganz Pavia
spreche man von nichts anderem als von dieser Sache. Er könne
mir die Häuser von Bürgern nennen, in denen er davon gehört
habe. — Ich war sprachlos, als ich dies gelesen, und konnte nicht
glauben, daß der Verfasser wirklich fioravanti sei, mein Freund
und ein ganz anständiger, bescheidener Mensch. Doch dann dachte
ich an jenen Brief meines Schwiegersohnes, von dem ich eben er?
zählte und der mir noch im Sinn lag. (Jetzt freilich glaube ich
nie mehr, daß er ihn geschrieben habe, noch überhaupt auf
solche Gedanken verfallen sei. Denn seit ich ihn kannte, bis auf
den heutigen Tag hat er mich immer, ober mir nun freundlich ge*
sinnt oder gelegentlich auf mich erzürnt war, in Ehren gehalten,
und nie zeigte er irgendwelche Spuren einer so üblen, geschweige
80
denn einer so hirnverrückten Meinung. Und abgesehen davon:
wenn er auch dies alles geglaubt hätte, wie würde er, ein sonst so
vernünftiger Mann, dazu gekommen sein, solche Dinge einem
Briefe anzuvertrauen, der in vieler Leute Hände kommen konnte,
und seinen Schwiegervater eines Vergehens zu bezichtigen, das
nicht einmal sicher erwiesen, jedenfalls aber ganz häßlich und ab:;
scheulich war und ihm höchst verderblich werden konnte?) Ich
lasse mir sofort den Mantel bringen, eile zu fioravanti, frage ihn
wegen des Briefes, und er gesteht, ihn geschrieben zu haben. Nun
war mein Staunen noch größer; denn es war mir noch nicht im
entferntesten der Argwohn, geschweige denn das klare Bewußt?
sein aufgestiegen, daß es sich hier um ein hinterlistiges Attentat
handle. Nun begann ich planmäßig vorzugehen und frug ihn, wo
denn näherhin dies allbekannte Stadtgespräch gehe. Da wurde er
mit einem Male unsicher und hatte keine Antwort, schwatzte mir
etwas von allgemein bekanntem Gerede und vom Rektor der
Universität, der in inniger Freundschaft dem delfino [carda*
Nos erklärtestem Gegner in Pavia] zugetan war. Schließlich aber,
als FIORAVANTI Sah, daß mit der ganzen Sache er viel eher in
eine nicht ungefährliche Lage als ich in den Verdacht eines Ver*
brechens kommen werde, änderte er sein Verhalten und wollte mit
der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben, denn obschon
er, wie ich gesagt habe, ein einfältiger Mann war, merkte er doch,
worein er sich verwickelt hatte. Und so hörten denn auch von
diesem Tage an alle diese Dinge auf, und die so fein ausgeklügelte
Machenschaft brach zusammen. Ich will aber hier erzählen, so wie
ich es später erfahren habe, wie die ganze Sache gemacht worden
war : Jene beiden, Wolf und Fuchs, hatten diesem Schaf eingeredet,
der Senat habe einstimmig beschlossen, sobald ich meine Stelle auf*
gegeben hätte, sollte die zweite Professur zu Pavia er, fioravanti,
erhalten, indes deren bisheriger Inhaber, mein Konkurrent, an
meine Stelle aufrückte, nach alter und stets geübter Sitte, und der
andere, der schlaue Fuchs, solle auf seinem Posten bleiben. Die
Sache ging aber anders, wie ihr späterer Verlauf lehrte.
Und dann, nachdem der erste Akt dieser Tragödie beendet war,
begann der zweite, der die Geheimnisse des ersten offenbaren
sollte. Meine Gegner sorgten nun vor allem dafür, mich (den
6 Cardano
81
nämlichen, dessen sich seine Vaterstadt, seine Famihe, der Senat,
das Kollegium der Ärzte zu Mailand und Pavia, die ganze Pro*
fessorenschaft und endlich seine Schüler zuvor hatten schämen
müssen) zum Eintritt in die Accademia degli Affidati zu bewegen,
der mehrere hervorragende Theologen angehörten, zwei Kardia
näle, wie man sich erzählte, und zwei Fürstlichkeiten, der Herzog
von Mantua [federigo gonzaga] und der Markgraf von Pes#
cara. Und da sie sahen, daß ich mich nur ungern dort aufnehmen
ließ, suchten sie mit Drohungen mich ihrem Willen gefügig zu
machen. Was hätte ich tun sollen, noch ganz erschüttert durch das
fürchterliche Ende meines Sohnes? Jede Art von Unglück hatte
ich schon erfahren, und so gab ich schließlich nach, deshalb vor
allem, weil man mich in der Accademia für bestimmte Tage vom
Abhalten der Vorlesungen dispensierte. Ich durchschaute damals
diesen durchtriebenen Plan noch nicht, wußte nicht, daß sie mich,
den sie jetzt aufnehmen wollten, kaum volle zwei Wochen zuvor
in allen Kreisen der Stadt hatten ächten wollen als aller Knaben
Ehegemahl! Gerechter Gott! O du unmenschliche Niedertracht
der Menschen! O bittres Los, Verbrechern und Verrätern Freund
zu sein! Schamlose Grausamkeit, tückischer als Schlangengezücht!
Was weiter geschah? Als ich zum ersten Male das Haus der Acca;:
demia betrat, sah ich einen Balken, der so gestellt war, daß er
wie von ungefähr auf jeden unbedacht Eintretenden herunter*
fallen und ihn erschlagen konnte. Ich weiß nicht, war dies Zufall
oder mit Absicht so gemacht. Aber ich begab mich auf jeden Fall
nur so selten wie möglich dorthin, schützte irgendwelche Gründe
vor oder kam auch unerwartet und zu ganz anderer als der be^
stimmten Zeit. Sorgfältig achtete ich auf die besagteMäusefalle. Aber
der Balken rührte sich nicht. Vielleicht glaubten sie, das Verbrechen
nicht so ganz in aller Öffentlichkeit begehen zu dürfen, vielleicht
dachten sie auch gar nicht daran, sondern führten andere Pläne
im Schilde. Etwas dieser Art war wohl im Spiele, als man mich
wenige Tage später zu dem kranken Kinde des Chirurgen pietro
MARCO TRONi rief. Sie hatten an der Türe ein Stück Blei, das an«
anscheinend die Binsenvorhänge festhalten sollte — ich weiß
nicht recht, was es eigentlich war, noch wie und mit welchem
Kunstgriff sie es fertig gebracht hatten — so angebracht, daß es
82
herunterfallen mußte. Es fiel auch tatsächlich herunter, und hätte
es mich getroffen, wäre es um mich geschehen gewesen. Und Gott
weiß, wie wenig dazu fehlte. Seit dieser Sache lebte ich immer in
einer unbestimmten Angst, ohne im einzelnen zu wissen, was ich
fürchten sollte ; aber so ängstlich und aufgeregt war ich durch diese
Dinge geworden. Doch höre nun den dritten Akt, der alles ent?
hüllte! Kurze Zeit später kam jenes Schaf [fioravanti] mit der
Bitte, sie wollten eine neue Messe aufführen, ich möge ihnen doch
die beiden musikverständigen Knaben, die ich im Hause hatte, leih;;
weise für diese Feierlichkeit überlassen. Meine Feinde wußten näm*
lieh, daß diese beiden die Speisen vor mir zu kosten pflegten, und
waren mit meiner Magd eins geworden, mir Gift zu geben. Vorher
schon hatten sie den ercole [visconti] gebeten, er möge doch der
geplanten Feierlichkeit anwohnen. Und der hatte, nichts Böses
ahnend, zugesagt. Als er aber sah, daß auch die beiden Knaben
verlangt wurden, witterte er Unheil. Er gab daher zur Antwort:
»Nur einer ist musikalisch, nicht beide.« Doch fioravanti, ein
plumper, ungeschickter Mensch, brannte so gierig darauf, beide
wegzubekommen, daß er sagte: »Schicke nur beide. Wir wissen
nämlich, daß auch der andere musikalisch ist, und wenn er auch
nicht so viel davon versteht, so kann er doch mit den anderen
Knaben im Chor mitsingen.« Antwortete ercole: »Wartet ein
wenig — es war nämlich noch ein zweiter mit fiorovanti ge*
kommen — ich will den Herrn fragen.« Er kam und erzählte mir
alles genau, so daß ich mir, wenn ich nicht ganz blöde und ver«
rückt gewesen wäre, leicht hätte erklären können, worum es sich
handelte; doch auch jetzt merkte ich nichts von dem Anschlag.
Ich begnügte mich also damit, wie mir visconti riet, die Knaben
nicht herzugeben. Worauf dann fioravanti und der andere wieder
gingen, denn ercole gab ihnen zur Antwort, der zweite Knabe
verstehe auch nicht eine Note von Musik. Aber es waren noch
keine 14 Tage oder nur wenig mehr vergangen, da kamen die
zwei wieder mit der Bitte, ich möge ihnen beide Knaben leihweise
überlassen, sie wollten eine Komödie zur Aufführung bringen.
Doch jetzt kam ercole zu mir herein und sagte: »Nun ist die
ganze Geschichte klar: sie wollen deine ganze Dienerschaft vom
Essen fernhalten, um dich vergiften zu können. Und wir müssen
6*
83
uns nicht nur vor jedem Anschlag der Art in Acht nehmen, son#
dem bei jeder nur möghchen Gelegenheit die Augen offen halten,
denn ganz ohne Zweifel suchen diese Leute nach allen Mitteln,
dich aus dem Weg zu räumen.« Ich sagte zwar: »Ich glaube auch.«
Doch innerlich konnte ich noch immer nicht an einen so entsetz*
liehen Anschlag glauben. »Was soll ich ihnen sagen lassen?« frug
ich dann ercole. »Sag, du brauchest deine Diener selber« — meinte
er. Und so zogen die beiden wieder ab.
Schließlich aber waren sie nach langem Ratschlagen, wie ich glaube,
fest entschlossen, mich auf jeden Fall irgendwie umzubringen.
Es war ein Samstag, wenn ich mich nicht täusche, den 6. Juni, als
ich ungefähr um Mittemacht erwache und entdecke, daß ich einen
bestimmten Ring, in den ein Amethyst eingeschlossen war, nicht
mehr am Finger hatte. Ich rufe einen der Knaben, er solle auf*
stehen und suchen. Doch er sucht umsonst. Ich stehe selbst auf,
heiße ihn ein Licht anzünden, er geht, kommt wieder und sagt,
es sei kein Feuer da. Ich fahre ihn heftig drohend an, heiße ihn
noch einmal suchen, nun kommt er vergnügt wieder, mit einer
Zange Feuer, das heißt eine glühende Kohle von der Größe einer
Erbse haltend. Ich sage: »Das wird nicht genügen.« Er be*
hauptet, kein anderes Feuer zu finden. Nun heiße ich ihn, die
Kohle anzublasen, und als er dreimal geblasen hatte und schon
die Kerze von der Kohle wieder entfernte, weil er keine Hoff*
nung mehr hatte, sie anzünden zu können, sprang plötzlich eine
große Flamme empor und entzündete die Kerze. Da sagte ich:
»Hast du es gesehen, giacomo Antonio (so hieß der Bursche mit
dem Vornamen)?« Er antwortete: »Was?« Worauf ich erwidere:
»Daß die Kerze, obschon aus der Kohle keine Flamme kam, sich
doch entzündet hat.« Und ich sagte ihm: »Gib also acht, daß sie
nicht wieder verlösche!« Wir suchen den Ring, und er findet sich
auf dem Fußboden, der Mitte des Bettes gegenüber, an einer
Stelle, wohin er nur fallen konnte, wenn er mit großer Gewalt an
die Wand geworfen von dort zurücksprang. Daraufhin gelobe ich
mir, am kommenden Tag das Haus nicht zu verlassen, und alle
Umstände waren diesem Gelübde günstig: der Tag war ein Feier.<
tag, und ich hatte zudem keinen Kranken zu besuchen. Nun kamen
aber am Morgen in der Frühe vier oder fünf meiner Schüler mit
84
ZAFFiRO [einem Professor an der Universität zu Pavia] und baten
mich, ich möge doch an einer Mahlzeit teilnehmen, bei der alle
Professoren der Universität und alle angesehenen Mitglieder
der Accademia anwesend seien. Ich sagte, ich könne nicht. Die
andern, die wußten, daß ich nie zu Mittag speiste, und glaubten,
ich wolle nur deshalb an dem Essen nicht teilnehmen, erklärten:
»Deinetwegen haben wir dies Essen auf den Abend verlegt.«
Doch ich wiederholte meine Antwort: »Ich kann auf keinen Fall.«
Sie wollen den Grund wissen, und ich erwidere: »Eines bösen
Vorzeichens wegen habe ich ein Gelübde getan.« Da wunderten
sich alle; doch zwei von ihnen baten mich nach langem, ange#
strengtem Besinnen immer wieder, ich möge doch in ein so feiere
liches Mahl nicht durch meine Abwesenheit einen Mißklang
bringen. Ich beharrte aber trotzdem auf meinem ersten Bescheid.
Und ungefähr nach einer Stunde kommen sie wieder und bitten
noch viel inständiger, doch ich erwiderte, ich wolle mein Gelübde
nicht brechen und hätte mir durchaus vorgenommen, heute das
Haus nicht zu verlassen. Am Abend freilich ging ich bei dunkel*
bewölktem Himmel trotzdem aus, einen armen Kranken, einen
Fleischer, zu besuchen, denn ich fühlte mich durch das Gelübde
durchaus nicht gebunden.
So lebte ich in beständiger Angst und Aufregung, bis ich mein
Vaterland [das Herzogtum Mailand] ganz verließ.^ Und gleich
nach meinem Weggang bestimmte auch tatsächlich der Senat, daß
jener schlaue Fuchs mein Nachfolger im Lehramt werden solle. Und
der tanzte vor Freude, daß er sein Ziel erreicht. Aber was sind der
Sterblichen Hoffnungen? Nicht drei* oder viermal hielt er seine
Vorlesung, da befiel ihn, wie ich erfuhr, eine Krankheit, die uns
gefähr drei Monate dauerte. Dann starb er, ein Verbrecher durch
und durch. Ich habe nämlich später einen seiner Trinkgenossen
kennen gelernt, der um den bei einem Gelage entworfenen An*
schlag gegen mich wußte. Im gleichen Jahre starb auch delfino
und bald darauf fioravanti. Und dasselbe geschah, wenn auch
erst etwas später, ebenso vielen Ärzten, die zu Bologna Anschläge
gegen mich geschmiedet hatten, denn »gestorben sind, die meiner
Seele nachstellten«. Hätte aber Gott es zugelassen, so hätten meine
^ Ende 1562 ging cardano als Dozent an die Universität zu Bologna.
85
Feinde mir, dem von so viel Unglück Heimgesuchten, nach ihrer
Art vergolten für die Wohltaten, die ich so unaufhörlich der
Menschheit erwiesen habe. Ich aber hatte gelernt, in solchen Din*
gen vorsichtig mich zurückzuziehen. Mich schreckte das Schick?
sal meines Oheims paolo, der an Gift gestorben war, und das
meines Vaters, dem man zweimal Gift gegeben hatte ; und wenn
er auch schließlich mit dem Leben davonkam, so verlor er doch
durch die Sache alle seine Zähne.
Und was ist mir zu fast der gleichen Zeit nicht sonst noch an Un#
glück zugestoßen! Mitten in der Julihitze mußte ich von Mailand,
wo ich mich vorübergehend aufhielt, nach Pavia reisen, weil dort
mein kleines Enkelkind schwer erkrankt war. Von diesem ange*
steckt bekam ich die Gesichtsrose und dazu Zahnschmerzen, so
daß ich schon nahe daran war, der Krankheit durch einen Ader*
laß zu begegnen, wenn nicht der nahe bevorstehende Neumond
mich abgehalten hätte. Mit dem Neumond aber besserte sich mein
Befinden, und so entging ich der doppelten Gefahr der Krank*
heit und der Kur. Dazu kam ein Mordanschlag, den ein Bedienter
Geldes wegen auf mich machte und den ich nur wenige Stunden
vor der geplanten Ausführung entdeckte. Und nach diesem plagte
mich ein schwerer und langwieriger Anfall von Podagra. Im Jahre
1572 kam ich dann mehrmals infolge verbrecherischer Überfälle
in ernste Lebensgefahr; ich fand mich noch nicht in allen Straßen
Roms zurecht, und in gewissen Gegenden der Stadt herrschen
solch verwilderte Zustände, daß schon viele Ärzte, die vorsieh*
tiger und mit den Verhältnissen vertrauter waren als ich, dort ihr
Leben eingebüßt haben. U'nd da ich nun allmählich sah, daß es
mehr die göttliche Vorsehung als meine eigene Geschicklichkeit
war, die mich aus allen diesen Unfällen rettete, hörte ich fürder*
hin ganz auf, irgend welcher Gefahren wegen unmutig und angst*
lieh zu sein. Und wer sieht nicht ein, daß alle diese Verfolgungen
nur Vorzeichen eines kommenden Ruhmes waren und daß jenes
trübe Jahr 1562 gleichsam nur eine Art Vigil jener hohen Fest*
tage war, da ich das Lehramt zu Bologna erhielt, mit dem mir dann
nach so vielen Mühsalen und Aufregungen acht ruhige Jahre einer
ehrenvollen und segensreichen beruflichen Tätigkeit und eines
friedlich angenehmen Lebens beschieden waren?
86
Einunddreißigstes Kapitel
GLÜCK
Zwar scheint mein ganzes Wesen mit dem Begriff Glück nicht
das mindeste zu tun zu haben, und doch komme ich der Wahr*
heit näher, wenn ich sage, daß es mir vergönnt gewesen, wenigstens
manchmal und teilweise glücklich zu sein. Glück war es erstens,
daß bei mir, wenn bei irgend einem Menschen, ganz deutlich
immer alles bis aufs äußerste genau im richtigen Zeitpunkt ein::
traf, so daß in den meisten Fällen mein ganzes Leben zerstört ge*
wesen wäre, wenn der Beginn eines Ereignisses auch nur ein wenig
früher und rascher eingesetzt, das Ende auch nur um ein weniges
sich hinausgeschoben hätte.
Glücklich war ich zweitens während einiger Jahre, glücklich wenig*
stens im Vergleich zu meinem übrigen traurigen Leben. Ich meine
die Zeit, da ich in dem Städtchen Sacco wohnte. Wie unter den
Giganten notwendigerweise einer der kleinste, unter den Pyg#
mäen einer der größte ist, ohne daß deshalb dieser Gigant klein,
der Pygmäe groß zu sein brauchte, so war auch ich, da ich in
Sacco lebte, verhältnismäßig glücklich, ohne daß daraus folgte,
daß ich überhaupt je einmal glücklich gewesen wäre. Damals
spielte ich, trieb Musik, ging spazieren, speiste, vertiefte mich
mitunter, wenn auch selten, in meine Studien, hatte keinen Ärger
und keine Sorgen, war geachtet und verehrt und verkehrte freund*
schaftlich mit vornehmen Venezianern — die blühend schönste
Zeit meines Erdendaseins! Nichts Freundlicheres mag es geben
als jenes Leben zu Sacco, das fünf und ein halbes Jahr währte,
vom September 1526 bis zum Februar 1532. Der Podestä hatte
mir seine Freundschaft geschenkt, und das Rathaus war mein
Reich und meine Rednerbühne. Doch jene Tage sind längst er*
loschen; in meinem Gedächtnis aber ist ihr Bild eng zusammen*
geschrumpft zu einem bloßen Gefühl starker Lust, und oft führt
mich darum ein freundlicher Traum in diese alte schöne Zeit
zurück.
Das dritte Glück aber, das mir geworden ist, ist größer als all
dies. Wie zu einem glücklichen Leben schon die Gabe notwendig
ist, wenigstens das zu sein, was man sein kann, wenn man nicht
87
sein kann, was man will, so ist zu einem reicheren und volleren
Glücke nötig, von all dem vielen, was wir uns wünschen, gerade
das zu besitzen, was uns das Beste ist. Es ist uns also notwendig,
zunächst genau kennen zu lernen, was wir schon in unserem Be*
sitze haben, sodann von all dem uns ein oder zwei oder drei
Dinge — und zwar Dinge, die möglichst gut sind — als die besten
vor Augen zu halten und unsere ganze glühende Liebe und Be*
gierde nur an diese und ähnliche Dinge zu hängen, die wir schon
besitzen, und außerdem uns diesen Besitz, und zwar nicht bloß
das Gute, das wir als unser Höchstes uns erwählt haben, sondern
auch alles andere, so nutzbringend und vorteilhaft als möglich zu
erhalten. Und endlich ist es nötig, daß wir diese Lebensgüter auf
die beste Weise besitzen. Denn ein anderes ist es, überhaupt zu
besitzen, ein anderes, gerade die besten Güter zu besitzen, ein
anderes, was wir besitzen, auf die beste, das heißt auf voll*
kommene Weise zu besitzen. Ich weiß sehr wohl, daß es nicht an
Leuten fehlen wird, die diese Lehren als paradox verachten. Wer
aber die Eitelkeit aller irdischen Dinge wohl bedenkt und die Ge*
schichte vergangener Zeiten kennt, der wird sehr leicht einsehen,
daß dies alles durchaus wahr ist, mehr als wir möchten. Und wenn
du mir auch jetzt noch nicht recht geben willst, so wird doch die
Zeit dir einmal alle Schleier lüften und dir beweisen, daß es um
diese Dinge so steht, wie ich sagte.
Als Exempel will ich hier anführen das Schicksal des augustus,
des M. scAURUs, des seneca, des acilius. Ganz gewiß war des
AUGUSTUS Lebensstellung hochbedeutend und hochgeehrt und er
selbst nach allgemeinem Urteil ein glücklicher Mensch. Und was
ist heute noch von ihm übrig? Keine Nachkommenschaft und
kein Monument; alles ist von der Erde getilgt. Und ob wohl von
seinen Knochen etwas geblieben ist? Wer wollte oder wünschte
gar heute mit ihm zu tauschen? Wer braucht heute seinem Namen
zu zürnen, weil er ihm zu übermächtig wäre? Und setzen wir den
Fall, es wäre heute anders, was nützte es ihm? War er glücklich,
da er lebte? Besaß er denn mehr als die anderen Glücklichen
seiner Art, blühte ihm anderes als Hinterlist, Zorn, Wut, Angst
und Mord? Was er hatte, war ein Haus voll böser Skandale,
ein Hof wilder Umtriebe, Freunde, die ihn verrieten und be*
88
trogen. Solange er nicht schlief, war er unglücklich. Der Schlaf
war ihm lieber als das Wachen. Wie übel also muß für ihn die
Zeit des Wachens gewesen sein, wenn der Schlaf, der wertlose,
der gleichgültige, ihm wünschenswerter war? Und m. scaurus, was
halfen ihm seine Schätze, Schauspiele, sein verschwenderisches
Treiben, von dem allem nichts mehr, kein Hauch mehr übrig ist?
Unruhen, Ängste, Aufregungen, Mühsale füllten sein Leben. Was
sollten ihm Feste, Prunk und Vergnügungen anderer? Und was
konnte an Glück im Leben eines acilius sein, als sein Reichtum
zerflossen war, als Schmerzen statt Vergnügen, Armut statt Üppig?
keit bei ihm eingezogen waren? Es macht mir wahrlich keine
Mühe nachzuweisen, daß acilius unglücklich war; gibt es denn
ein offenkundigeres Unglück als ein Leben, das gestern voll Glück
und Annehmlichkeit war, heute in Elend versunken ist? Und
was ist von seneca heute noch übriggeblieben als sein schlechter
Ruf? Eine Seele kann nicht glücklich sein, die mitten in einer
Horde geiler Menschen lebt, an Tischen von Zedernholz und
Elfenbein, während ganz Italien unter der Mißwirtschaft zu*
sammenbricht, und wenn sie auch, wie seneca, so viele Gärten
besitzt, daß ihre Zahl sprichwörtlich wird. Und als ihn dann die
Furcht vor dem Gifte neros zwang, von Brot allein zu leben und
von Obst und von Wasser, das er sich selber aus der Quelle
schöpfte, hat er bewiesen, daß niemandem, wenn er nur den
Willen hat, der zu einem glücklichen Leben nötige Unterhalt
fehlt, wenn so wenig dem allerüppigsten Schwelger genügt; denn
was er früher wohl an Genüssen sich gönnte, das diente seiner
Lust, nicht seinem Leben. Doch was beweist die Richtigkeit
meines Satzes besser als die törichte Prahlerei des l. sulla? Nach
dem Tode des jüngeren marius ließ er sich den Glücklichen
nennen, und doch war er damals der Elendeste aller Elenden, ein
Greis, ein Scheusal, blutbefleckt von Mord und Proskriptionen,
von zahllosen Feinden rings umgeben, ein gesetzloser Tyrann.
Wenn der sich glücklich nennen durfte, dann bin ich selbst weit
eher noch dieses Namens würdig!
So leben wir denn, da doch uns Sterblichen kein Glück vergönnt
ist, nur ein welkes Dasein, öde, leer.
Wenn es aber überhaupt im Leben ein Gutes gibt, womit wir dieser
89
Komödie Bühne schmücken können, so bin ich um dergleichen
wahrHch nicht betrogen worden: Erholung, Ruhe, stille Be?
haglichkeit, Besonnenheit, Ordnung, Abwechslung, Heiterkeit,
Unterhaltung, angenehme Gesellschaft, Behaglichkeit, Schlaf,
Essen und Trinken, Reiten, Rudern, Spazierengehen, Neuig?
keiten, die man erfährt, Überlegung, ruhige Betrachtung, gute
Erziehung, Frömmigkeit, Ehe, fröhliche Gastereien, ein gutes,
wohlgeordnetes Gedächtnis, Sauberkeit, Wasser, Feuer, Musik,
viel Schönes für die Augen, angenehme Gespräche, Erzählungen
und Geschichten, Freiheit, Selbstbeherrschung, kleine Vögel,
junge Hunde, Katzen, der tröstliche Gedanke an den Tod, an
den ewigen Wechsel der Zeit, die an allen. Seligen und Elenden,
gleichermaßen vorübergeht, an Glück und Unglück, die Hoff:«
nung auf unerwartete Glücksfälle, die Ausübung irgend einer
Kunst, die man versteht, der mannigfache Wechsel in Wohnung
und Beschäftigung, die ganze weite Welt! Darf man denn noch
von Übel reden, wenn es eine solche Menge von wohltätigen und
weisen Dingen gibt, die uns das Leben hoffnungsfreudig machen?
Nein, wir leben durchaus nicht unglücklich, und würde nicht aller
Menschen Leben dem widersprechen, ich wagte kühn unser Das
sein das schönste Glück zu nennen. Doch es ist ein übler und
billiger Rat, zu lügen, um andere — nicht sich selbst — zu be*
trügen.
Hätte ich die Möglichkeit, mir meinen Aufenthalt frei zu wählen,
so würde ich nach Aquila oder Porto Venere ziehen, zwei Orte,
wo sehr angenehm zu leben ist, oder außerhalb Italiens nach Eryx
[Monte di San Giuliano] auf Sizilien, nach Dieppe am Flusse
Drudis [Arques?] oder ins Tempetal nach Thessalien. Denn ich
bin zu alt geworden, mich nach der Cyrenaica oder nach dem
heiligen Berg Zion in Judäa zu sehnen oder die indische Insel
Ceylon aufzusuchen, und weiß wohl, daß eine Gegend einen
glücklichen Menschen tragen, nicht ihn glücklich machen kann.
90
Zweiunddreißigstes Kapitel
EHREN, DIE MIR ZUTEIL WURDEN
Ich habe nie nach Ehren getrachtet und gestrebt, noch habe ich
sie je geliebt, wohl wissend, wie viel Unheil sie in das mensch*
liehe Leben bringen. Der Zorn ist ein großes Übel, doch seine
Wirkung ist nur eine vorübergehende; die Übel aber, die der
Ehrgeiz mit sich bringt, sind von Dauer. Er zerstört fürs erste unser
Vermögen, weil er uns zwingt, jede Arbeit und jede andere Art
des Gelderwerbs zu meiden, uns auffallender zu kleiden, üppiger
zu speisen, mehr Diener als sonst nötig zu unterhalten. Sodann
aber führt er uns in Todesgefahr und zwar auf so vielerlei Arten,
daß mir die Zahl gar nicht einfällt: indem er uns zum Zweikampf
zwingt, zum Krieg, zu ewigem Zank und Streit, zu höfischem Die*
nern bei Fürstlichkeiten, zu ungelegenen Gastereien, zum Beischlaf
mit der Gattin oder einer Dirne; wir durchmessen seinetwegen
alle Meere und behaupten, es sei ehrenvoll, für das Vaterland zu
kämpfen. Einem brutus war es ein vertrauter Gedanke, in der
Schlacht den Opfertod zu sterben, scävola verbrannte seine Rechte,
FABRicius wies das verführerische Gold zurück. Dies letztere war
vielleicht klug, alles andere dagegen war töricht, ja durchaus ver*
rückt. Es ist wirklich kein Grund, über das Vaterland große Worte
zu machen. Was heißt Vaterland denn anderes als das stille Zusam*
menwirken — ich rede hier namentlich von den Römern, Kartha*
gern, Lakedämoniern, Athenern, bei denen unter diesem Vorwande
stets die schlechten Elemente gewillt waren über die guten zu herr*
sehen, die übermütigen über die elenden — das Zusammenwirken
sage ich der kleinen Tyrannen zur Unterdrückung der Schwachen
und Furchtsamen, die doch meist unbescholten und unschuldig
sind? O Niedertracht der Menschen! Oder glaubst du etwa, so
verschwenderisch gingen diese Helden mit ihrem Leben um, daß
sie der reinen Ehre wegen den Tod fürs Vaterland auf sich ge?
nommen hätten? Tölpel und Elende, die sie waren, sagten sie sich :
»Gibt es etwas Erbärmlicheres als mein Dasein? Wenn ich aber
jetzt diesen Kampf lebendig überstehe, so zählt man mich zu den
Großen meiner Stadt, und wie der oder jener werde ich fremdes
Gut mein eigen nennen dürfen, so wie heute andere mein eigenes
91
Gut besitzen. Sterbe ich aber, so werden meine Nachkommen vom
Pflug hinweg zu Triumphen und stolzen Festen gerufen werden. «^
Das war die Liebe zum Vaterland, der Stachel des Ehrgeizes! Ich
will mit dieser Anklage nicht jene Städte treffen, die um ihre Frei*
heit kämpfen, oder jene Fürsten, deren segensreiche Regierung
allein darin besteht, die Gerechtigkeit zu schützen, die Guten zu
fördern, die Gedrückten aufzurichten, die Tugenden zu pflegen,
sich selbst und die andern, die schon die meiste Gewalt im Staat
erworben haben, besser zu machen, so daß die Arbeit allein ihnen
Lohn und Ehre ist. Auch ist es noch kein Fehler, wenn ein Staat
über andere herrschen, ein Bürger andere überragen will; die Not*
wendigkeit der Ordnung hat die Herrschaft, die Schlechtigkeit
der Menschen erst hat die Tyrannei geboren.
Doch kehren wir zu allgemein bekannten Wahrheiten zurück; das
eben Gesagte verstehen ja nur wenige. Das Streben nach Ansehen
und Ehre raubt uns Zeit, denn es zwingt uns, sovielen Menschen
unser Ohr zu leihen, soviel Besuche zu empfangen; es entzieht
uns jeder Beschäftigung mit Dingen der Lebensweisheit, die doch
das Göttlichste ist, was dem Menschen verliehen ward. O wie viele
Menschen — ich meine nicht meine würdigen Leser — liegen stumpf
in ihrer Trägheit und könnten doch noch immer diesen einzig wah?
ren Preis und echte Zier der Ehre sich erwerben, wenn sie nur
zwei oder drei volle Jahre lang jene zwei Stunden, die sie täglich
darauf verwenden sich zu frisieren und zu putzen, dieser Beschäfs
tigung mit Dingen der Lebensweisheit widmen wollten 1 Und dann
hält uns die Ehrsucht auch davon ab, für unser Hauswesen und auch
für unsere Kinder Sorge zu tragen, was der größte Wahnsinn ist. Sie
setzt uns dem Neid aus, und der Neid erzeugt uns Haß und Schel*
sucht, und aus diesen wiederum erwachsen uns weitere Übel, öffent^
liehe Verleumdungen, Verfolgungen, Anklagen, Angriffe auf unser
Leben, Verlust unseres Vermögens und unaufhörliche Quälereien.
Ihretwegen verlieren wir unsere eigene Freiheit zum größten Teil,
wenn nicht völlig, ja schließlich auch— wenn du es mit der Anschau*
ung des Volkes halten willst— alles, was an Gutem uns noch im
Lebengeblieben ist, die Lust selbst. Und so wandeln wir auf diesem
Wege von der Ehre geführt und geleitet ehrenvoll genug zum ver*
derblichsten allerÜbel.zur mattherzigenTrägheit; in ihr versinken
92
schlechte Jünghnge, ganze Häuser gefährdet sie und richtet sie
zugrunde. Alles, was wir ein Gut zu nennen pflegen, birgt in sich
doch wenigstens irgend etwas Gutes: unsere Kinder einen An#
fang unseres dauernden Fortlebens, die Freundschaft ein nicht
kleines Stück echten Glückes, der Reichtum die Möglichkeit eines
angenehmen Lebens, die Tugend im Unglück Trost, im Glück
eine Zierde, Gesellschaft und Genossenschaft eine größere Sicher*
heit des Lebens, andere anderes; einzig allein die Ehrsucht ist
unfruchtbar und durchaus wertlos.
So sollen wir also immer und überall Ehrungen meiden und
fliehen? Ganz gewiß nicht! Denn erstens mehrt die Ehre das
Vermögen, die Macht, die Möglichkeit des Verdienstes und zwar
bei Beamten sowohl als Ärzten und Malern und überhaupt bei
den Künstlern, wie man denn auch zu sagen pflegt: die Ehre nährt
die Kunst. Zweitens schützt die Ehre, wie auch die Gemeinschaft
und Vereinigung, den Menschen vor vielen Gefahren, nament:s
lieh dann, wenn er unter schwerer Mißgunst, unter falschen Ver#
dächtigungen und ungerechten Verurteilungen zu leiden hat. Drit*
tens verleiht die Ehre Macht, vor allem beim Militär und in ein*
zelnen Ämtern, zu denen man nur durch Wahl gelangt und die
man der Reihenfolge nach zu durchlaufen hat. Äußere Ehre ist
vor allem dann am Platze, wenn es sich darum handelt, Schande
und Unehre, die jedenfalls schlechter sind als Ehre, wieder gut*
zumachen; sie ist wertvoll der Vorteile wegen, die mit ihr ver?
bunden sind, und von großem Nutzen dann, wenn man in Kreisen
verkehrt, wo man sonst noch unbekannt ist. Viertens endlich läßt
sie sich gut gebrauchen, wo die Tüchtigkeit fehlt, und macht über*
dies nicht viel Arbeit.
An Gaben dieser Art ist das Schicksal mir gegenüber nicht
geizig gewesen. Schon als ich einmal als Knabe nach Cardano
kam, gaben mir viele dort das Geleit — ein Vorzeichen künftigen
Schicksals. Dann als ich das Latein erlernt hatte, bin ich sofort
in unserem Heimatsdorf bekannt geworden, und als ich mich
später nach Pavia begab, haben mir viele freiwillig das Geleit ge*
geben. Auch machte man mir Angebote, die, hätte ich sie ans
genommen, mir den Weg zu hohen Ehren beim Papst pius iv. ge*
öffnet hätten. Meine Disputationen verliefen ganz glücklich, und
93
selbst ein matteo curzio [s. u. S. 105] hat sich, mir zu Ehren,
herabgelassen, mit mir zu disputieren. Ich dozierte sodann Mathes
matik, freilich nur ein einziges Jahr, da die Akademie sich auf*
löste. Im Jahr 1536 erhielt ich einen Ruf an den Hof Papst paul iii.
Schon zwei Jahre lang hatte ich damals Mathemathik doziert,
außerdem Geometrie, Arithmetik, Astrologie, Architektur. Im
Jahre 1546 machte mir der sehr erlauchte morone [s. o. S. 13]
das Angebot, ich solle meinen Beruf in Rom mit einer vom
Papst bezahlten Besoldung ausüben. Im Jahre darauf bot mir an*
DREAS VESAL [s. o. S. 13] als Abgesandter des Königs von Däne*
mark, wenn ich in dessen Dienst treten wolle, ein jährliches Ein*
kommen von 306 ungarischen Goldgulden an, die aus den Ab*
gaben des Handels mit vornehmen Pelzen in die königliche Kasse
flössen. Dieses Geld unterscheidet sich im Wert von der könig*
liehen Münze um ein Achtel, wird auch etwas säumig ausbezahlt,
ist nicht durchaus vollgültig anerkannt und bis zu einem gewissen
Grad zufälligen Schwankungen im Kurs unterworfen. Außerdem
wurde mir der Lebensunterhalt für mich, für fünf Diener und drei
Pferde zugesichert. Das dritte Angebot war das in Schottland.
Ich scheue mich, die Summe zu nennen; sie war so groß, daß ich
in wenigen Jahren der reichste Mann gewesen wäre. Das dänische
Angebot nahm ich deshalb nicht an, weil die Gegend mir allzu
kalt und feucht ist, die Einwohner vollkommene Barbaren sind
und ihre kirchliche Verfassung und ihr Ritus sehr von denen der
römischen Kirche verschieden sind, das schottische aber deshalb,
weil es mir nicht erlaubt gewesen wäre, dies Geld durch Bank*
agenten und reisende Wechsler nach England, viel weniger nach
Frankreich oder gar Italien zu schicken. Dies war im Jahre 1552,
im Monat August; im Oktober machten mir der sehr gelehrte
[CLAUDE laval] Herr von bois*dauphin [s. o. S. 48] und philan*
DRiER,einer der Sekretäre des französischen Königs [heinrich ii.],
ein anderes Angebot: ich sollte 800 Gulden für jedes Jahr meines
Dienstes erhalten, oder eine Kette im Wert von 500 Goldgulden,
wenn ich auch nur, wie sie sagten, des Königs Hand küssen und
sogleich wieder fortgehen würde. Andere suchten mich für den
Kaiser [karl v.] zu gewinnen, der eben damals Metz belagerte.
Ich lehnte beide Angebote ab; das letztere, weil ich den Kaiser
94
in der schwierigsten Lage sah, da er durch Hunger und Kälte den
größten Teil seines Heeres verloren hatte, das andere, weil ich
es nicht für schicklich hielt, einen Herrn zu verlassen, um seinen
Feinden anzuhängen. Als ich nun von Antwerpen nach Basel
reiste, nahm mich dort der erlauchte Herr carolo affaidato in
seiner Villa auf und zwang mich trotz meines Widerstrebens mit
allen Künsten der Überredung, ein prächtiges Maultier, das einen
Wert von fast 100 Goldgulden haben mochte, als Geschenk an;:
zunehmen. Es war das nämlich ein Herr von ganz seltener Liebens?
Würdigkeit und Freigebigkeit, ein Freund aller Männer, die sich
durch Tüchtigkeit hervortaten. Auf derselben Reise bot mir auch
ein vornehmer Genuese namens ezzelino ein Reitpferd an von der
Art, die der Engländer in seiner Muttersprache »obin« [dobbin?]
nennt. Ich schämte mich fast, es anzunehmen; denn man konnte
sich meiner Ansicht nach kein schöneres und wertvolleres Ge*
schenk wünschen. Es war ganz weiß und überaus fein gebaut, und
zwar waren es zwei fast ganz gleiche Pferde, zwischen denen er
mir die Wahl ließ. Im Jahre darauf machte mir der [kaiserliche
Statthalter von Mailand] Fürst dom Fernando [gonzaga], wie man
ihn gewöhnlich nannte, ein Angebot von 30000 Gulden, wenn
ich auf Lebenszeit in den Dienst seines Bruders, des Herzogs
von Mantua, träte, und zwar sollten mir sofort am ersten Tage
1000 Gulden von dieser Summe ausbezahlt werden. Doch ich
hatte keine Lust anzunehmen, dom Fernando wunderte sich dar?
über und ward verstimmt. Es lag ihm viel daran, mich für diese
ehrenvolle Stelle zu gewinnen, mir dagegen weniger; und als alle
Mahnungen nichts fruchteten, ging er schon zu Drohungen über,
aber schließlich sah er den Grund ein, warum ich, nach Art der
Wiesel [?], lieber sterben als mich beflecken wollte, und von die?
sem Tag an liebte er mich noch mehr als zuvor, wie es Brauch ist
bei Leuten, die eine durchaus vornehme Gesinnung haben. Das
sechste ehrenvolle Angebot erhielt ich, wie ich schon erzählt habe,
im Jahre 1552 durch den Vizekönig brissac [s. oben S. 71], der
mir jedes nur denkbare Anerbieten machte, vor allem auf Anraten
des LOUIS BiRAGUE, unseres erlauchten Mitbürgers. Alle andern
suchten mich als Arzt, brissac als Ingenieur zu gewinnen; doch
die Stellung entsprach meinen Wünschen nicht.
95
— Doch ehe ich in meinem Thema fortfahre, will ich nur mit einem
einzigen Wort erklären, wie es möglich war, daß ein so ganz armer
König, wie der von Schottland, der, wie es heißt, nicht mehr als
40000 Gulden jährlicher Einkünfte hat, mir ein so üppiges Ans
gebot machen konnte. Diesem König sind, wie man behauptet,
14000 Adlige Untertan, obwohl ich nicht glaube, daß es soviele
sind. Und diese Adligen sind durch ein Gesetz (einige sagen auf
Widerruf) verpflichtet, für ihren König drei Monate lang im könig«
liehen Heerlager Waffendienste zu tun. Und wenn während dieser
Zeit einer stirbt, so ist der König (und gewohnheitsrechtlich auch
der, dem der König dies Recht im einzelnen Fall übertragen hat)
Vormund seiner Kinder, bis der Ältestgeborene das 21. Jahr er*
reicht oder vollendet hat. In dieser Zeit muß der Vormund
den Waisen Kleidung und Unterhalt reichen, alle anderen Ein=
künfte sind sein eigen, ohne daß er je darüber Rechenschaft ahf
legen muß, da er an der Stelle des Königs steht. Und was noch
wichtiger ist, der Vormund kann sein Mündel, sei es nun männlich
oder weiblich, ehelich vermählen, mit wem er will, vorausgesetzt
nur, daß der oder die, die geheiratet werden sollen, selbst von Adel
sind, und die Mitgift, die das Paar erhält, richtet sich nicht nach
der Vermögenslage des Mündels, sondern nach der Willkür des
Vormunds. —
Ich komme zum Thema zurück. Dreimal bin ich zu Pavia angestellt
worden, viermal vom Senat in Mailand, dreimal von dem zu
Bologna; doch war die letzte Anstellung ungültig. Zu Paris warteten
40 vornehme Herren auf meine Rückkehr aus Schottland, um meine
ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, und einer bot mir für sich
allein 1000 Gulden dafür an. Doch ich hätte auf der Rückkehr
den Umweg über Paris nur mit Mühe machen können, jedenfalls
wagte ich es nicht. Ich habe jetzt noch einen diesbezüglichen Brief
des Pariser Präsidenten aimar de ranconet [s. oben S. 41], der,
wie ich an anderer Stelle schon gesagt habe, ein im Latein und
Griechischen höchst gebildeter Mann war. Überhaupt ging es mir
auf meiner Reise durch Frankreich und Deutschland genau wie
einst dem plato zu Olympia. Auch will ich noch an das schon
einmal erwähnte Zeugnis erinnern, das das Kollegium von Padua
über mich an den Stadtpräfekten abgab [?]. Und ähnlich ehren*
96
voll war für mich, daß ich in Venedig [?] von den mehr als 60
Stimmen, die in Betracht kamen, sämtliche erhielt, was notwendig
war, da die Sache [?] nur zum Abschluß kommen konnte, wenn
niemand widersprach. Ein ähnliches Glück hatte ich, als im Senat
von Bologna bei meiner Wahl [zum Professor im Jahre 1562?] von
29 Stimmen 28 auf mich fielen, denn bei einer geringeren Zahl
als 25 wäre meine Wahl unmöglich gewesen.
Auch das darf ich mir zur Ehre anrechnen, daß mein Name nicht
nur in allen Ländern, sondern auch bei allen Fürsten und Königen
und Kaisern der ganzen Welt bekannt ist. Und wenn man dies
vielleicht auch an sich als nutzlos bezeichnen darf, so kann es doch
nicht geleugnet werden, und was du im vereinzelten Falle ver#
achten magst, das kann doch sicher nicht der Verachtung wert
sein, wenn es in großen Mengen sich häuft: meine vielseitige
Kenntnis, meine Reisen, die Gefahren, die ich bestand, die vielen
Amter, die ich ausübte, die Angebote, die mir gemacht wurden, die
Freundschaft mit Fürsten, mein guter Ruf, meine Bücher, das Wun*
derbare, das mir bei Heilungen und anderen Dingen begegnete,
jene seltsamen, fast ganz übernatürlichen Erscheinungen [s. Kapi*
tel XLIII], außerdem mein Schutzgeist [s. Kapitel XLVII], mein
überall verbreitetes Ansehen, die Tatsache, daß ich Mitglied von
drei Kollegien von Ärzten bin, in Mailand, in Pavia und in Rom.
Auch habe ich nichts von all diesen Ehren auch nur mit einem
Worte nachgesucht, außer daß ich um die Aufnahme in das
Kollegium der Ärzte zu Mailand bat, die mir dann gegen Ende
des Monats August im Jahre 1539 erteilt wurde, und mich um ein
Lehramt zu Bologna bewarb ; beides tat ich von der Not getrieben,
nicht vom Stachel des Ehrgeizes. Und schließlich bin ich auch noch
vom Senat der Stadt Bologna mit dem Ehrenbürgerrecht geschmückt
worden.
Im allgemeinen ist, wie ich schon gesagt habe, die Ehre für den
Menschen eine erbärmliche Sache. Doch wenn es hier schon etwas
zu sagen hat, so habe ich davon nicht bloß etwas, sondern viel
mehr erlangt, als ich einst hoffte, wie auch jene Ehre des Beinamens
[»Mann der Erfindungen«, s. unten S. 189]. Doch wir wollen jetzt
von erlittener Unehre reden.
7 Cardano 3//
Dreiunddreißigstes Kapitel
WAS ICH AN UNEHREN ERLITT. WAS VON TRAU*
MEN ZU HALTEN IST. VON DER SCHWALBE IN
MEINEM WAPPEN
Über Sinn und Bedeutung der Unehre ist ganz anders zu handeln
als über die Ehre. Denn während es für die meisten Menschen
besser ist, alle Ehrungen zu fliehen, ist es nach der allgemeinen
Auffassung des Volkes keinem nützlich noch ehrenvoll, erlittene
Unehren ruhig zu tragen. Heißt ja doch das Sprichwort: »Er?
littenes Unrecht ruhig ertragen lädt jedermann zu neuem Unrecht
ein«. Sobald du ein Unrecht geduldig trägst, wird man dich ver?
achten, von neuem angreifen und erniedrigen. Ich rede ja hier
nicht vom jüngsten Knabenalter, denn ein Kind ist noch garnicht
fähig, beleidigt zu werden; und wäre dies doch der Fall, so würde
wohl gelten, was horaz [Sat. 1,6] von der väterlichen Erziehung
sagt:
»Selbst auch war er ein wacher und unbestechlicher Hüter
Mir bei den Lehrern allen umher.«
Doch, wie ich schon gesagt habe, Unehre und Verunglimpfungen
zu ertragen, das bringt dieselben Unbequemlichkeiten mit sich,
wie die Ehre, und noch größere; vor allem dann, wenn dabei Weiber
irgendwie im Spiele sind. Nun gibt es aber zweierlei Arten von
Ehre und Unehre, eine äußere und eine innere. Höchst widerlich
und unhaltbar ist die Lage eines Menschen, der äußerlich an Ehren
reich ist, innerlich dagegen an Unehre krankt; von Toren und
vom Pöbel ist er geehrt, die Besseren hassen und die Stolzen ver*
achten und verlachen ihn. Wer dagegen innerlich ehrenhaft ist
und nur unter äußerer Verachtung leidet, dessen Leben kann sicher
ruhig sein, wenn er nur selbst will und mit seinem Schicksal zu#
frieden ist. Die aber, die nachjederSeitehinvon Unwert, verachtet
und mit Mißachtung beladen sind, wie etwa bei uns die Lastträger
und Bauern, die befinden sich, wenn sie unter einem gerechten
Fürsten leben, ganz wohl, vor allem dann, wenn sie sich zu einem
Verband zusammentun. Wer dagegen innen und außen ehrenhaft
und der Ehre wert ist, der wird gar bald dafür bestraft werden
durch schmähsüchtige Verleumdungen, durch heimhche Angriffe
98
und Anschuldigungen. Vor öffentlichen Anklagen freilich ist er
sicher; denn wer so allgemein als gerecht verehrte Leute beleidi*
gen wollte, der müßte die Mißgunst des Volkes, ja für sein Leben
zu fürchten haben.
Als ich zu Bologna wohnte und gerade die Verhandlungen über
meine Anstellung schwebten, kamen zwei* oder dreimal bei Nacht
mehrere Leute im Namen von Senatoren und Richtern zu mir mit
der Bitte, ich möge ein Schriftstück unterschreiben, worin ausge*
führt war, daß ein wegen Religionsvergehens, Giftmischerei und
Zauberei bereits verurteiltes Weib vom Standpunkt des weltlichen
wie des geistlichen Rechts aus freigesprochen werden müsse, vor
allem aus dem Grunde, weil es ja nach der Ansicht der Philosophen
keine bösen Geister gebe. Des weiteren sollte ich verlangen, daß
ein anderes Weib, das freilich von den Richtern noch nicht ver#
urteilt war, aus dem Kerker entlassen werden solle, weil sie
krank sei und unter den Händen fremder Ärzte sterben würde.
Auch brachten sie mir ihre Nativität, ich solle ihnen daraus ihr
Schicksal verkünden, als wäre ich ein Wahrsager oder Prophet,
nicht Professor der Medizin. Doch war alle ihre Mühe umsonst,
und sie zogen wieder ab, ohne etwas anderes mit sich zu nehmen
als die üble Meinung, die ich von ihnen gewann. — Als ich in
meiner frühen Jugend, etwa 12 Jahre alt, einmal eine mit Pulver
geladene Pistole losfeuerte, so daß der papierene Stöpsel die Frau
eines anständigen Musikers verwundete, wurde ich mit der Faust
so heftig auf die Wange geschlagen, daß ich zu Boden fiel. — Die
Disputation, die ich zu Mailand hielt, war von vornherein über
meine Kräfte groß angelegt und endete deshalb wenig glücklich. —
Die Gewalttätigkeit einiger Arzte zwang mich im Jahre 1536 oder
37 bei der Verhandlung mit dem Kollegium [zu Mailand] die
schmachvollsten Bedingungen einzugehen. Doch wurde, wie ich
schon gesagt habe, dieser Vertrag im Jahre 1539 wieder gelöst, und
ich kam völlig zu meinem Rechte. — Im Jahre 1536, da ich als
Arzt im Hause der borromei verkehrte, sah ich in der Morgen*
dämmerung im Traum eine Schlange von außerordentlicher Größe
und hatte Angst, von ihr getötet zu werden. Und kurz daraufkam
ein Bote, ich möge den Sohn des Grafen camillo borromei,
eines sehr erlauchten und vornehmen Herrn, besuchen. Ich gehe
7*
99
hin und sehe, daß der Knabe (er war etwa sieben Jahre alt) nur
ganz leicht erkrankt ist; doch als ich ihm den Puls fühle, merke
ich, daß dieser immer nach dem vierten Schlage aussetzte. Die
Mutter, Gräfin Corona, fragte mich, wie die Sache stehe. Ich gab
zur Antwort, ich sehe kein großes Fieber, fürchte aber trotzdem
irgend ein unbekanntes Übel, weil der Puls immer nach dem
vierten Schlag aussetze. Ich kannte nämlich damals galens Bücher
über die Erkenntnis der Krankheiten aus dem Pulsschlag noch
nicht. Und als nun die Krankheit auch am dritten Tage noch un*
verändert blieb, verordnete ich, daß der Kleine eine Arznei, ge*
nannt Diarob, vermischt mit Turbit, in kleinen Mengen trinken
solle. Ich hatte das Rezept schon aufgeschrieben, und ein Bote
wollte damit zur Apotheke gehen, da fiel mir plötzlich mein Traum
ein. »Wer weiß«, sage ich zu mir selbst, »vielleicht ist das Aus*
setzen des Pulsschlags ein Anzeichen des nahen Todes? (Und
später, als man die Bücher [des galen] fand, erwies sich das als
zutreffend.) Und die mir so feindlich gesinnten hiesigen Ärzte
werden dann die Ursache des Todes in der starken Arznei sehen.«
Sofort rufe ich den Boten zurück, der noch keine vier Schritte
vom Hause entfernt war, und sage, es fehle noch etwas im Rezept,
was ich hinzufügen wolle, zerreiße dann das vorher Geschriebene
in aller Stille und schreibe ein anderes Rezept auf, ein Pulver aus
Perlen, Einhornbein, Edelsteinen. Man gibt das Pulver dem Kran*
ken; er schluckt es. Nun sehen die Umstehenden, daß es dem
Knaben sehr übel gehe, und man ruft noch drei hervorragende
Ärzte hinzu. Nur einer von ihnen, der auch bei der Angelegen*
heit mit dem Sohne des sfondrati zugegen war, war mir etwas
freundlicher gesinnt. Sie sahen die von mir verordnete Medizin —
was hätte ich machen sollen? Doch Gott wollte nicht, daß ich
noch mehr ins Unglück käme. Obwohl zwei von ihnen mich aufs
äußerste haßten, lobten sie nicht nur meine Verordnung, sondern
ließen die Arznei dem Kranken von neuem reichen. Dieser Um?
stand rettete mich. Als ich am Abend wieder kam, ward mir alles
klar. Am andern Morgen in aller Frühe ruft man mich wieder, und
ich sehe, daß das Kind in den letzten Zügen liegt. Der Vater weint
und ist ganz niedergeschlagen. »Sieh nur,« sagt er »du sagtest,
er sei gar nicht krank (als ob ich dies gesagt hätte!), verlaß ihn
100
wenigsten nicht mehr, solange er noch lebt.« Ich verspreche es,
und bald darauf merke ich, daß zwei Adlige ihn zurückhalten;
er will unter Geschrei auf mich losstürzen, doch sie dulden es
nicht; alle Schuld am Tode des Kindes schiebt er mir zu. Was
weiter? Hätte ich Diarob mit Turbit verschrieben, was durchaus
kein sicheres Mittel gewesen wäre, so wäre es um mich geschehen
gewesen. Auch so verfolgte er mich, solange er lebte, mit den
schwersten Vorwürfen, so daß mich schließlich alles floh. So war
es, als hätte mich die schlimmste afrikanische Schlange angezischt.
Ich entging gerade noch dem Tode. Was ich aber infolge der all*
gemeinen Ächtung verlor, das gewann ich wieder herein durch
Studien, für die ich nun Zeit hatte, so daß ich schließhch die ganze
Sache nicht zu bereuen brauchte.
Ich kann nicht glauben, daß dieser Traum, ebenso wie auch das
andere, was ich vorher erzählte, bloßer Zufall gewesen sei, sondern,
wie deutlich zu sehen ist, eine Mahnung, die Gott einer frommen,
von vielem Unglück heimgesuchten Seele, die er nicht verlassen
will, zukommen läßt. Bin ich ja doch auch erst durch diesen Stachel
[zu ernster Arbeit] angefeuert worden! Auch stimmte der Traum
von der Schlange vollständig mit dieser ganzen Sache zusammen:
das Haus der borromei an der Piazza von Santa Maria Pavone
[Podone], worin sich die ganze Angelegenheit abspielte, ist völlig
mit Schlangen bemalt, weil nämlich die borromei in ihrem alten
Wappen eine Viper haben. — Wir cardani hatten früher eine
rote betürmte Burg auf weißem Grund im Wappen. Um unser
Wappen aber von dem der castiglione (ein berühmter Name,
der soviel wie Burg und Löwe bedeutet) zu unterscheiden, nahmen
wir noch ein kleines schwarzes Türmchen in die Mitte des Wappens
auf. Der Kaiser verlieh uns dazu später noch einen Adler, mit
Ausnahme des Schnabels ganz schwarz, mit ausgespannten Flügeln
(den Kopf malen die einen geschlossen, die anderen gespalten),
auf gelbem Grund, woher es kommt, daß manche den Grund auf
beiden Wappenschildern gelb oder golden malen, andere nach
alter Sitte den Grund beim Adler gelb, bei der Burg weiß. Ich
selbst habe später, an dem Tage, da ich verhaftet wurde, meinem
Wappen eine unter einem Dache singende [?] Schwalbe hinzu*
gefügt, weil es der Verschiedenheit der Farben wegen überaus
101
schwierig war, das genaue Wappen festzustellen. Ich wählte die
Schwalbe, weil sie in vielen Beziehungen zu meinem Wesen paßt:
keinem Menschen tut sie etwas zuleide, flieht nicht die Gesellschaft
der Armen, verkehrt immer unter Menschen, ohne mit ihnen ver?
traut zu werden, wechselt oft ihre Wohnung, geht und kommt
wieder, liebt das eheliche Zusammenleben, ist weder Einsiedler
noch Herdentier, erfreut ihren Hauswirt mit Gesang, duldet keinen
Kerker; die Sehkraft kehrt ihren geblendeten Augen wieder [?],
und so klein sie ist, so trägt sie doch oft wertvolle Steine im Bauche,
freut sich ganz sonderbar an milder, warmer Luft, ist überaus kunsts
fertig im Bau der Nester und wird darin unter allen Vögeln nur
vom Eisvogel übertroffen, ist unten am Bauche weiß, außen sonst
überall schwarz; als hätte sie Gedächtnis und Dankbarkeit, kehrt
sie immer wieder zum alten Haus zurück, kein Vogel, auch kein
Raubvogel verfolgt sie, keiner übertrifft sie im Fliegen oder kommt
ihr auch nur gleich.
Doch kehren wir zu meiner Geschichte zurück. In Sacco hatte ich
bei zwei Krankheitsfällen schmählichen Mißerfolg. Eine Dame
namens rigona, Bürgerin der Stadt, die ich am sechsten Tag am
Fuß zur Ader ließ, starb am siebenten. Ein anderer Patient, ein
armer Mann, der gewöhnlich die Glocken der Stadtkirche schlug,
starb, wenn ich mich nicht täusche, noch in der gleichen Nacht,
nachdem ich ihm Arznei gegeben hatte. Der Grund war beide
Male derselbe: ich hatte die Krankheiten, an denen die zwei
litten, noch nie gesehen. Aber es fehlte nur wenig, und ich wäre
in üblen Ruf gekommen, und hätte der um sich gegriffen, so wäre
es wohl um mich geschehen gewesen, da meine private Lage und
meine öffentliche Stellung sehr erschüttert und gedrückt waren.
Auch die Sache mit vignano ging übel aus, freilich ohne daß er
daran gestorben wäre; doch verzichtete er daraufhin auf meine
ärztliche Hilfe, obwohl ich neun Angehörige dieses Hauses völlig
gesund gemacht hatte. So habe ich also in den 51 Jahren, da
ich Arzt bin, drei Fehlkuren gemacht, galen freilich klagt sich
solcher nicht an, weil er sich nämlich so oft getäuscht hat, daß
ihn auch eine Selbstanklage nicht entschuldigen würde. Unter
öffentlicher Unehre und Schande litt ich dieser Dinge wegen nie,
wohl aber unter anonymen Verdächtigungen und Schmähungen
102
mehr als irgend ein anderer, hauptsächlich in Mailand und Bo*
logna. Ich glaube, man wollte dort seinem Mitbürger üppigen
Dank abstatten. Zu Pavia geschah mir nichts dergleichen, obwohl
ich in Wirklichkeit Bürger dieser Stadt war, da ich in ihrem Be#
zirk zur Welt kam und Wohnung genommen hatte. Aber wie mit*
unter das Fieber eine Krankheit endet und den Kranken, der sonst
nicht geheilt werden könnte, vom Tode rettet, wie hippokrates
in seinen Aphorismen ausführt, so hat später meine Einkerkerung
all den offenen Gerüchten von Verbrechen, die man mir zur Last
legte, ein so gründliches Ende gemacht, daß auch nicht der Schatten
eines Verdachtes übrig blieb — ein deutlicher Beweis, wieviel der
Neid in solchen Dingen ausmacht. Und ihr Herren Ärzte, was
habe ich euch denn getan? Und so haben sie damals mit einer
neuen Verdächtigung all den Unehren und Schmähungen, unter
denen ich litt, ein Ende gemacht und hofften doch, sie damit erst
recht lebendig zu machen!
Doch schweigen wir von diesen Schmähungen und Beschimp*
fungen, die in unserem Alter mehr für keifende Weiber als für
Männer sich schicken. Ganz herrlich aber war jene Sache mit dem
Dialog, der [im Jahre 1570] unter dem Titel »Melanphron«, das
heißt dunkle oder schwarze Kunst, in Bologna zirkulierte und
mir zugeschrieben wurde. Aber das Machwerk war so ungeschickt
zusammengestellt und so unglücklich abgefaßt, daß man es nur
zu lesen brauchte, um zu merken, daß der Verfasser weder von
einer weißen noch von einer schwarzen Kunst etwas verstand;
weshalb schließlich die Mühe dieser Leute ganz umsonst ver;:
geudet war.
Doch kehren wir zu unserer Vaterstadt Mailand zurück. Dort
wurde mein Gesuch um Anstellung als Arzt am Hospital von Sant'
Ambrogio zurückgewiesen; die Stelle hätte mir im Jahre zwischen
7 und 8 Goldgulden eingetragen. Und ich war damals, wenn ich
mich nicht täusche, 37 Jahre alt. Schon früher, in meinem 29. Lebens*
jähre, hatte ich mich vergebens um eine Stelle in dem Dorf oder
Städtchen Caravaggio bemüht; das Gehalt betrug dort nicht ganz
80 Goldgulden. Doch alle Mühe war umsonst. Zu Magenta waren
sie schon auf alle meine Vertragsbedingungen eingegangen ; die
Besoldung belief sich auf 55 Gulden. Aber noch in letzter Stunde
103
trat ich vom Vertrag zurück. So wenig hätte gefehlt, daß ich gerade
dort an Auszehrung und Altersschwäche gestorben wäre, wenn ich
überhaupt hätte alt werden können. Im Jahre 1529 bemühte ich
mich um eine Stelle als Arzt in Bassano mit dem Gehalt von 100
Goldgulden; aber ich erhielt sie nicht, obwohl einige Freunde für
mich eintraten. Es ist dies Bassano ein Städtchen im Gebiet von
Padua. Ganz glänzend aber war vollends ein Angebot des cesare
RiNCio, eines der angesehensten Arzte unserer Stadt: wenn ich für
ihn die ärztliche Praxis in einem Dorf in der Nähe von Novara,
50000 Schritt von Mailand entfernt, übernehmen würde, sollte
ich, wenn ich mich nicht täusche, ein Gehalt von jährlich 1 2 Gulden
erhalten. Du darfst dich also nicht wundern, wenn ich im Stadt*
chen Sacco ohne jedes Einkommen lebte und es doch 5 Jahre lang
aushielt. Ein gewisser giampietro pocobello hat sich zu Moz*
zate [?] und giampietro albuzio zu Gallarate je ein Vermögen
von beinahe 20 Goldgulden erworben. Dies gelang ihnen aber
nur, weil sie mit Aussicht auf eine Erbschaft geheiratet hatten.
Und keiner von beiden ging, solange die erste Frau noch lebte,
eine zweite Ehe ein.
Vierunddreißigstes Kapitel
MEINE LEHRER
In meiner frühen Jugend, ungefähr in meinem 9. Jahre, unterrich*
tete mich mein Vater in den Anfangsgründen der Arithmetik in
heimlich vertrauter Art, als handle es sich um eine Geheimwissens:
Schaft. Woher erselbstseinWissen nahm,weiß ich nicht. Bald darauf
unterrichtete er mich auch in der arabischen Astrologie und ver#
suchte, mir eine künstliche Art des Memorierens beizubringen ; aber
ich zeigte mich für diese Gedächtniskunst nicht im mindesten be*
gabt. Nach meinem 12. Jahre unterwies er mich in den ersten sechs
Büchern des euklid, aber in der Weise, daß er sich keinerlei Mühe
gab, mir etwas verständlich zu machen, wenn er glaubte, ich könne
mit eigenem Nachdenken zum Verständnis einer Sache gelangen.
Dies sind die Fächer, die ich ohne literarische Spielerei erlernt und
mir erworben habe, ohne die lateinische Sprache. Mit vollen
20 Jahren begab ich mich auf die Universität nach Pavia, und am
104
Schluß des nächstenjahres disputierte ich mit matteo curzio, dem
ersten Professor der Medizin, der mir die Ehre antat, mir öffentUch
zu opponieren, eine Vergünstigung, die ich nie zu erhoffen gewagt
hätte. Ich hörte auch den branda porro [italienischer Mediziner
und Philosoph 1487—1571] in der Philosophie und einigemale
auch den franciscustaegius [italienischer Gelehrter der 1. Hälfte
des 16. Jahrhunderts] aus Novara. Im Jahre 1524 hörte ich zu
Padua den curzio und eine Vorlesung über das Gedächtnis in der
Medizin [?]. Damals lernte ich auch den girolamo accoramboni
[italienischer Arzt 1467—1537] kennen, der sogenannte praktische
Medizin lehrte, außerdem unter anderen Professoren den toseto
MOMi und einen spanischen Philosophen großen Namens [?].
Fünfunddreißigstes Kapitel
ZÖGLINGE UND SCHÜLER
Deren erster war ambogiobizozoro, der später Kapitän auf einem
dalmatinischen Schiff wurde, ein geistvoller und kühner
Mann. Der zweite war lodovico ferrari aus Bologna, der sowohl
in Mailand wie in seiner Vaterstadt Mathematik dozierte und in die*
sem Fach außerordentliche Kenntnisse besaß; der dritte giovanni
BATTisTA BOSCANO, der Senatsschreiber des Kaisers karl v, wurde.
Der vierte gaspare cardano, der Enkel eines anderen gaspare,
meines Oheims; der wurde Arzt und dozierte in Rom als öffent*
lieber Professor der Medizin. Der fünfte Fabrizio bozio, der als
mailändischer Offizier im Gebiet von Turin Kriegsdienste tat.
Der sechste Giuseppe amati, jetzt Sekretär des Gouverneurs unserer
Provinz. Der siebente cristoforo sacco, der öffentlicher Notar
wurde. Der achte ercole visconti, ein Musiker, ein heiterer und
liebenswürdiger Jüngling. Der neunte benedetto catanei aus
Pavia, der Jurisprudenz studierte. Der zehnte giampaolo eufomia,
ein Musiker und recht gebildeter Mensch. Der elfte rodolfo
silvestre aus Bologna, der Arzt wurde und heute, da ich dies
schreibe, seinen Beruf in Rom ausübt. Der zwölfte giulio pozzo
aus Bologna, der einzige, der mich im Stich ließ, als er für mich
■ bürgen sollte. Der dreizehnte camillo zanolini, gleichfalls aus
105
Bologna, ein Musiker und öffentlicher Notar, ein Mann mit den
feinsten Manieren und Gewohnheiten. Der vierzehnte ottavio
FiTi aus Calabrien, der heute noch bei mir ist. Von diesen waren
die bedeutendsten der zweite, vierte und elfte. Zwei von diesen
sind aber schon in jungen Jahren gestorben, der zweite mit 43,
der vierte mit noch nicht 40 Jahren :
»Kurz nur lebt, der nicht Maß hält, und selten winkt ihm das Alter.
Was du auch liebest, mit Maß gönne dir Wunsch und Genuß.«
Sechsunddreißigstes Kapitel
VON MEINEN TESTAMENTEN
Ich habe während meines Lebens bis auf den heutigen Tag — den
letzten des Monats Oktober im Jahre 1576 — zu verschiedenen
Malen ein Testament aufsetzen lassen, das letzte durch die Bolog*
neser Notare giacomo macchelli und toma barberio, ein anderes
zu Mailand durch bartolommeo sormani, girolamo amati und
GiAN GIACOMO CRivELLi. Und jetzt habe ich mich entschlossen,
ein anderes und letztes aufzusetzen; auch habe ich verschiedene
Kodizille angehängt. Der wesentliche Inhalt des Testamentes ist
der, daß ich zwar am liebsten mein Vermögen gleichmäßig auf
meine Kinder vererben wollte, daß ich es aber vorziehe, weil mein
jüngerer Sohn ein so übles Leben geführt hat, dessen Anteil
auf den Enkel, den ich von meinem älteren Sohne habe, über*
gehen zu lassen. Eine zweite Bestimmung lautet, daß alle meine
Nachkommen so lang als irgend möglich unter Kuratel gestellt
bleiben sollen, aus Gründen, die mir wohl bekannt sind. Drittens
soll mein Vermögen zu einem Fideikommiß gemacht werden und
dieses, falls meine Nachkommenschaft aussterben sollte, wenn
irgend möglich für immer unzersplittert und unangefochten im
Besitz meiner nächsten Verwandten bleiben. Viertens sollen meine
Bücher verbessert und dann im Druck veröffentlicht werden,
so daß sie der Menschheit zum Nutzen werden können, wie sie
ja auch nur in diesem Sinn verfaßt wurden. Fünftens soll mein
Haus zu Bologna, wenn meine Nachkommenschaft aussterben
sollte, in den gemeinsamen Bezitz der ganzen Familie der gar*
106
DANi übergehen, und die späteren Erben sollen, wenn sie nicht
aus unserer Familie sind, doch den Namen cardano führen. Eine
sechste Bestimmung läßt für einzelne gelegentliche Abänderungen
Raum.
Siebenunddreißigstes Kapitel
EINIGE NATÜRLICHE, ABER SONDERBARE
EIGENTÜMLICHKEITEN, WORUNTER
EINIGE TRÄUME
Das erste Anzeichen einer sozusagen anormalen Natur war
schon meine Geburt mit langen, schwarzen, krausen Haaren
was zwar gerade nichts Wunderbares, aber immerhin etwas völlig
Unnatürliches war; noch mehr aber war es der Umstand, daß ich
fast ganz entseelt in diese Welt eintrat.
Das zweite zeigte sich in meinem vierten Lebensjahre und dauerte
ungefähr drei Jahre lang. Auf das Geheiß m.eines Vaters blieb ich
morgens bis in die dritte Tagesstunde im Bette liegen, und da ich
immer schon früher aufwachte, widmete ich die Zeit, die mir bis
zu der gewohnten Stunde des Aufstehens blieb, einem wohligen
Schauspiel, das sich jeden Morgen einstellte und nie vergebens
auf sich warten ließ. Ich sah verschiedenartige Bilder, und zwar
war es etwas wie luftige Körper, die aus ganz kleinen Ringen zu be*
stehen schienen,wie wir sie bei einem Kettenpanzer haben, obschon
ich bis dahin noch nie einen solchen Panzer gesehen hatte. Die
Bilder bewegten sich von der unteren rechten Ecke des Bettes an
in einem Halbkreis herauf und senkten sich langsam wieder nach
links herunter, bis sie völlig verschwanden. Es waren Bilder von
Burgen, Häusern, Tieren, Pferden mit Reitern, von Pflanzen,
Bäumen, Musikinstrumenten, theatralischen Dingen, von ver#
schiedenartig gestalteten Menschen, von Kleidern aller Art, von
Trompetern vor allem, die auf Posaunen zu blasen schienen, ob*
wohl ich keinerlei Laut oder Ton vernahm, außerdem Soldaten,
Menschenmengen, Felder, körperliche Figuren, wie ich sie bis auf
diesen Tag noch nie gesehen hatte, Haine und Wälder und andere
Dinge, deren ich mich nicht mehr entsinne; mitunter waren es
auch ganze Haufen von vielen Dingen, die durcheinander stürzten,
107
ohne sich freiUch zu verwischen und zu vermengen, sondern nur
um in aller Eile vorüberzuziehen. Diese Dinge waren alle ganz
durchsichtig, nicht so sehr freilich, daß es schien, als seien sie
überhaupt nicht da, aber auch nicht so körperlich dicht, daß das
Auge nicht hätte durch sie hindurch sehen können; die kleineren
Ringe waren dunkler, die Zwischenräume aber ganz durchsichtig.
Dies Schauspiel erfreute mich nicht wenig, und ich mochte dann
wohl mit starren Augen nach diesen Wundern schauen, so daß
mich einmal meine Tante frug, ob ich denn etwas sehe. Und obü
wohl ich damals ein ganz kleiner Knabe war, dachte ich doch bei
mir selbst: plaudere ich die Sache aus, so wird vielleicht das, was
mir alle diese Pracht vor Augen führt, zornig und macht dem
ganzen Fest ein Ende. Es waren nämlich auch wunderschöne
Blumen dabei und vierfüßige Tiere und Vögel jeder Art; aber all
diesen so prächtig gemachten Dingen fehlte die Farbe, denn sie
waren ganz aus Luft. Und so blieb ich denn, da ich weder in
meiner Jugend noch in meinem Alter gewohnt war zu lügen,
lange Zeit ganz still ohne eine Antwort zu finden. Worauf die
Tante wiederum frug: »Mein Kind, wohin siehst du denn mit so
starren Augen?« Ich weiß nicht mehr, was ich ihr damals zur
Antwort gab, glaube aber, daß ich gar nichts geantwortet habe.
Das dritte Zeichen, das sich nach diesem einstellte und wovon ich
schon einmal [S. 19] gesprochen habe, war, daß ich im Bett von
den Knien abwärts fast nie warm werden konnte, als bis es schon
wieder gegen den Tag ging. Das vierte, daß ich dann später am
ganzen Körper wie in heißem Schweiß gebadet vom Schlaf er*
wachte.
Die fünfte Eigentümlichkeit war, daß ichsehr oft im Schlaf einen
Hahn sah, von dem ich dann immer fürchtete, er möchte plötz*
lieh anfangen mit menschlicher Stimme zu reden. Was denn auch
bald der Fall war, und zwar waren es zumeist Drohworte, doch
kann ich mich an gar nichts mehr von dem erinnern, was er bei
so vielen Malen gesagt hat. Dieser Hahn hatte lauter rote Federn
und ebenso einen roten Kamm und rote Hautlappen am Unter*
Schnabel. Ich glaube, daß ich diese Erscheinung mehr als hundert*
mal gesehen habe.
Nach dieser Zeit, als ich schon in die Jahre der Pubertät trat,
108
hörten diese Dinge auf und zwei andere Eigentümlichkeiten er#
schienen, die fast mein ganzes Leben hindurch dauerten und mir
bis heute gebheben sind — das heißt, seit ich die »Problemata«
geschrieben und im Freundeskreis veröffenthcht habe, bleibt die
eine Erscheinung manchmal aus. Ich sehe nämlich, so oft ich die
Augen zum Himmel erhebe, einen Mond und zwar gerade meiner
Stirne gegenüber. Die Erklärung dieser Erscheinung habe ich in den
»Problemata« gegeben. Die andere Eigentümlichkeit ist die, daß
immer dann, wenn ich ganz gelegentlich oder zufällig zu einer Rau*
ferei kam, dabei nie Blut floß und nie jemand verwundet wurde.
Seit ich dies einmal durch einen Zufall entdeckt habe, mischte ich
mich mit Wissen und Wollen in derartige Händel und Tumulte,
und auch jetzt kam es nie zu Blutvergießen. Später merkte ich
auch, daß immer dann, wenn ich mit Jägern zusammen war, kein
Wild erlegt und keines weder durch Geschosse noch durch Hunde
verletzt wurde. Ich habe dies manchmal, wenn auch sehr selten,
beobachtet, wenn ich Jäger begleitete, und nie hat dieses wunder*
bare Vorrecht versagt. Als ich einmal den Fürsten este [s. oben
S. 13] auf der Reise nach Vigevano begleitete, ward ein Hase ges:
fangen, und als man ihn aus dem Rachen des Hundes nahm, zeigte
es sich, daß er nicht im geringsten verletzt war, worüber sich alle
nicht wenig wunderten. Nur bei freiwilligen Blutentziehungen
und bei Leuten, die öffentlich bestraft wurden, ist dies mein
Privileg, wie ich es nennen möchte, wirkungslos. Und einmal
war die Sache zweifelhaft. Auf dem Domplatz in Mailand wurde
ein Mann von seinen Widersachern zu Boden geworfen und
mehrfach verwundet; und gerade in dem Augenblick, als ich dazu
kam, hieb einer noch einmal auf den Schreienden ein. Dann gingen
alle weg, und der Geschlagene folgte ihnen sofort, so daß ich nicht
weiß, ob er auch durch diesen letzten Hieb eine blutende Wunde
erhalten hat.
Die achte Eigentümlichkeit ist die, daß ich bei allen Unglücks*
fällen immer dann gerettet werde, wenn gar keine Hilfe mehr mög*
lieh zu sein scheint. Und mag dies auch im einzelnen Fall als
etwas ganz Natürliches erscheinen, so erlaubt doch die so häufige
Zahl und so sichere Regelmäßigkeit der Fälle nicht, die Sache für
natürlich zu halten und natürlich zu heißen. Der Hahn zum Bei*
109
spiel, der mir im Schlaf erschien, mochte etwas ganz Natürliches
sein, solange es sich nur um eine einmalige Erscheinung handelte;
da er aber so oft und immer auf dieselbe Weise mir erschien, darf
die Sache ganz sicher als etwas Wunderbares bezeichnet werden.
Wenn ich in irgend einer großen Sache oder wichtigen Angelegen?
heit würfle, und die guten und ehrlichen drei Würfel werfen nur
drei Punkte, so ist dies etwas ganz Natürliches und darf auch für
etwas Natürliches gehalten werden, auch dann noch, wenn sich
das Nämliche beim zweiten Wurf wiederholt. Wenn aber derselbe
Wurf ein drittes und viertes Mal nacheinander fällt, so darf dies
auch der vernünftigste Mensch für verdächtig halten. Und eben*
so ist es in den Fällen, wo schon alle Hoffnung aufgegeben war
und dann so plötzlich eine Rettung aufleuchtete, daß man ganz
deutlich sehen mußte, daß es durchaus Gottes sichtbarer Wille
war. Ich will zwei Beispiele dieser Art erzählen, die, wie ich glaube,
deutlich genug sind.
Es war im Jahre des Heils 1543, in der Sommerszeit, da ich ge*
wohnt war, Tag für Tag das Haus des Antonio vicomercato
[viMERCATi], eines Adligen unserer Stadt, zu besuchen und dort
den ganzen Tag im Schachspiel zuzubringen. Wir spielten um
einen Einsatz von einem, oft auch von drei oder vier Realen
[eine spanische Scheidemünze, die in Mailand zur Zeit der spani*
sehen Oberhoheit kursierte] für das einzelne Spiel, so daß ich, da
ich gewöhnlich gewann, täglich ungefähr einen Gulden, manch*
mal etwas mehr, manchmal auch etwas weniger, mit nach Hause
brachte. Dem andern machte die Möglichkeit des Gewinns, mir
selbst der Gewinn sowohl als der Wettkampf selber Spaß. Aber
durch das Spielen kam ich so herunter, daß ich volle zwei Jahre
und einige Monate darüber meinen Beruf gar nicht mehr ausübte
und weder auf die Sicherstellung meiner Einnahmen, die abgesehen
von dem eben erwähnten kleinen Gewinn ganz aufgehört hatten,
noch auf mein öffentliches Ansehen oder meine vernachlässigten
Studien achtete. Eines Tags nun gegen Ende August begann der
andere ganz von selbst, vielleicht weil er des ewigen Verlierens
genug hatte, vielleicht auch, weil er glaubte, daß ich mir aus einem
Eid gar nichts machte, wie er selbst sich ja durch keinen vernünftig
gen Grund, durch keinen Eid und keinen Schwur von seinem
110
Vorhaben abbringen ließ — zwang mich der andere, ich solle
schwören, in Zukunft niemals wieder zum Spiele zu ihm zu kommen.
Ich schwur es bei allen Göttern, und dieser Tag war tatsächlich
der letzte; denn sofort warf ich mich mit ganzem Eifer auf meine
Studien. Und siehe, gegen Ende Oktober bot mir der Senat zu
Pavia — die Akademie war nämlich der Kriegsunruhen wegen
ganz in der Auflösung begriffen, und alle Professoren siedelten
nach Pisa über — ein Lehramt in dieser meiner Heimatstadt an. Die
Sache kam mir ganz unverhofft, und ich lehnte ab, weil ich Mai*
land nicht verlassen wollte. Überhaupt war ich nicht gesonnen,
eine Stelle anzunehmen, die mich zwang, Mailand zu verlassen
und in der ich wohl bald mit einem Konkurrenten zu tun gehabt
hätte, da ich nämlich bisher nur Mathematik und die nur an sonst
schulfreien Festtagen doziert hatte. Auch hätte ich dann auf alle
meine täglichen Einkünfte als Arzt verzichten, die Unbequemlich«
keit einer Übersiedlung mit den Meinen und dem ganzen Haus*
halt auf mich nehmen und wieder von vorne an um Ansehen und
Achtung ringen müssen. Aus den gleichen Gründen war ich auch
im nächsten Jahre noch entschlossen, Mailand nicht zu verlassen.
Da stürzte — wer möchte es glauben — in der Nacht vor dem
Tage, da der Senat von Pavia einen neuen Boten schickte mit der
Anfrage, ob ich mir das Angebot überlegt hätte, das ganze Haus
vollständig zusammen mit einziger Ausnahme des Schlafzimmers,
wo ich mit Frau und Kindern schlief. Da sah ich mich genötigt
zu tun, was ich freiwillig nie getan hätte und ohne Verlust an Ehre
und Ansehen nie hätte tun können: ich nahm an. Worüber sich
alle wunderten, die die Sache kannten.
Ein zweites Beispiel dieser göttlichen Hilfe — ist ja doch mein
ganzes Leben von solchen voll — will ich hier erzählen, doch aus
einem andern Gebiet. Ich litt, wie ich schon an anderer Stelle er*
zählt habe, und habe sehr lang bis zur Verzweiflung und bis zum
Lebensüberdruß an jenen eiternden Geschwüren gelitten. Da las
ich eines Tags in den nachgelassenen Papieren meines Vaters,
wenn einer in der Morgenstunde des 25. März auf den Knien zur
allerheiligsten Jungfrau flehe, sie möge ihren Sohn um irgendeine
sittlich zulässige Gnade bitten, und dieser Bitte ein Vaterunser
und den englischen Gruß anfüge, werde er erhalten, worum er
111
bete. Ich achtete wohl auf Tag und Stunde und tat das Gebet.
Und ich wurde auch wirklich, wenn auch nicht sofort, sondern
erst am Frohnleichnamsfest des gleichen Jahres, völlig von dem
Übel befreit. Und lange Zeit später erinnerte ich mich daran, als
ich am Podagra litt, und tat das Gebet wiederum. (Denn gerade
von dieser Krankheit hatte der Vater zwei Beispiele von Heilung
angeführt.) Und das Gebet hatte Erfolg, ich wurde geheilt. Frei«
lieh habe ich dabei auch ärztliche Mittel angewandt.
Vier sonderbare Dinge und ganz wunderbare Erscheinungen will
ich noch erzählen, die auf meinen ältesten Sohn Bezug haben. Das
eine ereignete sich am Tage seiner heiligen Taufe, das zweite in
seinem letzten Lebensjahre, das dritte genau in der Stunde, da er
die Schuld bekannte, deretwegen er gestorben ist; das vierte be*
gann am Tage seiner Verhaftung und dauerte bis zum Tage seiner
Hinrichtung. Mein Sohn war zur Welt gekommen im Jahre 1534,
am 14. Mai, und da ich für sein Leben fürchten mußte, ließ ich
ihm schon am 16. Mai, einem Sonntag, das heilige Sakrament der
Taufe spenden. Es war um die Mittagszeit, zwischen der fünften
und sechsten Tagesstunde, und die Sonne schien strahlend hell ins
Schlafzimmer. Wir alle, mit Ausnahme des Hausburschen und des
Dieners, standen, wie es so Sitte ist, um das Bett der Wöchnerin.
Der leinene Vorhang war vom Fenster weggezogen und an der
Wand festgemacht. Da drang plötzlich eine große Hornisse ins
Zimmer und flog um den Knaben herum. Wir alle, die wir an#
wesend waren, fürchteten für das Kind; doch die Hornisse tat
ihm nichts zu leid, sondern flog gleich wieder weg und schlug
gegen den Vorhang, mit solchem Lärm, daß man hätte meinen
können, eine Pauke werde geschlagen. Wir laufen hinzu, finden
aber nichts. Und doch konnte sie nicht zum Fenster hinaus*
geflogen sein, da wir ja alle aufmerksam darauf geachtet hatten.
Damals stieg in uns allen eine trübe Ahnung von dem auf, was
später eintreten sollte; freilich an ein so bitteres Ende hätten wir
nie geglaubt.
Im Jahre, da mein Sohn starb [1560, gemeint ist aber offensicht*
lieh 1559], hatte ich ihm ein neues seidenes Kleid geschenkt, wie
es die Arzte zu tragen pflegen. Es war wiederum Sonntag, und
er ging zur Porta Tosa [in Mailand] hinaus. Dort wohnte ein
112
Fleischer, und wie üblich trieben sich vor dessen Türe einige
Schweine herum. Da erhebt sich plötzlich eines der Tiere aus dem
Kot, geht auf meinen Sohn los, springt ihn an, beschmutzt ihn
und will ihm immer wieder zu Leibe, und dies, obwohl sein eigener
Diener, der Fleischer und einige Nachbarn das Schwein mit
Stangen abzuwehren suchten, so daß die Sache höchst seltsam er*
scheinen mochte. Und erst nach langer Zeit wird das Tier müde
und erst, als mein Sohn davon lief, ließ es von ihm ab. Der kam
nun traurig, ganz gegen seine sonst so heitere Art, zu mir, er#
zählte alles und frug, was dies alles wohl zu bedeuten habe.
Ich sagte ihm darauf, er solle sich wohl hüten, ein Leben wie ein
Schwein zu führen, sonst werde er auch wie ein solches enden —
obschon er übrigens, abgesehen von etwas Neigung zum Spiel
und zu Gaumenfreuden, der beste junge Mann war und ein tadele
freies Leben führte.
Es war im Februar des darauffolgenden Jahres [1560]. Ich wohnte
und dozierte zu Pavia. Da betrachte ich eines Tages ganz zufällig
meine Hände und sehe plötzlich an der Wurzel des rechten Ring?
fingers die blutrote Figur eines Schwertes. Ich erschrak heftig.
Was weiter? Am selben Abend kommt ein laufender Bote mit
einem Briefe meines Schwiegersohnes, ich solle sofort nach Mai*
land kommen, mein Sohn sei verhaftet. Vom folgenden Tag an
begann jenes blutige Zeichen 53 Tage lang zu wachsen und immer
größer zu werden, bis es schließlich am letzten Tage bis zur Finger;:
spitze reichte und wie flammendrotes Blut leuchtete. Ich, der ich
nie derartiges geahnt hätte, erschrak, verlor jede Selbstbeherr^:
schung, wußte nicht mehr, was ich tun, was ich reden, was ich
denken sollte. Um Mitternacht [7. April 1560] ward er mit dem
Schwert hingerichtet; am andern Morgen in der Frühe war das
blutige Mal fast ganz erloschen, und einen Tag später war es spurlos
verschwunden.
Ungefähr 20 Tage — vielleicht etwas mehr, vielleicht auch etwas
weniger — vor dieser Katastrophe, als mein Sohn noch in Haft
lag, arbeitete ich in meiner Bibliothek [in Mailand], als ich plötz«
lieh Stimmen höre, als beichtete einer und andere sprächen das
»Misereatur«, undkurz daraufwar es wieder ganz still. Es war mir,
als werde mir das Herz in Fetzen aus der Brust gerissen. Eine
8 Cardano
113
fürchterliche Angst packt mich, und ich stürze aus dem Zimmer
hinaus in den Hof. Dort waren gerade einige von den palavicini,
denen ich das Haus vermietet hatte. Und ich schrie ganz laut,
obschon ich wohl wußte, wieviel ich damit der Sache meines
Sohnes schaden mußte, wenn er tatsächlich das Verbrechen nicht
eingestanden hätte oder ganz unschuldig daran gewesen wäre:
»Ach, er wußte um den Tod seiner Frau, und jetzt hat er ge#
standen und wird zum Tode verurteilt und wird mit dem Schwerte
hingerichtet werden!« Und ich greife sofort nach dem Mantel
und laufe zum Marktplatz. Doch auf halbem Wege begegne ich
meinem Schwiegersohn, der mich traurig fragt : »Wohin gehst du ?«
»Ich habe Angst,« antworte ich, »daß mein Sohn um das Ver*
brechen wußte und jetzt alles gestanden hat.« Und er sagte: »Ja,
das hat er; soeben hat er es gestanden.« Und dann kam der
Späher gelaufen, den ich angestellt hatte, und erzählte die ganze
Sache der Reihe nach. —
Eine andere Eigentümlichkeit natürlicher Art war die, daß mein
Fleisch mitunter nach Schwefel, Weihrauch und dergleichen Din*
gen roch. Vor allem war dies ungefähr um mein 30. Lebens*
jähr herum der Fall, als ich mit jener schweren Krankheit zu tun
hatte. Vielleicht bin ich eben dadurch gesund geworden, denn
gerade damals schienen meine Arme stark nach Schwefel zu rie*
chen. Auch litt ich in jener Zeit an Hautunreinigkeiten. Jetzt aber,
da ich alt geworden bin, hat diese Erscheinung aufgehört.
Eine weitere Sonderbarkeit war, daß ich zur Zeit meines Studiums,
obwohl ich frei von allen drückenden Sorgen und Beschäftigungen
war und die Unterweisung meiner Lehrer genoß, weder den
ARCHiMEDES noch den ptolemaeus verstand. Jetzt aber im höchsten
Alter, da wohl an die 30 Jahre vergangen sein mögen, seit ich zum
letztenmal daran gearbeitet, da ich mit Geschäften überladen und
von Sorgen erdrückt bin, verstehe ich beide ohne jede fremde
Hilfe mit Leichtigkeit.
TRAUME
Darf nicht auch die Art, wie ich von Träumen heimgesucht
wurde, die alle so durchaus wahr gewesen sind, als höchst
wunderbar bezeichnet werden? Am liebsten möchte ich gar nicht
114
daran rühren. Wozu denn auch? Und doch waren diese Träume
so sonnenklar einleuchtend und haben über die wichtigsten Dinge
in meinem Leben entschieden. So war es auch ungefähr ums Jahr
1534, als meine Verhältnisse noch durchaus unsicher waren und
meine ganze Lage Tag für Tag sich verschlechterte. Da sah ich mich
einst am frühen Morgen im Traum.wie ich auf einen Berg, der mir zur
Rechten lag, zulief, zusammen mit einer ungeheuren Menge von
Menschen jeden Standes, Geschlechtes und Alters, Weiber, Man?
ner, Greise, Knaben, Kinder, Arme und Reiche, alle ganz ver*
schieden gekleidet. Und ich frug, wohin wir denn alle liefen?
Und einer von ihnen antwortete : »Zum Tode.« Ich erschrak, und
da mir der Berg auf einmal zur Linken war, wandte ich mich, so
daß ich ihn wieder auf der rechten Seite hatte, griff nach Reben
(der halbe Berg bis zu der Stelle herab, wo ich lief, war mit solchen
bedeckt, und sie hatten ganz dürre, ausgetrocknete Zweige, alle
ohne Trauben, so wie wir sie wohl im Spätherbst sehen) und be?
gann den Berg hinanzusteigen. Das ging anfangs recht schwer,
denn der Berg oder besser Hügel war unten am Fuße sehr steil.
Dann als der Anfang überwunden war, stieg ich mit Hilfe der
Rebstöcke leicht hinauf. Und als ich oben auf dem Gipfel des
Berges war und schon in der Energie des Anlaufs darüber hinaus
rennen wollte, erschienen nackte, zerrissene Felsen, und wenig
hätte gefehlt und ich wäre in eine grauenhafte, tiefe und finstere
Schlucht hinabgestürzt, so daß mich heute noch, nach 40 Jahren,
die Erinnerung an diesen Traum erschüttert und erschreckt. Dann
wandte ich mich nach rechts, wo ein nur mit Heidekraut bewachse*
ner Hang erschien. Dorthin lief ich in meiner Angst, nicht wissend,
wohin der Weg führte, und plötzlich sehe ich mich unter der Türe
einer mit Stroh, Binsen und Rohr bedeckten Bauernhütte, an der
rechten Hand einen Knaben führend, der ungefähr 12 Jahre alt
sein mochte und ein aschfarbenes Kleid trug. Da erwachte ich, und
Schlaf und Traum waren verschwunden. Der Traum deutete offen*
bar auf die Unsterblichkeit des Namens, auf dauernde und un*
geheure Mühen, auf meine Einkerkerung, auf die viele Angst und
Trauer, die ich litt; der steinichte Boden deutete auf ein hartes
Leben; daß es unfruchtbar und dabei doch heiter, ruhig und sanft
sein werde, sagte der Mangel an Bäumen und nützlichen Pflanzen ;
8*
115
die Rebe aber, die Jahr für Jahr eine Ernte gibt, wies auf den
dauernden Ruhm, den ich künftig ernten sollte. Der Knabe deu#
tete, wenn er mein guter Schutzgeist gewesen sein sollte, auf Glück ;
denn fest hielt ich ihn an der Hand. Weniger glücklich wäre die
Deutung, sollte es mein Enkel gewesen sein. Jene Hütte in der
Einsamkeit war die Hoffnung auf endliche Ruhe. Der Schrecken
aber und die nahe Gefahr des Sturzes in den Abgrund kann auf
den Fall meines Sohnes gedeutet werden, der heiratete und dann
zugrunde ging. Man ist also nicht berechtigt zu glauben, daß
diese Dinge unserer Kenntnis entgangen seien. Diesen Traum
hatte ich in Mailand.
Ebenso den zweiten und zwar kurze Zeit darauf. Es träumte mir,
meine Seele befinde sich im Himmel des Mondes, nackt, ohne
Körper. Und weil sie einsam war, klagte sie. Da hörte ich die
Stimme meines Vaters, die zu mir sagte: »Ich bin dir von Gott
zum Hüter gegeben. All dies ist voll von Seelen, aber du siehst
sie nicht, wie auch mich nicht, und darfst auch nicht zu ihnen
sprechen. Du mußt in diesem Himmel sieben Jahrtausende bleiben
und ebensolange injedem anderen Himmelskreise, bis zum achten,
und dann wirst du in das Reich Gottes kommen.« Dies habe ich
mir so erklärt: Die Seele meines Vaters ist mein Schutzgeist —
gibt es einen freundlicheren und schöneren Gedanken ? Der Mond?
himmel bedeutet die Grammatik, der Himmel des Merkur die
Geometrie und Arithmetik, die Venus die Musik, die Weissage*
kunst und Poesie, die Sonne die Moralwissenschaft, der Jupiter
die Naturwissenschaft, der Mars die Medizin, der Saturn die Agri*
kultur, die Pflanzenkunde und die anderen niedrigeren Künste;
der achte Himmel aber bedeutet die letzte Ährenlese in allen
Wissenschaften, die natürliche Weisheit und verschiedenartige
Studien, und nach diesen werde ich einst bei meinem Herrn ruhen.
Dies ist auch so, freilich ohne daß ich darauf geachtet hätte, in
vielen Abschnitten meiner »Problemata« ausgeführt, deren Zeit
nun nach ihrer Vollendung und Herausgabe bald kommen möge.
Ich glaubte auch einmal im Traume einen mir freundlich zuwinken*
den Jüngling deutlich zu erkennen; doch als ich erwachte, konnte
ich mich seiner nicht im mindesten mehr entsinnen. Als ich frug,
wer er sei und was für ein Landsmann, sagte er verdrießlich :
116
»Stephanus Dames«. Ich bin nicht imstande, in lateinischer Sprache
die Worte, die so ganz fremd klangen, anders wiederzugeben.
Ich habe auch oft darüber nachgedacht: oxecpavoq bedeutet Kranz,
fiEoos soviel als Mitte oder Hälfte.
Ein anderer Traum deutete darauf, daß ich einst zu Rom leben
werde. Ich sah nämlich im Jahre 1558, am S.Januar, als ich zu
Mailand ohne jedes öffentliche Amt lebte, im Traume, wie ich
mich in einer Stadt befand, die angefüllt mit vielen herrlichen Pa#
lasten war. Unter anderen bemerkte ich ein goldverziertes Haus,
wie ich später, da ich nach Rom gekommen war, inWirklichkeit ein
ganz ähnliches sah. Es schien gerade ein Festtag zu sein, und ich
war allein mit einem Diener und einem Maultier; die beiden waren
aber gerade hinter mir, von einem Hause verdeckt, zurückgeblieben,
doch konnte ich noch die Stimme des Dieners hören. Einige wenige
Leute kamen mir auf dem Weg entgegen, alle frug ich neugierig,
wie denn diese Stadt heiße; aber niemand gab mir eine Antwort,
bis endlich ein altes Weib sagte, die Stadt heiße »Bacchetta«, was
im Latein soviel wie Rute [virga] heißt, womit man die Knaben
zu prügeln pflegt, oder Gerte [ferula], wie man zu älterer Zeit
sagte, wie wir bei juvenal lesen :
»Hielten wir also die Hand der strafenden Gerte entgegen.«
Bekümmert ging ich weiter und frug, wer mir wohl die wahre Be*
deutungdes Wortes nennen könne; denn ich sagte mir selbst, dies
ist doch kein fremdes Wort, und in Italien habe ich nie von einer
Stadt dieses Namens gehört. Und dies hatte ich auch gleich der
Alten vorgehalten, worauf sie aber nur weiter sagte: »In dieser
Stadt sind fünf Paläste.« »Soviel ich sehe,« sagte ich, »mehr als
zwanzig.« Worauf sie aber wiederholte: »Und es sind nicht mehr
als fünf.« Und dann konnte ich weder meinen Diener noch das
Maultier wiederfinden und erwachte. Was soll ich noch hinzu*
fügen? Irgend etwas Sicheres weiß ich nicht, nur die Bedeutung
des Wortes »Bacchetta« ist ganz klar, und daß damit Rom gemeint
sein mußte. Irgendeiner bezog das Wort auch auf Neapel. Diesen
Traum hatte ich, da meine Lage höchst verwickelt war; vielleicht
war er auf ganz natürlichem Wege entstanden oder aber als Werk
der göttlichen Vorsehung.
Im Sommer 1547, da mein jüngerer Sohn zu Pavia krank war,
117
träumte mir, er werde sterben, so daß ich im Traum ohnmäch*
tig wurde. Ich erwache, und schon läuft auch eine Magd her*
bei und sagt: »Steh auf, ich glaube, aldo wird sterben!« »Was
hat er?« »Das Auge ist ihm verdreht. Er liegt ganz still.« Ich stehe
auf und reiche ihm ein Pulver, aus dem Staub von Perlen und
Edelsteinen zubereitet, worauf ich viel halte; er speit es aus. Ich
gebe ihm ein zweites, er schluckt es, schläft ein, bricht in Schweiß
aus, und innerhalb dreier Tage ist er gesund. Und solche Erfolge
verdienen fromme, werktätige Männer, die festen Gottvertrauens
sind, klug im Rat und stets auf ein gutes Ende bedacht, wie vor*
sorgliche Familienväter, die jede gute Gelegenheit zu ergreifen
wissen, den Körper zu heilen und mit ihm die Seele, die eng
mit ihm verbunden und mit ihm der ärztlichen Behandlung zu*
gänglich ist [?]. Andere freilich, die solches nachahmen wollten,
würden sich lächerlich machen, wie ein Prophet, den die Ereig*
nisse Lügen strafen ; denn sie wissen die Sache nicht wissenschaftlich
korrekt anzufassen. Jener aldo aber ist der Elende, der mir so
viel Kummer und Sorge gemacht hat. — Ich habe auch noch viele
andere wunderbare und ganz unglaubliche Träume gesehen, doch
ich unterdrücke sie hier mit Willen.
Alle diese sonderbaren Dinge, gute Gedanken verschiedener Art,
Träume und dann jene vier Begebenheiten des seltsamsten Zufalls,
von denen ich drei weiter oben geschildert habe: die rückgängig
gemachte Anstellung zu Magenta, der Fall ins Meer, der Zusammen*
Sturz meines Hauses, und die vierte, jene wunderbare Geschichte
von dem Hosenriemen, wovon ich oben [? s. u. S. 192] handelte —
all dies betrachte ich dankbar als Gnadenerweise Gottes. Und nie*
mand möge, was mir an Dingen dieser Art zugestoßen. Zufällig*
keiten, überraschende Rettungen, Träume, unter die natürlichen
Regeln allgemeiner Gesetze bringen wollen. Er würde sich recht oft
und vielleicht auch sehr schwer täuschen! Und nicht viel weniger,
wer mir dies alles zum eigenen Verdienste anrechnen wollte; denn
das sind unverdiente Gaben des gnädigen Gottes, der niemandem
etwas schuldet, am wenigsten mir. Gar sehr würde sich auch tau*
sehen, wer glaubte, meinem Fleiß, meiner Arbeit, meinen Studien
verdankte ich dies alles ; nicht den tausendsten Teil hätten die leisten
können. Am schlimmsten aber tut der, der sich einbildet, ich hätte
118
diese Dinge aus eitel Ruhmsucht erfunden und erdichtet. Davon bin
ich sehr weit entfernt. Warum sollte ich die Tüchtigkeit, die mir —
wenn ihr so wollt — angeboren ist und die ich überdies als gött^:
liches Geschenk betrachte, mit solch frivolen Märchen und erlöge*
nem Zeug beschmutzen?
Achtunddreißigstes Kapitel
FÜNF EIGENTÜMLICHKEITEN, DIE MIR VON
NUTZEN WAREN
Ich habe bisher nur von mir als Menschen gesprochen — und
manchmal auch von anderen Menschen— von meiner niedrigeren
Natur und meinem Beruf. N un soll von einer anderen Seite meiner
Natur die Rede sein, einer in gewissem Sinne bewundernswerten
und wunderbaren Seite. Ich fühle nämlich, daß in mir etwas ist,
von dem ich nicht weiß, was es ist; und ich fühle, daß ich selbst
dieses Etwas bin, da ich nicht merke, daß es aus mir herausginge;
und ich weiß endlich, daß es da ist, wenn ich es brauche, nicht
aber dann, wenn ich es nicht haben will. Und weil es aus meinen
Kräften herauswächst, ist es größer als diese. Ich habe es zum
erstenmal entdeckt gegen Ende des Jahres 1526 oder zu Anfang
des nächstfolgenden. Seither mögen also wohl mehr als 49 Jahre
vorübergegangen sein. Ich fühle mit einem gewissen Geräusch
ein Etwas von außen in mein Ohr dringen und zwar stets genau
aus der Richtung, wo irgend gerade von mir die Rede ist. Handelt
es sich dabei um etwas Gutes, so kommt dies Etwas auf der rechten
Seite zur Ruhe; ist es aber von links her ins Ohr gekommen, so
drängt es sich nach der rechten Seite durch. Gewöhnlich ist das Ge*
rausch ein ganz gleichmäßiges; klingt es verworren, so handelt es
sich um irgend einen Streit. Ist Schlechtes von mir die Rede, so legt
sich das Etwas auf der linken Seite zur Ruhe. Immer aber kommt
es haarscharf aus der Richtung, wo von mir gesprochen wird.
Und deshalb dringt es auch von jeder beliebigen Seite in den
Kopf ein. Und schon oft, wenn die Sache dort ein übles Ende
nimmt, wird die Stimme auf der linken Seite, gerade dann, wenn
sie aufhören sollte, stärker, und das Geräusch verdoppelt sich.
119
Und sehr oft, wenn die fragliche Sache in der Stadt selbst, wo ich
mich gerade befinde, sich zuträgt, kann es vorkommen, daß im
nämlichen Augenblick, da die Stimme aufhört, ein Bote zur Tür
hereintritt und mich im Namen derer grüßt, die vorhin von mir
gesprochen haben mußten. Fand das Gespräch aber an einem fernen
Orte statt und es kommt nun der Bote, so brauche ich nur die
Zeit zu berechnen, die zwischen dem Vernehmen der inneren
Geräusche und der Reise des Boten liegt, und ich werde sofort
finden, daß beide Momente zeitlich zusammenfallen, und werde
auch sehen, daß die Sache dort genau in der Form erörtert worden
war, die ich aus der Art des Geräusches erschließen konnte. Diese
Erscheinung dauerte bis ins Jahr 1568, also bis kurz an die Zeit,
da die Verschwörung gegen mich ins Werk gesetzt wurde [Bo^
logna 1570], und ich wunderte mich, daß sie gerade damals auf*
hörte.
Wenige Jahre, ungefähr acht, nach dem ersten Auftreten dieser Er*
scheinung, also ungefähr um das Jahr 1534, fing ich an, im Traume
alles vorauszusehen, was in der nächstfolgenden Zeit eintreten
sollte. Und handelte es sich um Dinge, die noch am gleichen Tage
eintraten, so hatte ich den Traum noch nach Sonnenaufgang und
sah die Dinge ganz klar und deutlich. So habe ich seinerzeit die
ganze Angelegenheit mit dem Kollegium [der Ärzte zu Mailand],
die ausführlichen Verhandlungen, den Vertragsabschluß und den
ungünstigen Ausgang der Sache vorausgesehen und ebenso später
die Tatsache, daß ich ein Lehramt in Bologna erhalten sollte. Diese
Erscheinung hörte ein Jahr früher als die erstgenannte auf, näm*
lieh im Jahre 1567, damals als paolo, einer meiner Hausgenos«
sen, wegging, so daß also die ganze Sache ungefähr 35 Jahre lang
gedauert hat.
Die dritte Eigentümlichkeit ist ein gewisser Glanz [?], den ich all*
mählich zu steigern wußte. Er fing an ungefähr um das Jahr 1529,
ward immer mehr gesteigert, konnte aber nie zu einer gewissen
Vervollkommnung gelangen, außer etwa gegen Ende meines
73. Lebensjahres, in der Zeit zwischen Ende August und Anfang
September des Jahres 1574. Doch im eigentlichen Sinn, scheint es
mir, ist er erst in diesem Jahr 1575 zur höchsten Vollkommenheit
gelangt. Es ist dies eine Sache, die mich nicht verläßt, mich viel*
120
mehr jetzt an Stelle der beiden obengenannten, die mich im Stich
gelassen haben, gegen meine Widersacher und in jeder Notlage
schützt und verteidigt. Sie setzt sich zusammen aus einem durch
gewollte künstliche Übung gewonnenen Glanz und einem von
außen erborgten Licht. Es ist eine überaus angenehme Sache und
sie ist mir für meine äußere Autorität, mein Arbeiten, meinen
Gelderwerb und für die Gediegenheit meiner Studien an sich allein
von größerem Wert und Nutzen als die beiden erstgenannten Er*
scheinungen zusammen. Sie hält mich weder von allgemein
wertvollen Studien noch vom geselligen Verkehr mit andern ab,
sie macht mich für alles mögliche geeignet und fähig und ist mir
von höchstem Wert bei Abfassung meiner Bücher, ja sie scheint
gleichsam das letzte in meiner Natur zu sein, denn sie fördert und
verwirklicht all das zugleich, was jene überhaupt zu leisten ver*
mag. Und wenn es auch gerade keine göttliche Sache ist, so ist es
doch sicher das vollendetste Werk menschlicher Natur.
Eine vierte Erscheinung fing im Jahre 1522 an sich zu äußern und
dauerte bis zum Jahre 1570 oder 73. Diese ist mir, wie ich glaube,
von Gott zum Trost gegeben, nachdem ich nun wider alle Hoflf*
nung dem Leben erhalten blieb, und als eine Mahnung, daß ich
im Vertrauen fester werden und einsehen solle, daß ich von Gott
bin und Gott mir alles ist, und daß ich darum nichts begehe, was
so vieler Gnaden unwürdig wäre. Und wenn einer mir sagte :
warum sehen nicht alle Menschen oder doch einige wenige dies
selbe Erscheinung oder eine ähnliche ? gäbe ich zur Antwort : was
soll es, wenn mehrere Leute fühlen, was mir selbst an sich nicht
klar ist? Oder wenn er früge : ist er vielleicht ein Zeichen besonn
derer Liebe Gottes, jener fürchterliche Tod deines Sohnes? sagte
ich ihm : kann man auf anderem Wege zur Unsterblichkeit ge*
langen, so verlange ich dies auch für mich ; wenn aber nicht, was
soll ich mehr verlangen als andere? DerTod ist fast immer bitter
und fast stets derselbe, auch abgesehen von äußeren Ähnlichkeit
ten, und so bitter wie er selbst ist seine tägliche und sichere Er#
Wartung.
Die fünfte Eigentümlichkeit ist mir zum häuslich vertrauten Besitz
geworden, denn sie währt solang als mein ganzes Leben: immer
dann, wenn meine Sache am verzweifeltsten stand, konnte ich
121
mich aufraffen, immer dann, wenn ich in frohem Glücke schwamm,
bin ich ins tiefste Unglück gestürzt. Mir ging es wie dem Schiff
im Sturme: bald verschwand ich in der tiefsten Wellenschlucht,
bald schwebte ich auf dem höchsten Kamm der Woge, und so
mein ganzes Leben. O wie oft habe ich bei mir selbst über dies
jämmerliche Schicksal geweint, nicht bloß, weil stets alles schlecht
ging und oft gar keine Hoffnung mehr auf Rettung sich zeigte,
sondern weil ich nie, so sehr ich auch in reiflicher Erwägung meine
Verhältnisse zu ordnen suchte, den gesuchten Ausweg fand. Ohne
daß ich daran dachte und ohne daß ich das geringste dazu tat,
sah ich oft innerhalb zweier oder dreier Monate meine ganze Lage
völlig verändert, so daß ich glauben mußte, es gäbe stärkere Kräfte
als den Willen und nur durch [fremde?] Gewalt komme die Tat
zustande, und daß ich mich schämte, so oft diese fremde Gewalt
in meine Rechnung zu ziehen. Und durch diese steten Wechsel
ist es häufig geschehen, daß miralies auf einmal zusammenstürzte.
Neununddreißigstes Kapitel
GELEHRSAMKEIT UND ÄUSSERE BILDUNG
Mag ich nun inWahrheit etwas wissen oder nur diesen Anschein
erwecken, jedenfalls habe ich nie Grammatik gelernt, wie auch
nicht die griechische, noch französische oder spanische Sprache;
doch habe ich mir hierin allein durch Übung einige Kenntnisse
verschafft. Ebensowenig weiß ich von derRhetorik, verstehe auch
nichts von Optik noch auch von der Lehre von den Gewichten,
weil ich mich mit diesen Fächern nie befaßt habe. Auch in der
Astronomie bin ich unbewandert, weil sie mir immer als viel zu
schwer erschienen ist. Andrerseits bin ich als ausübender Musiker
völlig unbrauchbar, während ich die Musik theoretisch durch*
aus verstehe. Auch mit Geographie, noch auch mit jener bekannt
ten streitsüchtigen Philosophie, mit Moralwissenschaft, Jurispru*
denz und Theologie habe ich mich nie befaßt; diese Gebiete waren
mir zu ausgedehnt und lagen von meinem beruflichen Leben all*
zuweit ab, auch erfordert ihr Studium den ganzen Menschen.
Dafür habe ich mich auch nie mit schlechten, schädlichen und
122
sinnlosen Wissenschaften abgegeben, habe daher weder Chiron
mantik, noch die Wissenschaft des Giftmischens oder Chemie ge#
trieben. Auch mit der Physiognomik habe ich mich nicht beschaff
tigt, denn das ist ein sehr umfangreiches Studium und überaus
schwierig und verlangt ein gutes Gedächtnis und scharfe Sinne,
Dinge, die ich nicht zu besitzen glaube. Ebenso hielt ich mich
von der Magie fern, die Zauberei treibt oder böse Geister und die
Seelen Verstorbener zitiert. Zu den lobenswerten Disziplinen, die
ich nie betrieb, gehört die Pflanzenkunde, die mir meines mangels
haften Gedächtnisses wegen verschlossen blieb, und die Agri*
kultur, deren Kenntnis mehr auf praktischer Übung als auf theo*
retischem Studium beruht. Von der Anatomie schreckte mich vieles
ab. Auch mit Gedichtemachen habe ich mich nie abgegeben, außer
in Notfällen und dann in sehr geringem Maße. Warum schieben
mir also so viele die Kenntnis von Dingen unter, an die ich nie
auch nur gedacht habe ? Nur um dem Ruf, den ich als ausübender
Arzt genieße, Abbruch zu tun; denn:
»Weniger brauchbar im einzelnen wird, wer mit vielem sich abgibt.«
Was jene Art von Astrologie betrifft, die sich mit Voraussagen ab*
gibt, so habe ich mich mit ihr befaßt, und zwar viel mehr, als ich
hätte tun sollen, und habe ihr auch zu meinem eigenen Schaden
Glauben geschenkt ; die andere, die sich mehr auf natürliche Dinge
beschränkt, habe ich nie ausgeübt, ich habe sie auch erst vor drei
Jahren, in meinem 7 1 . Lebensjahre ungefähr, zum ersten Male ken^
nen gelernt. Durchaus bewandert dagegen bin ich in der Geo^;
metrie, in der Arithmetik, in der theoretischen und praktischen
Medizin, noch mehr in der Dialektik, in der natürlichen Magie,
die sich mit der Eigenschaft der Dinge und ähnlichem abgibt —
wie z. B. daß der Bernstein die auf ihn gefallene Sonnenwärme
festhält und warum — und auch, wenn ich dies hierher rechnen
darf, im Schachspiel. Außerdem beherrsche ich den Gebrauch der
lateinischen und einiger anderen Sprachen, sodann namentlich
die Musiktheorie. Mit Nautik habe ich mich nie befaßt und auch
von der Kriegskunst — eigentlich darf ich sie wohl nicht zu den
wissenschaftlichen Disziplinen zählen — habe ich mich der vielen
Schwierigkeiten wegen, wie auch von der Architektur ferngehalten.
Dann gibt es noch gewisse Halbdisziplinen, wie den Gebrauch
123
symbolischer Zeichen, ihre Zusammensetzung, Erkärung. Inner*
halb meines eigentlichen Faches ist es nur die praktische Chirurgie,
worin ich nicht bewandert bin.
Zählt man alle bedeutenden Disziplinen zusammen, so sind es 36.
Davon habe ich mich in 26 gar nicht betätigt und mir darin auch
gar keine Kenntnis angeeignet; auf 10 Disziplinen hat sich mein
Studium erstreckt.
Es gab schon Leute, die unter dem Eindruck meiner allgemeinen
äußeren Bildung glauben wollten, ich besäße eine ausgedehntere
Kenntnis und reicheres Wissen. Diese Bildung wird erworben
durch tiefe und ständige geistige Anspannung und Aufmerksam*
keit, durch die Fertigkeit, Beziehungen zwischen den Dingen zu
schaffen, in die man eine gute Einsicht gewonnen hat, durch bes*
sere Grundsätze aber als die eines galen , der stets im Eifer des Wider*
spruchsiebte; nicht durch die unbestimmten und teilweise falschen
(es sei mir der Wahrheit, die wir suchen, zuliebe erlaubt, in eini*
gen Punkten ein klein wenig, nicht viel, wie man glauben möchte,
von der allgemeinen Ansicht abzuweichen) und nur scheinbar
richtigen Grundsätze eines plotin, sondern nur durch bestimmtes
und sicheres Urteil, durch Alter, durch scharfsinnige Intuition
und durch die Anwendung jener schon oft erwähnten fünf Arten
der Erfahrung [?]. Doch ich will jenen zehn Disziplinen, die ich
beherrsche, noch eine weitere hinzufügen: die Kenntnis vieler
historischer Dinge, die an sich keiner Disziplin wesentlich eigen
und doch von großem Nutzen ist, wenn es gilt, das Wissen aus
den einzelnen Disziplinen schön und mit Geschmack vorzutragen.
Dies möchte ich hinzugefügt haben und zugleich jedermann mah*
nen, er möge lieber (unser Leben ist nämlich kurz und voll der
verschiedensten Hemmnisse und vor allem voll von Unbequem*
lichkeiten) mit wenigem als mit vielem sich befassen, mit diesem
wenigen aber gewissenhaft und beharrlich; er möge sich dabei vor
allem das auswählen, was den Menschen und in erster Linie ihm
selbst von greifbarem Nutzen ist, und stets Grundsätze wählen, die
wahr und im Zusammenhang brauchbar sind, nie im Zorn oder
aus Ehrgeiz alles beiseitewerfen, sondern stets erproben, ob dies
oder jenes besser ist. Und wenn dich die Sorge plagt, dir einen
Namen zu verschaffen, und du vielleicht zu hoffen wagst, Nutzen
124
davon zu haben, so wisse, daß es besser ist, irgendeine Erfindung
so gut wie möglich zu vervollkommnen, als tausenderlei anzu*
fangen und nichts zu vollenden.
»PERSius wird mit seinem einzigen Buche weit öfter,
Als mit der amazonis marsus, der Leichte, genannt.«'
Dies, sehen wir, ist auch dem horaz mit einem Werke gelungen,
das nicht einmal groß, aber überaus fein und von Goldeswert ist.
Und jetzt könnte er sich mit dem Seher rühmen: »Solange noch
der Priester mit der schweigenden Jungfrau die Stufen des Kapi*
tols hinansteigen wird, solange werde er in seinen Büchern leben,
und die stygische Welle werde ihn nicht verschlingen.« Wir wissen
ja alle, daß jene Priester längst aufgehört haben, den kapitolini*
sehen Hügel zu besteigen, und daß horazens Ruhm noch heute
blüht. Und so habe ich durch meine Erfindungen und Entdeckungen
das allgemeine arithmetische Wissen auf das Zehnfache, das medi*
zinische nicht wenig erweitert.
Sache eines ernsten Mannes ist es dann namentlich, stets rasch auf
geradem Wege auf den Kern der Sache loszugehen. Und außer?
dem ist es nötig, sehr viel zu lesen. Wenn ich aber alle drei Tage
einen ungeheuren Band verschlingen soll, so muß ich dabei das
allgemein Bekannte und das weniger Nützliche zu übergehen
wissen, dunkle Stellen mit einem Merkstrich versehen und ge*
legentlich zurückgreifend auf Verständnis hoffen.
Bei Werken unserer Art ist es gebräuchlich, den Anfang der fol*
genden Ausführung dem Ende der vorangehenden anzupassen. Als
Belege für diese Stilart könnte ich Autoren göttlicher Art nennen.
Die Schreibweise sei sauber, rein, zusammenhängend, geordnet, die
Sprache Latein; dabei sei die stilistische Eigentümlichkeit der
Sprache gewahrt; das ganze Gewebe der Komposition wie des
Sinnes sei von einem einzigen strengen Grundsatz beherrscht.
Die rein abstrakten Wissenschaften freilich, wie Geometrie und
Arithmetik, dulden keinen stilistischen Schmuck; andere, wie Astro*
nomie und Jurisprudenz, lassen sich nicht in ununterbrochener
' MARTiAL, Sat. IV, 29. AULUS PERSIUS FLACCus, ein Stoiker, 34—62 n. Chr.,
schrieb nur 6 vielbewunderte Satiren, domitius marsus, Freund des virgil
und horaz, ein Vielschreiber, verfaßte unter anderem das umfangreiche
Epos »Amazonis«. Der Sinn der Verse ist: man schätzt die Seltenheit.
125
Rede fortführen, bedürfen vielmehr strenger Einteilungen und
innerhalb dieser einer stilistischen Ausschmückung.
Vierzigstes Kapitel
GLÜCKLICHE KUREN
1. Es war im Jahre 1537 oder 1538, im Sommer. Ich stand damals
in engem Verkehr mit donato lanza und hatte ihm, der schon
mehrere Jahre lang an Blutspucken litt, viele gute ärztliche Dienste
getan, lanza war mit dem Senator und kaiserlichen Rat [francesco]
SFONDRATi Sehr befreundet und hatte ihm oft geraten, er möge
doch meinen ärztlichen Rat in der Krankheit seines kleinen Sohnes,
der an Krämpfen litt, in Anspruch nehmen. Das Kind schien oft
mehr tot als lebendig zu sein, war immer sehr schwächlich, ver*
zerrt und verwachsen und geistig zurückgeblieben, wenn es auch
schließlich von den Krämpfen geheilt worden war. Nun wurde da#
mals der zweite, jüngere, neun oder zehn Monate alte Sohn des
SFONDRATI vom Fieber ergriffen; der Arzt luca della croce be;:
handelte ihn und äußerte, wie das so Sitte ist, die beste Hoffnung
auf Erfolg. Dieser Arzt war nämlich sehr befreundet mit sfon#
DRATi; denn della croce war Procuratore, sfondrati Patron des
Kollegiums [der Ärzte zu Mailand], und ein langer Verkehr und
viele Freundlichkeiten und Dienste, die sie sich gegenseitig ge*
leistet, verbanden beide. Doch nun befiel plötzlich, ohne daß das
starke Fieber aufhörte, das Kind ein überaus heftiger Krampf Da
der Kranke ganz offensichtlich in höchster Lebensgefahr schwebte,
riet DELLA CROCE, als zweiten Arzt den ambrogio cavenega bei*
zuziehen, und sfondrati, der an lanza dachte, ließ mich hinzu*
rufen. Morgens um 7 Uhr standen wir drei Ärzte und der Vater
des Kindes um den Kranken, della croce sagte nur wenige Worte
über die Krankheit, denn er wußte, daß sfondrati ein kluger
Mann war, und er selbst war ebenso aufrichtig als gelehrt, cave*
nega brachte zunächst gar nichts vor, da er erst an dritter Stelle
sich äußern sollte. Dann sagte ich: »Ihr seht, daß das Kind hier
an Opisthotonos [Nackenkrampf] leidet.« Bei diesem Wort sah
mich der Oberarzt [cavenega] erstaunt und fragend an, ob ich
126
ihn wohl mit einem dunklen Wort in die Enge treiben wolle. Doch
DELLA CROCE löste sofort diesen Zweifel und sagte: »Er meint eine
Zusammenziehung der Muskeln nach hinten.« »Gewiß,« ver*
sicherte ich und fügte hinzu: »Und zwar will ich dies sofort be*
weisen.« Ich richtete den Kranken auf; der Kopf hing stark nach
hinten. Die Ärzte und andere Leute hatten geglaubt, dies ge^:
schehe nur aus Schwäche und infolge des Eigengewichts des
Kopfes. Doch nun forderte ich sie auf, den Kopf des Knaben,
aber ganz langsam, in die richtige Lage zu bringen. Dies brachten
sie nun auf keine Weise zustande, so daß sich alle, in erster Linie
der Vater, darüber wunderten. Da brach della croce unwillkür?
lieh in die Worte aus: »Ei, weiß Gott (oder sonst ein Wort des
Ausrufs, womit man den Satz einleiten will), in der Diagnose
kommt doch niemand dem Herrn girolamo gleich!« Kaum fängt
SFONDRATi diese Worte auf, wendet er sich zu mir und sagt:
»Nachdem Ihr nun die Krankheit erkannt habt, sagt, kann sie ge#
heilt werden?« Die anderen schwiegen; ich aber wollte das nun
schon gewonnene Ansehen nicht durch eine leere, unsichere Ver#
sprechung gefährden und wandte mich darum zu den Kollegen :
»Ihr wißt doch, was hippokrates in diesem Falle von Fieber und
Krämpfen sagt?« und zitierte die betreflfende Stelle. Nun dachte
della croce, der sich die Freundschaft des Senators, so gut es
ging, wenigstens durch bescheidene Zurückhaltung zu erhalten
wünschte: wenn der Knabe gesund würde, werde er bald wieder
bei SFONDRATI in alter Gunst stehen; sollte er aber sterben, so
habe er wenigstens nicht den Anschein erweckt, als mißgönne er
einem Rivalen die verdiente Ehre. Darum überheß er mir nun
freiwillig die Behandlung des kleinen Kranken, und cavenega,
der Oberarzt, stimmte dem bei. Beide sahen ein, daß bescheidenes
Zurücktreten ihnen mehr Anerkennung verschaffen würde als
nutzloses Streiten. Ich ließ nun Waschungen anwenden und das
Kind in ein mit Leinen* und Olivenöl befeuchtetes Linnen wickeln,
verordnete, daß man es in dieser Weise und mit größter Vorsicht
behandeln solle, bis der Hals wieder in die richtige Lage komme,
daß die Amme sich von jeder Fleischspeise enthalten müsse und
dem Kind keinerlei Speise oder Trank reichen dürfe als Milch
und diese nur in geringer Menge, ferner, daß der Kranke in der
127
Wiege an einem warmen Ort liegen und die Wiege solange, bis
das Kind schlafe, in beständiger sanfter Bewegung gehalten werden
solle. Ich erinnere mich noch, wie der Vater, als die Ärzte weg*
gegangen waren, zu mir sagte : »Ich will dir dieses Kind an Sohnes*
statt anvertrauen.« Ich gab ihm zur Antwort: »Du sorgst schlecht
für ihn, wenn du ihm einen armen Vater für einen reichen ein*
tauschen willst.« Doch sfondrati sagte: »Aber ich sehe ja, wie du
für ihn sorgst, als wäre es dein Sohn, und dir keine Bedenken
daraus machst, jene beiden (er meinte die Ärzte) dadurch zu ver#
letzen.« »Doch es ist mir lieb,« sagte ich darauf, »wenn die
beiden in allem mir zur Seite stehen und mich unterstützen.« Dies
verlangte ich nur deshalb, damit er sehe, daß ich an der Kur weder
völlig verzweifle noch auch allzu sicher auf sie baue, und daß
meine Bescheidenheit noch größer sei als meine Gelehrsamkeit
und meine so nützliche praktische Erfahrung. Die Sache nahm
ein gutes Ende: obwohl das Kind schon 14 Tage lang krank lag
und wir gerade heißes Wetter hatten, war es doch unter meiner
Behandlung nach vier Tagen völlig gesund. Nicht daß ich, wie
ich wenigstens glaube, die Krankheit richtig erkannt hatte, denn
dies mochte man meiner großen Übung zuschreiben; auch nicht,
daß das Kind überhaupt gesund wurde, denn das konnte Zufall
sein; sondern daß ich es innerhalb vier Tagen gesund machte,
während sie sein Brüderchen mehr als sechs Monate lang umsonst
geplagt hatten und schließlich halbtot liegen ließen — darüber
staunte der Vater, und das war auch, wie ich glaube, der Grund,
warum er mich künftighin allen anderen Ärzten vorzog. Wahr*
scheinlich bedachte sfondrati auch, daß della croce, mein Ri*
vale und Feind, mir vor cavenega und vor ihm selbst diese Worte
der Anerkennung gesagt hatte, während er doch in seiner Stellung
als Procuratore mich, den Gegner des Kollegiums, anständiger*
weise nur loben durfte, wenn ihm kein Ausweg mehr blieb, und
er mochte einsehen, daß es offenkundig nicht meine Herkunft,
sondern nur Neid und Mißgunst waren, die meinem Fortkommen
im Wege standen. Und so hat er wohl in der ersten Freude über
die Heilung seines Sohnes die ganze Sache im Senat erzählt und
beim Gouverneur der Provinz und bei den übrigen Beamten und
Würdenträgern durchgesetzt, daß mir nun mit einem Male der
128
Eintritt in das Kollegium der Ärzte offen stand, das mich vorher
in mehreren Beschlüssen und schließlich sogar mit Hilfe von Ab*
machungen und Verträgen, die ich unterzeichnen mußte, zurück*
gewiesen hatte; daß ich ein öffentliches, sogar besoldetes Lehr*
amt an der Akademie erhielt und endlich von jedermann an*
erkannt wurde.
2. Die nächste glückliche Heilung war die des schottischen Erz*
bischofs HAMILTON [s. oben S. 70], der, 42 Jahre alt, schon zehn
Jahre lang an Atembeschwerden litt. Er hatte zuerst die Arzte des
französischen Königs, dann die Kaiser karls v. ohne Erfolg kon*
sultiert. Er schickte mir zunächst 200 Gulden nach Mailand, ich
solle nach Lyon kommen; dorthin schickte erweitere 300 Gulden
mit dem Auftrag, ich möge mich nach Paris begeben und, falls
er der Kriegswirren wegen nicht imstande sei, dorthin zu kom*
men, ihn in Schottland aufsuchen. Den Kranken behandelte sein
Leibarzt unter Leitung der Pariser Ärzte. Diesem machte man es
nun zum Vorwurf, daß die Besserung nicht voranschreite, und
nötigte mich, die Gründe hierfür anzugeben. Nun zürnte der Erz*
bischof seinem Leibarzt und dieser mir, weil ich die Sache ans
Licht gebracht hatte ; so hatte ich den einen zu fürchten und der
andere [der Erzbischof], der sich sofort besser gefühlt hatte, als
ich die Behandlung begonnen, klagte darüber, ich zöge nun
auch meinerseits die Heilung hinaus. In diesem Durcheinander
erbat ich mir die Erlaubnis, wieder heim reisen zu dürfen. Der
Erzbischof wurde ärgerlich, gestattete es aber schließlich doch.
Ich hinterließ genaue Verordnungen, die den Kranken nach zwei
Jahren völlig wiederherstellten. 75 Tage war ich bei ihm gewesen.
Daß er wieder gesund wurde, ist erwiesen. Der Erzbischof sandte
mir später seinen ersten Kammerdiener, Michael, nach, der mich
mit dem Versprechen einer hohen Besoldung als ständigen Leibarzt
gewinnen sollte. Aber ich konnte mich nicht dazu verstehen. Der
Erzbischof zahlte mir für diese Behandlung 1800 Goldgulden,
von denen 1400 in meine Hände gelangten.
3. In meiner Heimat [Mailand] heilte ich den Prior der Augustiner*
chorherrn, fancesco gaddi, in sechs Monaten von einer aussatz*
artigen Krankheit, woran er seit zwei Jahren litt. Doch dieser und
der vorhin Genannte [Hamilton] — o erbarmungswürdiges Men*
9Cardano 129
schenlosl — wurden nur geheilt, um politischer Händel wegen
zehn Jahre später eines gewaltsamen Todes zu sterben.
4. MARTAMOTTA, die 13 Jahre lang im Lehnstuhl saß und gar nicht
mehr gehen konnte, habe ich in zwei Jahren geheilt. Und während
die beiden vorhin Genannten etwa zehn Jahre nach ihrer Heilung
eines gewaltsamen Todes starben, hat diese noch nach 23 Jahren,
als ich meine Heimat verließ, gelebt und konnte umhergehen,
wenn sie auch für ihr ganzes Leben gebückt blieb.
5. Den julius catius, der bald darauf Erzieher beim jungen Prins
zen von Mantua wurde, habe ich von der Schwindsucht geheilt.
6. Den Sohn des giovanni maria astolfi vom hektischen Fieber.
7. Von eiternden Geschwüren den hadrian belga [der Belgier?],
der mir daraufhin in ganz wunderbarer Weise dankbar und förder*
lieh war und mein Freund wurde, so daß ich mir eine ähnliche
Erfahrung bei einem Italiener wünschen möchte.
8. Sodann heilte ich den in der ganzen Stadt sehr bekannten Kauf*
mann giovanni paolo negroli, der sich zwei Jahre lang von den
ersten Ärzten hatte behandeln lassen und schließlich als Schwind*
süchtiger aufgegeben worden war. Auch dieser ist mir ein guter
Freund geworden.
9. Auch den Gastwirt gaspare rolla, der gelähmt war und schon
ein Jahr lang wie ein Steinblock dalag und sich aus eigener Kraft
nicht im mindesten mehr rühren konnte, habe ich wieder gesund
gemacht; doch blieb ihm für immer ein schiefer und steifer Hals.
10. Soll ich hervorheben, daß mir noch nie ein Fieberkranker,
von andern Kranken durchschnittlich stets nur von dreißig einer
gestorben ist? Beweis dafür sind die Namen der Gestorbenen,
die in den Sanitätsregistern des Magistrats aufgezeichnet sind;
jedem Bürger der Stadt ist diese amtliche Gepflogenheit durchaus
bekannt. Es ist leicht, dies nachzuweisen, und so halte ich es auch
weder für passend noch für bequem, von anderer Seite Beweise
herbeizuschleppen und mich ihrer zu rühmen, vor allem, weil die
Arzte um solches sich wenig kümmern.
11. Ich bin auch von der Universität von Favia aus zum Herzog
von Suessa [gonsalvo ferrante di cordova, spanischer Statt*
halter in Mailand] gerufen worden und habe von diesem 100 Gold*
gülden und Seidenstoffe als Geschenk erhalten.
130
12. Ebenso bin ich auch von Bologna aus nach Modena zum Kars:
dinal morone gerufen worden. Wider meinen Willen drängte er
mir ein Geschenk auf, denn ich hatte das Bewußtsein, ihm viel
mehr zu schulden. An diesen zwei berühmten Männern habe ich
zwei treue Freunde und Helfer gewonnen. Ich selbst aber durfte
mit meinem eigenen Wirken zufrieden sein; denn ich habe in
Mailand, Bologna und Rom zusammen mehr als hundert schon
von allen Ärzten aufgegebenen Kranken die Gesundheit wieders:
gegeben. Und es darf nicht wundernehmen, daß ich die Heilkunst
so gut und glücklich auszuüben weiß, da ich doch auch jenen
Teil der Medizin, den man die Diagnose nennt, vollkommen
beherrsche. Zum Beweis dafür darf ich die beiden Bekannt?
machungen anführen, die ich in Bologna öffentlich verkünden
ließ. Ich versprach damals,jeden Kranken, der rechtzeitig in meine
Hände komme, nicht über 70 oder unter 7 Jahre alt sei (so ist
auch in den »Prognostica«, wo ich diese Sache mehrfach erwähne,
statt 5 sieben zu lesen) und der nicht infolge äußerer Eingriffe, wie
etwa infolge einer Verwundung, eines Stoßes oder Falles, eines
ungeheuren Schreckens oder einer Vergiftung krank sei, heilen
werde, vorausgesetzt, daß er bei Sinnen, nicht Epileptiker und
nicht dauernd kränkelnd sei, wie etwa ein Schwindsüchtiger, kein
verhärtetes Geschwür an der Leber, noch sonst ein gefährliches
Geschwür an einer bösen Stelle oder einen großen Harnstein in
der Blase habe. Zweitens versprach ich (doch mußte es mir im
einzelnen Fall frei stehen, die Sache einzugehen oder abzuweisen),
wenn ein Kranker im Sterben liege, so wolle ich Art und Sitz der
Krankheit feststellen und, wenn es sich nach dem Tode des Be*
treffenden zeige, daß ich mich getäuscht, als Strafe das hundertfache
des für die Konsultation erhaltenen Geldes zurückerstatten. Wes*
halb auch schon viele Ärzte, die offen die Hoffnung aussprachen,
mich eines Irrtums überführen zu können, solche Leichen sezier*
ten, wie z. B. die des Senators orso, des Doktors pellegrini, des
GIORGIO GHiSLiERi. In diesem letzteren Fall zeigte es sich, daß ich
ganz staunenswert richtig vorausgesagt hatte, die Krankheit sitze
in der Leber, obwohl der Urin ganz gesund war, und der Ma*
gen, wo der Kranke immer Schmerzen spürte, sei ganz unversehrt.
Auch später sezierten sie heimlich noch viele andere, konnten
9»
131
aber nie einen Irrtum meinerseits nachweisen, wagten auch nie
mehr, die gestellten Bedingungen anzunehmen oder andern dazu
zu raten.
13. Ich kehre zu meinen Heilerfolgen zurück. Zu Bologna gab ich
dem viNCENzo TORRONE die Gesundheit wieder, der schon über
ein Jahr an Hüftbeinschmerzen litt und immer im Bette lag, ohne
daß die Krankheit sich behob oder auch nur sich besserte.
14. Von ähnlichen Schmerzen heilte ich die Frau des Kaufmanns
CLAUDIO mitten im tiefsten Winter.
15. und 16. Dann habe ich in Rom die clementinamassa, eine vor*
nehme Matrone, und den Rechtsgelehrten giovanni cesare buons
TEMPO, die beide fast zwei Jahre lang krank lagen, höchst elend ge?
worden waren und schon alle bedeutenden Ärzte der Stadt konsul*
tiert hatten, so gründlich geheilt, daß sie noch lange leben mögen.
Ich habe auch früher in Mailand viele Spanier behandelt und dabei
ganz wunderbare Erfolge gehabt. Ich behaupte, daß niemand sich
rühmen kann, einen geheilt zu haben, den ich als unheilbar ent*
ließ, während ich selber eine große Menge von Kranken geheilt
habe, die man völlig aufgegeben hatte. Und an anderer Stelle
habe ich schon gesagt, daß man in dieser Kunst nicht von Glück
und Zufall reden dürfe. Braucht vielleicht der Barbier Glück, um
Haare schneiden zu können, oder der Musiker, um zu singen
und sein Instrument zu schlagen? Also auch der Arzt nicht.
Wohl aber gibt es in der Medizin gegenüber anderen Fertigkeiten
drei Dinge, die den Anschein erwecken, als seien sie dem Zufall
unterworfen. Erstens liegt sie den Sinnen nicht so offen zutage
wie die Kunst des Barbiers oder ein anderes Handwerk. Wenn
z. B. ein Arzt auf irgend eine Erkrankung innerer Organe oder
sonst auf eine verwickelte und komplizierte Krankheit stößt, so
mag es vorkommen, daß er nicht zu helfen weiß, nicht, weil die
Wissenschaft, sondern weil ihr Vertreter zu wenig Kenntnisse
hat. Auch besteht diese Wissenschaft aus so vielerlei Teilen, daß
man sie heute noch wie früher in einzelne Disziplinen zerlegt und
von Wundärzten und Augenärzten, wie in der Naturwissenschaft
von Steinkunde, Pflanzen* und Naturkunde spricht [?]. Und
auch diese einzelnen Disziplinen zerfallen wieder in viele kleinere
Fächer. Wenn nun zufällig einer auf eine Krankheit stößt, die er
132
schon oft und mit Erfolg behandelt hat, so kann man sagen, er
sei vom Glück begünstigt, andernfalls aber, er sei vom Unglück
verfolgt. Überdies ist der Arzt in seiner Wirkung abhängig von
seinen Medikamenten, von Dienern und Gehilfen, von Apo*
thekern, Chirurgen und Köchen; er muß darauf sehen, daß alle
möglichen Äußerlichkeiten in Ordnung sind, wie Feuer, Wasser,
das Krankenzimmer, und muß auf gesundheitfördernde Dinge
achten, wie Reinlichkeit, Ruhe, freundliche Umgebung. Furcht,
Traurigkeit, Zorn aber können umgekehrt bewirken, daß der
Kranke stirbt, obwohl die Krankheit heilbar war. Aber all dies
kann, kurz gesagt, auf künstlichem Wege bewirkt oder verhindert
werden, ist also von Glück und Zufall nicht abhängig. Nur inso*
fern eine Tätigkeit mehrere Disziplinen verschiedenster Art um#
faßt, wie die Medizin, oder, wie die Kriegskunst, auf einem ein*
zigen Gebiet eine große Anzahl von Mitwirkenden erfordert, oder
wenn es sich auf einem und demselben Gebiet und bei einem und
demselben Arbeiter um so vielerlei einzelne Gegenstände han*
delt, wie beim Nagelschmied oder bei der Herstellung von Mün*
zen, oder auch beim Säen und Ernten, ist der Erfolg im einzelnen
großem Wechsel unterworfen. — Und wenn es etwas zur Sache
tut — HIPPOKRATES behauptet nämlich, es tue sehr viel zur Sache
— , kann ich auch versichern, daß ich an mehreren Orten meine
ärztliche Kunst ausgeübt habe: zuerst in Venedig, dann im Ges
biet von Fadua beim Pöbel von Sacco, um italienisch zu reden,
in Mailand, in Gallarate, in Pavia, aber hier nur wenig, in Bo#
logna, in Rom, in Frankreich, nämlich in Lyon, in England und
in Schottland. Zu beachten ist auch mein Alter, denn ich bin nun
schon 75 Jahre alt geworden, während galen nicht älter als 67,
AviCENNA oder HOSSEIN [iBN siNA, s. oben S. 59] nur 57 gewor*
den ist. Beide haben auch fast ihr ganzes Leben auf Reisen zuge*
bracht: galen volle 20 Jahre ununterbrochen, hossein das ganze
Leben, aetius [griechischer Arzt im 5.-6. nachchristlichen Jahrs
hundert] hatte zugleich sein Bistum zu verwalten, oribases [grie*
chischer Arzt 325—400 n. Chr., Anhänger Julians des Apostaten]
wurde [unter Kaiser valens] nach dem Pontus verbannt, paulus
[von Aegina, griechischer Arzt und Schriftsteller des 7. Jahr*
hunderts n. Chr.] war ein sprichwörtlicher Landstreicher.
133
17. Doch lassen wir dies und erzählen wir den Fall des jungen
Adligen giulio ringleri, der zu Bologna in der Via Donato bei
der Kirche San Giacomo wohnte. Ich habe ihn am 20. Juni 1567
geheilt, nachdem er schon mehr als 40 Tage im höchsten Fieber
und an schwerer Zellgewebeentzündung krank lag, alles Bewußt?
sein verloren hatte und, wie üblich, schon allgemein als erledigt
galt.
18. Was soll ich von annibale ariosto, einem vornehmen und
reichen jungen Mann, erzählen? Er litt an einem Abszeß an der
Brust, der allmählich in eine Fistel überging, und als diese ver#
schwunden war, bekam er ein hektisches Fieber, spie täglich bis
zu zwei Pfund Blut und konnte nicht mehr schlafen, so daß die
Ärzte ihn als einen völlig unheilbaren Schwindsüchtigen, dessen
ganze Lunge verfault sei, aufgaben. Sie sperrten ihn sogar sehr
strenge ab, um die vier kleinen Knaben des Richters michel an*
GELO TORRONE vor Ansteckung zu bewahren. Diesen ariosto habe
ich in 30 Tagen innerlich und äußerlich völlig geheilt und wieder
so fett und rotbackig gemacht, daß die ganze Stadt staunte. In
500 Jahren hat man in Bologna nichts erlebt, was diesen beiden
Wundern gleichkäme.
19. und 20. Und bei den beiden jungen Leuten, die an dem Tor
gegen Modena zu in zwei angrenzenden Häusern wohnten, lio*
nardo und GIOVANNI BATTisTA, die an Durchfall und Fieber litten
und die man nach elftägiger Krankheit als unheilbar und schon
halb tot hatte liegen lassen, erkannte ich sofort, obwohl sie weder
Husten noch Atembeschwerden hatten, daß sie an einem Geschwür
auf der Lunge litten, und sagte voraus, daß sie nur durch Blut?
spucken gerettet werden könnten. Und dann haben auch tatsächlich
zum Staunen aller anderen Ärzte die beiden ganz zu gleicher Zeit
innerhalb 25 Tagen seit Beginn der Krankheit ungefähr ein Pfund
reinen Blutes ausgespien, und nach weiteren 4 oder 5 Tagen waren
sie völlig wiederhergestellt.
2 1 . Nicht weit von diesen beiden Leuten wohnte derjunge marcan?
TONio FELiciNO, der infolge einer langen Krankheit die Sprache
verloren hatte (er war übrigens, wie ich höre, aus einer sehr alten
Familie, der Brudersohn eines Senators) und beständig am Fieber
litt, auf gar nichts mehr achtete, ganz stumm, schwach und zum
134
Tod elend geworden und von allen anderen Ärzten aufgegeben
war, da sie gestehen mußten, weder die Krankheit zu kennen,
noch überhaupt etwas Ähnliches gesehen zu haben ; einige behaup*
teten auch, er sei durch eine Dirne durch Gift soweit gebracht
worden. Man gab ihn mir in Behandlung, und schon nach vier
Tagen kam er wieder zu Bewußtsein und konnte sprechen, nach
zehn oder zwölf weiteren Tagen hatte ich ihn völlig geheilt, und
ich glaube, daß er jetzt noch lebt. Die Ärzte waren dieser Fälle
wegen sehr schlecht auf mich zu sprechen, weil ich ihnen nämlich
keinerlei Rechenschaft über mein Verfahren gab, noch ihnen
meine Mittel mitteilte.
22. Und was soll ich von agnese sagen, der Frau des Kaufmanns
CLAUDIO GALLi in Unserer Stadt, die von den bedeutendsten Ärzten
so gut als verloren aufgegeben worden war? Und dies mit Recht,
denn ich selbst habe nie einen anderen Kranken, obwohl ich schon
viele Patienten hatte, die dem Tode näher waren, mit größerer
Mühe geheilt als diese.
23. Ich erinnere dann noch an das, was ich schon an anderer Stelle
ganz allgemein von Wahnsinnigen, Epileptikern und einigen
Blinden, die ich geheilt, gesagt habe, von Wassersüchtigen und
von Buckligen, deren Krankheit ich Einhalt getan, von Lahmen,
denen ich Besserung gebracht habe. 24. Ferner an die Kinder
eines Schreiners an der Porta Tosa, 25. an die fast wunderbare
Heilung des lorenzo gadio, 26. an die des Gesandten des Herzogs
von Mantua und 27. an die glänzende des erlauchten Spaniers
juAREZ. 28. Was soll ich von simone lanza reden? 29. Vom Mar*
schall? 30. Von der Tochter des giovanni angelo linati? 31. Von
ANTONIO scAzoso? 32. Und endlich von der staunenswerten Kur
des Sohnes des Kaufmanns martino? 33. Von der Frau des Apo*
thekers zu den Drei Königen? 34. Ich habe Leute von alten
Schmerzen befreit, an denen sie viele Jahre gelitten, 35. andere
vom Blutharnen. 36. Vom doppelten viertägigen Fieber habe ich
jeden Kranken ohne Ausnahme geheilt, 37. und habe, obwohl erst
spät gerufen, in der vergifteten Familie sirtiri alle Kinder ge*
rettet, wennschon beide Eltern gestorben sind. 38. Ich erwähne
noch den Fall des Bäckers agostino, der an der Wassersucht litt
und 39. den Wettstreit mit cavenega und candiano bei der Be*
135
handlungdesoTTAviANO MARiANi. Und man darfes nicht als einen
Beweis dafür ansehen, daß ich sonst weniger glückUche Erfolge
gehabt hätte — da ich doch eine ganz unglaubliche Menge anderer
Beispiele übergehe — wenn 40. der Fall des Antonio maroraghi
ein ungünstiges Ende nahm, obwohl meine Behandlung auf Fieber,
Fest und Podagra durchaus nicht falsch war. Die Mailänder Ärzte
pflegten freilich zu sagen, meine Heilerfolge danke ich nicht meinen
ganz hervorragenden medizinischen Kenntnissen, sondern nur
einem freundlichen Zufall: die Kranken, die nun eben einmal
sterben sollten, kämen in ihre, die, denen es beschieden sei, wieder
gesund zu werden, in meine Hände.
Wundere dich nicht, lieber Leser, und glaube nicht, daß ich lüge!
Dies alles ist Tatsache und hat sich zugetragen, wie ich es geschiU
dert, und noch viel mehr und viel größere Dinge sind mir geglückt.
Ich kann keine bestimmte Zahl nennen, aber ich glaube, diese
außerordentlichen Heilungen belaufen sich auf 180 und noch viel
mehr. Argwöhne auch nicht, daß ich mich ohne Grund rühmte
und vielleicht wünschte oder hoffte, über einen hippokrates ge*
stellt zu werden. Einmal, was die Lüge betrifft, weshalb sollte ich
so schamlos lügen? Man braucht ja nur nachzuforschen, und bin
ich auch nur auf einer einzigen Lüge ertappt, so stürzte mein ganzer
Lügenbau zusammen. Oder ob ich es nur sagte des Ruhmes und
größeren Gelderwerbes wegen? Ich weiß mir kein größeres Un*
glück, als wenn mir schwere Krankheitsfälle begegnen ; denn ich
habe durchaus nicht die sichere Zuversicht, daß mir alles so gut
glückt wie in vergangenen Jahren, plinius und plutarch erzählen
von CAESAR, er sei, nachdem er fünfzigmal in offener Feldschlacht
siegreich gefochten habe, weiteren Schlachten lieber aus dem Wege
gegangen, um nicht den erworbenen Ruhm durch eine Niederlage
schmälern oder beflecken zu müssen. Wieviel leichter kann mir eine
derartige Niederlage begegnen? Und dann, wie kann ich noch ir*
gend etwas Großes aus einer täglichen Ausübung meines Berufes
erhoffen? Nur mit einigen wenigen erlesenen Fällen wäre dies
möglich, wenn ich überhaupt noch irgend etwas erhoffen darf. Und
was meinen Ruhm anbelangt, so gewinne ich für den aus meiner ärzt^
liehen Praxis nicht bloß sehr wenig, sondern so gut wie gar nichts.
Denn ein hippokrates ist nicht dadurch berühmt geworden, daß er
136
viele geheilt hat — nach seiner eigenen Aussage sind ihm übrigens
von 42 Kranken 25 gestorben, nur 17 geheilt worden — sondern
dadurch, daß er uns die Theorie seiner Heilungen hinterlassen
hat. Und in diesem Punkte stehe ich ihm doppelt nach. Erstens,
weil man glauben könnte, diese meine Heilerfolge verdanke ich
göttlicher Hilfe, nicht meiner eigenen Gelehrsamkeit. Auch sind
mir ja tatsächlich so viele glückliche Erfolge auf diesem Gebiete
beschieden gewesen, daß ich niemals hoffen darf, je wieder Ähn#
liches zu erreichen, und mich nur in seltenen Fällen in Wahrheit
rühmen darf, den Erfolg einzig und allein meinem Wissen und
meinem Verstand zu danken, obwohl ich in diesem Punkte ge?
leistet habe, soviel ich konnte. Auch ist zu bedenken, daß die Krank*
heiten, mit denen hippokrates zu tun hatte, viel schwerer und
gefährlicher waren, daß er in Thessalien in gebirgiger Gegend
oder in deren Nähe zu wirken hatte, unter rauhen Winden, bei
schlechten, schwer verdaulichen Weinen, Hülsenfrüchten und ver#
dorbenem Wasser, daß seine Kranken ein ungeordnetes Leben
führten und oft sehr gesundheitsschädlichen Bräuchen huldigten,
daß er keine Arzneien und keinerlei Auswahl in seinen Heil*
mittein hatte. Wäre ich an seinem Platze gewesen, so hätte ich
gewiß nicht soviel Wunderbares geleistet wie er, und hätte er in
unseren heutigen geordneten Verhältnissen, in diesem milden
Klima, das an allen Vorzügen Überfluß hat, seine ärztliche Praxis
ausgeübt, er hätte gewiß keine derartigen Mißerfolge gehabt.
Was soll mir also Prahlerei in diesen Dingen? Doch sei es drum;
ich fühle ja, daß der Herr mir Beifall spendet, da ich all dies, wie
ich glaube, der Wahrheit gemäß erzähle. Möge, wer mir den Vor*
wurf der Prahlerei macht, seiner bösen Lust üppig frönen — Ge*
nüge tun, wäre zu wenig gesagt — und die arme Blüte ihrer Frucht
berauben, die letzte Freude dem Manne nehmen, der in großer
Armut lebt, von so viel Widersachern umgeben, so vielem Un*
recht ausgesetzt, von soviel Unglück niedergeschlagen ist. Doch
ich weiß, ich habe dies bißchen Ruhm längst erworben und zwar
ohne den Verdacht der Lüge, auch ohne darum beneidet zu werden.
137
Einundvierzigstes Kapitel
WUNDERBARE DINGE NATÜRLICHER ART, WO*
VON ICH ABER NUR WENIGES SELBST ERLEBTE.
UND WIE MEIN SOHN GERÄCHT WURDE
Zu den größten und allerseltsamsten Ereignissen natürlicher Art
zähle ich in erster Linie dies, daß ich in dem Jahrhundert zur
Welt kam, da der ganze Erdkreis entdeckt wurde, während den
Alten nur wenig mehr als der dritte Teil bekannt gewesen war.
Jetzt haben wir Amerika entdeckt und, um einzelne Teile zu nennen,
Brasilien — der größte Teil der bisher unbekannten Länder — ,
die Feuerlande, Patagonien, Peru, Charcas, Parana, Acutia [der
südliche Teil Brasiliens], Caribana [Guyana], Picora [?], Neu*
Spanien [Mexiko], Quito, Quivira, den ganz im Westen gelegenen
Teil Amerikas [gemeint sind die Gebiete nördlich von Kalifornien],
Neufrankreich [Canada] und weiter nach Süden Florida, dieTerra
Corterealis [Labrador], Estotitiland [Südkalifornien], Maratä.
Und außerdem im Osten die gegen den Südpol zu gelegenen
Länder, die vielleicht die der Skythen sind, und ferner einige
bisher unbekannte Länder im Norden, wie Japan, Binarchia [?],
das Land der Amazonen [?] und jene Länder bei der Insel der
Teufel (wenn diese Länder nicht fabelhafter Art sind). Bis alle
diese Gebiete gerecht verteilt sind, wird es sicherlich — dies ist
wohl anzunehmen — noch große Mißhelligkeiten geben.
Wissen und Einbildung wachsen, die guten Künste aber werden
zurückgedrängt und verachtet, und Sicheres wird mit Ungewissem
vertauscht. Doch lassen wir dies und freuen wir uns der blühen*
denWiese unseres Lebens. Gibt esWunderbareresals die Erfindung
des Pulvers, dieses Blitzes in Menschenhand, der viel verderben?
bringender noch ist als der des Himmels? Und auch dich will ich
nicht vergessen, du großer Magnet, der du uns durch die weitesten
Meere, durch finstere Nacht und fürchterliche Stürme sicher in
fremde, ungekannte Länder geleitest. Und als viertes sei noch ge*
nannt die Erfindung der Buchdruckerkunst. Menschenhände
haben dies alles gemacht, Menschengeist erfunden, was mit des
Himmels Wundern wetteifern kann ! Was fehlt uns noch, daß wir
den Himmel stürmen? O Wahnsinn der Menschen, wenn wir
138
nicht erkennen, was nutzlos und eitel, was wichtig und wesent*
lieh ist! Und hochnäsiger Stolz, wenn wir nicht bewundern! Doch
kehren wir zum Thema zurück.
Es war der 20. Dezember des Jahres 1557, da mir alles zum besten
zu gehen schien. Ich schlief nicht bis gegen Mitternacht, obwohl
ich Schlaf suchte. Da schien mir plötzlich das Bett zu wanken und
mit ihm das ganze Schlafgemach. Ich hielt es für ein Erdbeben.
Und schließlich befiel mich der Schlaf. Am andern Morgen, so#
bald es hell geworden war, frug ich den simone sosia, der auch
jetzt hier in Rom bei mir ist und der damals in meiner Nähe in
einem kleinen, fahrbaren Bette lag, ob auch er etwas gespürt habe.
Ja, er habe Zimmer und Bett wanken gefühlt. Um welche Zeit?
So um die sechste oder siebente Stunde der Nacht. Nun begab ich
mich auf den Marktplatz und frug mehrere Leute, ob sie das Erd#
beben heute Nacht gespürt hätten. Bei keinem war es der Fall.
Ich komme nach Hause zurück, da läuft mir mein Diener ganz
traurig entgegen und meldet mir, daß mein Sohn giovanni bat*
TisTA die BRANDONiA SERONi zur Frau genommen habe, ein Mäd*
chen, das er liebte, die aber gar kein Vermögen besaß. Also daher
der Schmerz, daher die Tränen! Ich gehe hin und sehe, daß die
Sache geschehen war. Und dies war der Anfang allen Unglücks.
Es war dies heute Nacht wohl ein Bote des Himmels, dachte ich, der
wußte, daß die Sache am Abend abgeschlossen worden war, und mir
es nun melden wollte. Schon am frühen Morgen, ehe ich das Haus
verließ, war ich auf meinen Sohn gestoßen und hatte zu ihm ge*
sagt (nicht so sehr durch das nächtliche Zeichen erschüttert,
als weil er ganz entstellt und verändert aussah): »Mein Sohn,
nimm dich heute wohl in acht, daß du nicht irgend ein großes
Unglück anrichtest!« Ich habe den Ort noch genau im Gedacht*
nis: es war an der Haustüre; doch weiß ich nicht mehr, ob ich
ihm etwas von dem nächtlichen Zeichen sagte. Wenige Tage später
schien das Schlafzimmer wieder zu wanken. Ich greife mit der
Hand nach der Brust und fühle mein Herz heftig pochen; ich
pflegte nämlich auf der linken Seite zu schlafen. Ich stehe auf, und
sofort hört sowohl das Beben wie das Herzklopfen auf; worauf
ich mich wieder zu Bette legte. Da jedesmal gleichzeitig mit dem
Beben auch das Herzklopfen eingetreten war, merkte ich, daß beide
139
miteinander im Zusammenhang stehen müssen. Ich erinnerte mich
nämhch, daß auch das erstemal, als das Zimmer zu wanken schien,
mir das Herz klopfte, als wäre es eine ganz natürliche Sache. Nun
sah ich aber nicht ein, wie das Herzklopfen früher als das Beben
sein konnte, und merkte nur, daß es sich um ein doppeltes Beben
handle: ein natürliches, das ich infolge meines Herzklopfens zu
spüren glaubte, und ein anderes, das mein Schutzgeist bewirkt
haben mochte. Ich schloß das aus einem ähnlichen Vorgang, der
schon viele Jahre zurückliegt. Früher, wenn ich oft vor Tages*
anbruch erwachte, fühlte ich die heftigsten und drückendsten Be*
klemmungen und Beängstigungen. Auch jetzt wache ich mitunter
noch zu frühe auf, aber seit einigen Jahren haben diese Beklems
mungen aufgehört. Denn das jetzige Erwachen mag mehr von
krankhafter Gewohnheit als von einem Eingriff meines Schutz*
geistes kommen.
Ähnliches ereignete sich im Jahre 1531. Eines Tages heulte ein
sonst ganz stiller Hund gegen seine Gewohnheit ununterbrochen,
Raben saßen auf dem Dach des Hauses und krächzten ungewöhn*
lieh laut, und als mein Hausbursche ein Bündel Holz zerbrach,
sprangen Feuerfunken heraus: ich heiratete noch im gleichen Jahre
ganz unerwartet rasch, und von dieser Zeit an verfolgte mich ein
Unglück nach dem andern. Und doch brauchen alle diese Dinge
durchaus nicht göttliche Zeichen zu sein: als ich ungefähr 13 Jahre
alt war, riß mir ein Rabe auf dem Platz von S. Ambrogio einen
Fetzen vom Kleid und wollte ihn nicht loslassen, obwohl ich mit
aller Gewalt dran zog und ihn wegzutreiben suchte — und doch
ist daraufhin viele Jahre lang weder mir noch einem der Meinen
etwas Trauriges zugestoßen.
Auch andere große Dinge habe ich beobachtet, die aber durchaus
natürlicher Art waren. Einmal, ich war damals noch ein Knabe,
sah ich hoch oben am Himmel, als es schon beinahe 22 Uhr war,
einen der Venus ähnlichen Stern, der so hell strahlte, daß ihn die
ganze Stadt sah. Dann sah ich im Jahre 1531 drei Sonnen, alle
im Osten und von Strahlen umgeben; es war im April, zu Venedig,
wo ich mich zufällig aufhielt, und das Schauspiel dauerte beinahe
volle drei Stunden. Schon früher, ungefähr im Jahre 1512, waren
in der Gegend von Bergamo, an der Adda, in einer Nacht, wie
140
man erzählte, über 1000 Steine vom Himmel gefallen, nachdem
am Abend zuvor eine ungeheure Flamme in der Luft vorüber*
gezogen war in Gestalt ungefähr eines ungeheuren Balkens. Ich
habe, als ich noch Knabe war, einen dieser Steine gesehen im Ge*
wicht von mehr als 110 Pfund (ich erinnere mich nicht mehr,
waren es Pfunde nach dem gemeinen oder dem größeren Maß;
111 größere Pfunde sind soviel als 259 nach Mailänder Maß);
es war im Hause der marcantonio dognani bei der Kirche
San Francesco. Die Gestalt des Steines war unregelmäßig und auf
allen Seiten wie abgebrochen, so daß man daraus auf einen Sturz
schließen konnte; er war aschfarbig, roch nach Schwefel, nament?
lieh wenn man daran rieb, und sah ganz aus wie ein Schleifstein,
wie sie bei uns allgemein üblich sind. Das ganze konnte auch
Schwindel sein, denn man grub dort viele derartige Steine aus dem
Boden und verkaufte sie allmählich in der ganzen Welt unter dem
Namen Schleifsteine. Ich wollte diese Sache hier anbringen, weil
ich sie weder bei gaspare bugatto [ein Mailänder Dominikaner,
Verfasser einer bis 1569 reichenden Weltchronik] noch bei fran*
CESCO sansovino [francesco tatti 1521 — 1586, vielseitiger Ge?
lehrter und Schriftsteller], den beiden sorgfältigsten zeitgenössi*
sehen italienischen Schriftstellern, irgendwie erwähnt fand. Aber
wozu sollte jener Adlige die Sache erdichtet haben? Auch wurden
allmählich noch viele andere, freilich kleinere Steine derselben
Art gezeigt, und die ganze Sache mußte ja den damals regieren«
den Fürsten eine ganz unwillkommene Erscheinung sein. Denn
es ist bekannt, daß solche Dinge oft neuerungssüchtige Menschen
zu Unruhen verleiten, und vielleicht sind sie auch tatsächlich auf
solche Menschen von deutlich bestimmbarem Einfluß.
Doch sei dem. wie ihm wolle. Bekannt ist, daß zu derselben
Zeit in Venedig ein so starkes Erdbeben stattgefunden hat, daß
die Kirchenglocken von selbst zu läuten anfingen. Dies Zeichenge«
schah im Jahre 1511. Und im Jahre 1513, als massimiliano Sforza,
Herzog von Mailand, nach Verlust seiner ganzen Herrschaft von
den Franzosen in Novara belagert wurde, kamen französische
Hunde haufenweise in die Stadt und umwedelten und beleckten
die Hunde der Schweizer. Als dies jakob mutt aus Altdorf, ein
Offizier der Schweizertruppen, der schon in mehreren Schlach«
141
ten gefochten hatte, sah, hef er zum Sforza und verhieß ihm aus
diesem Zeichen einen sicheren Sieg, der denn auch tatsächhch
am anderen Tag gewonnen wurde. — Ich scheine mit dem ebenEr*
zählten über den Rahmen meines Gegenstandes hinausgegriffen zu
haben, aber tatsächhch gehört es doch zum vorhegenden Thema,
denn ich will ja zeigen, daß ich zu einer Zeit geboren bin, da
viele wunderbare Dinge geschahen. — Als ich jung war (und auch
noch in jüngster Zeit), schien mir oft , wenn ich vom Schlaf erwachte,
alles, was sich im Schlafzimmer befand, in strahlendem Licht zu
erglänzen; aber gleich darauf erlosch die Erscheinung wieder. Es
heißt, daß auch tiberius solche Erscheinungen gehabt habe.
Als in der Nacht vor dem 23. Januar 1565, dem Tag, da cesio
wegging und crasso in meine Dienste trat, mein Bett zwei*
mal in Brand geriet, sagte ich voraus, daß ich nicht lange mehr
in Bologna bleiben würde. Und tatsächlich habe ich bei der ersten
Gelegenheit [Bologna zu verlassen] mich noch gesträubt, bei der
zweiten war mir dies nicht mehr möglich. Im Jahre 1552 stieg
mein sanftes Haushündchen, das ich zu Hause gelassen hatte,
auf meinen Schreibtisch und zerriß dort das Manuskript meiner
öffentlichen Vorlesung; das Buch »de fato«, das ihm viel näher
und günstiger gelegen wäre, rührte es nicht an. Und vom Jahres*
Schluß an mußte ich ganz unerwartet meine Vorlesungen einstellen
und las acht volle Jahre lang nicht mehr.
Mitunter ist es erlaubt, aus den kleinsten Dingen, wenn sie über
die Maßen lang dauern, Schlüsse zu ziehen; denn aus Kleinigkeiten
immer der gleichen Art besteht, wie ich an anderen Stellen erklärt
habe, wie das Netz aus den Maschen, alles im menschlichen Leben,
aus Kleinigkeiten, die sich immer wiederholen und zusammen?
gesetzt, wie Nebel undWolken, verschiedene Figuren bilden. Und
so wächst nicht nur das ganze Leben, indem sich die kleinsten Dinge
aneinanderreihen, man muß auch lernen diese kleinsten Dinge
allmählich in ihre unendlichen Einzelheiten, möchte ich sagen, zer*
gliedern und auflösen. Nur der allein wird in seinem Beruf, in
seinen U nternehmungen und bürgerlichen Geschäften der Fähigste
sein und den höchsten Gipfel der Erfolge ersteigen, der dies ver*
steht und in der praktischen Tätigkeit selber zu beobachten weiß.
Am Tage, da lodovico ferrari mit seinem Oheim luca von Bo*
142
logna zu uns kam, hatte eine Elster im Hof wider Gewohnheit so#
lange geplappert, bis wir schließlich in Erwartung versetzt wurden,
daß jemand kommen müsse. Es war dies am 30. November des
Jahres 1536. Hatten nun wohl beide Tatsachen miteinander zu
tun? Gewiß nicht. Wie oft täuschen uns auch solche Dinge! Dem
einen, wie augustus zum Beispiel, mag es nützlich sein, auf solche
höchst unsicheren und ungewissen Versuche der Art zu achten;
andere, wie ein caesar oder sulla, suchen sie zu mißachten.
Ganz dasselbe ist es mit denWahrscheinlichkeitsberechnungen beim
Würfelspiel: sie versagen entweder ganz oder bleiben doch un*
klar und unsicher. Erscheinungen nun, die übernatürlicher Art
sind, entgehen jeder natürlichen Berechnung, und solche, die sich
berechnen lassen, enthalten nichts Wunderbares, außer eben für
den, der nichts davon versteht. Etwas anderes war es damals, als
ich beinahe im Gardasee ertrunken wäre [s. o. S. 75]; ich hatte
mich damals gefürchtet, das Schiff zu besteigen, ohne einen Grund
dafür angeben zu können, da ja auch die Luft völlig ruhig war.
Im gleichen Jahre [1525] erschienen mir noch mehrere Zeichen,
die sich auf Befreiung, andere, die sich auf drohende Unglückss
fälle deuten ließen, so z. B. löste sich die Kette, an der ich einen
Smaragd um den Hals trug. Und schon vorher waren drei Ringe,
die ich am Finger trug (eine höchst sonderbare Sache!), zu einem
zusammengeflossen. Und so ist die Lösung der Kette wie die Ver#
einigung der Ringe nicht wenig staunenswert, denn tatsächlich
folgten später Verdammung und Lossprechung. Solche Winke
sind Gaben Gottes; nichts weniger dagegen, was sonderbare Un*
regelmäßigkeiten aller Art betrifft. Von meiner frühesten Jugend
an bis zu meinem Tod bin ich verdammt, an Atembeschwerden
zu leiden; früher litt ich auch an großer Kälte in den Füßen bis
tief in die Nacht hinein, hatte viel Herzklopfen und reichlich
Schweiß; diesen löste später ein anhaltender Harnfluß ab; ich
hatte bald nur noch wenig und überaus schwache Zähne, meine
rechte Hand war unförmlich, die Lebenslinie ganz kurz, ungleich*
mäßig, abgerissen und viel verästelt, die anderen wichtigen Linien
dünn wie Haare und ganz unregelmäßig. So böse Sterne beschienen
meine Geburt, daß jedermann sagte, ich werde das 45. Jahr nicht
überleben. Alles hat sich als eitel erwiesen: ich lebe noch immer
143
und zähle 75 Jahre, freilich nicht weil diese Künste trügten, sondern
weil ihre Meister nichts verstanden. Ja, wenn es schon derartige
Zeichen gäbe, so brauchten sie nicht klarer und einleuchtender
zu sein als bei einem Aristoteles, von dem wir nichts dergleichen
lesen. Doch ich will nunmehr zur Geschichte meines Sohnes über*
gehen, die fürwahr manches bietet, was der Erwägung mehrwert
ist als vieles andere.
In 121 Tagen spielte sich der ganze Fall meines Sohnes ab. Er
starb mit den Worten, an seinem Tod sei die Unkenntnis derer
schuld, die seine Hinrichtung geraten und die Begnadigung ab#
gewiesen haben. Es war das der Senator falcuzio, ein sonst hoch*
bedeutender Mann. Seiner Ansicht war der Gerichtshof gefolgt.
Dieser falcuzio erkrankte sofort nach der Verurteilung meines
Sohnes, bekam die Schwindsucht und starb, nachdem er die ganze
Lunge ausgespieen hatte. Der Präsident des Gerichtshofs, rigone,
der die Verurteilung durchgesetzt hat, hat bald darauf seine eigene
Frau ohne kirchlichen Beistand zu Grabe getragen [oder: ohne
Unterhalt aus dem Hause gejagt?] — eine seltsame Tatsache! Doch
ich habe sie von verschiedenen Leuten bestätigt gehört. Es heißt
auch, er sei selbst, obwohl sonst ein ganz unbescholtener Mann,
nur durch den Tod einer gerichtlichen Untersuchung über ein
Verbrechen entgangen, dessen er bezichtigt wurde. Und dann
wurde auch bald sein einziger Sohn, noch ein Jüngling, vom Tode
hingerafft, so daß man wohl sagen darf, daß der Fluch sein ganzes
Haus vom Erdboden weggezaubert hat. Und innerhalb weniger
Tage wurde auch der Schwiegervater meines Sohnes, der auf seinen
Tod hingearbeitet hatte, in den Kerker geworfen, verlor schließ?
lieh sein Amt als Steuereinnehmer und mußte betteln gehen. Sein
eigener Sohn, den er innig liebte, hat den Tod am Galgen ge*
funden; er wurde, wie ich höre, in Sizilien verurteilt. Von allen
denen, die meinen Sohn angeklagt hatten, ist kein einziger großem
Unglück entgangen; sie verkamen im Elend oder starben eines
gewaltsamen Todes. Ja auch unser sonst so edler und menschen*
freundlicher Herr und Fürst [gonsalvo ferrante di cordova,
Herzog von Suessa, seit 1557 spanischer Statthalter in Mailand],
der meinen Sohn meinen vielen Neidern und Feinden zuliebe im
Stich gelassen hat, ward von vielem Unglück und schweren Krank*
144
heiten heimgesucht; seine eigene Nichte wurde von ihrem Ge*
mahl ermordet, schwere Unruhen störten seine Regierung. Auch
öffentHches Unglück folgte: die Insel der Lotophagen [?] ward
genommen [1570 gingCypern an dieTürken verloren], die könig*
liehe Flotte zersprengt. Ich bin weder so anmaßend noch so töricht zu
glauben, diese Dinge ständen in Beziehung zu meinem Schicksal.
Aber wenn eben ihre besten Fürsten, mit öffentlichem und mit eige?
nem Unglück beschäftigt, ihnen keinen Schutz mehr bieten können,
so werden gutgesinnte Menschen in Zeiten großen Unheils nieder?
geworfen und zerdrückt wie die Saaten im Sturm; und auf solche
Augenblicke, sie zu nützen, lauern die gottlosen Ränkeschmiede
[die Türken], denn keine andern bieten ihnen mehr und gewissere
Hoffnung auf Erfolg.
Zweiundvierzigstes Kapitel
MEINE fÄHIGKEIT DES VORAUSSEHENS IN BE^«
RUFLICHEN UND ANDEREN DINGEN
Was nun des weiteren Grund und Ursache gewesen, warum
ich auf diesem Gebiete mehr Ruhm erntete, als ich eigent*
lieh wünschte, ob es göttliche Eingebung oder meine harpo#
kratische [hellseherische] Natur oder eine gewisse Vollkommen*
heit meiner Sinne und meiner Urteilskraft gewesen sein mag, weiß
ich nicht mit Sicherheit zu sagen. In meiner ärztlichen Praxis
waren es die Fälle der cecilia madia und des Sohnes des giovanni
GiACOMO RESTA, die Aufsehen erregten, und noch so viele andere,
daß in so langer Zeit sich niemand rühmen konnte. Ahnliches ge#
sehen zu haben. Ja auch meine Gegner, die sehr oft versucht haben,
mir die Fähigkeiten auf anderen Gebieten der Medizin abzu?
sprechen, haben mir in der Diagnose immer den ersten Platz ein?
geräumt, obwohl ich selber nichts dergleichen wünschte. Doch
lassen wir alles einzelne: habe ich doch zu Bologna das Angebot
gemacht, wenn einer mir zehn Gulden zahlen wolle, daß ich zwei?
oder drei? oder auch nur ein einziges Mal einen Kranken aufmerk?
sam untersuchen könne, so werde ich voraussagen, woran der
Kranke sterben werde, und das hundertfache des erhaltenen Be?
lOCardano 145
träges zurückerstatten, wenn ich mich darin getäuscht. Sie haben
darnach mehrere verstorbene AdHge seziert, zuerst in meiner
Gegenwart und dann, als sie sahen, daß ich mich nie täuschte,
heimhch, um nicht so oft vor mir erröten zu müssen. Aber in den
vollen acht Jahren, da ich in Bologna meinen Beruf ausübte, ist
es ihnen nie gelungen, mir in solchen Dingen widersprechen zu
können, ja sie wagten nicht einmal mehr gegen mich zu mucksen,
so glücklich war ich in diesem Punkte. Und was ich außerhalb
meines Berufes, z. B. gegenüber König eduard vi. von England
vorausgesagt, wie ich ihm verkündete, daß seiner Regierung
Schwierigkeiten drohten und welcher Art diese seien, das verdient
gewiß jedermanns Bewunderung. Ich schweige hier von Dingen,
die ich auch in den Versen der Todesklage auf meinen Sohn [s.
u. S. 203] verschweigen will, Dinge, die einem Wunder, wie ich
glaube, näher stehen als bloßen Orakelweisheiten; ich sah voraus,
was bis zum achten Jahre nach seinem Tode eintreffen sollte.
Aber ich rechne, wie ich schon einmal gesagt habe, mir solche
Dinge nicht zum Ruhme an und wollte lieber, sie hörten auf, als
daß ich auf diese Weise Ruhm zu erwerben suchte. Ich habe auch
den Verlust Cyperns [1570] von Anfang an vorausgesagt und die
Gründe dafür angegeben und war auch bezüglich der afrikanischen
Festung [gemeint ist wohlTunis oder Goletta, das don juan d'aust:=
RIA imjahre 1 574 an die Türken verlor] keinen Augenblick im Un*
klaren. Doch möchte ich nicht, daß jemand glaube, dies Wissen sei
weit hergeholt oder stamme vom Teufel oder aus den Sternen;
ich verdanke es vielmehr der Lehre des Aristoteles. Der sagt, nur
die Klugen und Weisen besäßen die wahre Sehergabe. Ich er*
forschte stets alles, was an einer Sache war, lernte die natürlichen
örtlichen Verhältnisse, die Sitten der Menschen, die besonderen
Vorzüge ihrer Fürsten kennen und ermittelte eine große Menge
einzelner geschichtlicher Tatsachen wichtiger und nebensächlicher
Art, und dann wandte ich meine geistigen Hilfsmittel, die ich nun
nennen will, an und weissagte.
Höre also, was dies für Geheimnisse sind: die dialektischen
Mittel der »doctrina crassa«, des »dilemma«, des »roo.-ro.;«, der
»amplificatio«., des»splendor singularis«, wie überhaupt die lange,
fleißige und dauernde Übung in der Dialektik und, was wichtiger
146
ist als diese Übung, gründliches Nachdenken. — Einige Dinge
freilich sind mir auch zugestoßen, so seltsamer Art, daß ich kaum
irgendwelche Erklärungen geben kann. Ich erinnere mich, daß,
als ich noch ganz jung war, ein gewisser giovanni Stefano biffo
sich hat einreden lassen, ich sei ein Chiromantikus, und doch war
ich nichts weniger als dies. Er bat mich, ich möge ihm irgend
etwas über sein Leben voraussagen. Ich sagte ihm, seine Freunde
hätten ihn zum Narren gehabt, doch er drängte weiter in mich,
und ich bat ihn schließlich um Verzeihung, wenn ich ihm etwas
Unangenehmes weissagen sollte. Und dann sagte ich ihm, es
drohe ihm die nahe Gefahr, aufgehängt zu werden. Nach einer
Woche wird er gefangen genommen und auf die Folter gebracht;
er leugnet hartnäckig das Verbrechen, dessen man ihn zeiht, aber
gleichwohl hat er schließlich nach sechs Monaten sein Leben am
Strick beschlossen, nachdem ihm zuvor eine Hand war abgehauen
worden.
Man mag dies einen Zufall nennen, nicht so aber ein anderes,
das sich erst in jüngster Zeit, vor einem Monat, an dem jungen
GIOVANNI PAOLO EUFOMiA, der einst mein Schüler gewesen war,
zugetragen hat. Die fragliche Handschrift ist noch vorhanden.
EUFOMIA war ganz gesund. Eines Abends sage ich ihm, er möge
mir ein Papier reichen, und schreibe auf das Papier, wenn er sich
nicht in acht nehme, werde er in Bälde sterben. Ich hatte dieser
Sache wegen nicht in den Sternen gelesen und keine geheimen
Künste getrieben. Ich gebe die Gründe an, erkläre sie, nach sechs
oder acht Tagen wird er krank, und gleich darauf stirbt er. Uner*
fahrene möchten vielleicht glauben, solche Dinge wären nahezu
Wunder; wenn aber ein vernünftiger Mensch die Sache liest und
überdenkt, so wird er sagen, ich habe hier nur eine vorliegende
Tatsache gesehen, nicht etwas Kommendes vorausgeschaut.
Und vollends hier in Rom? Für diese Sache habe ich so viele
Zeugen, als damals Gäste an dem Mahle teilnahmen. Ich sagte
dort: »Wenn ich wüßte, daß ihr es gleichmütig tragt, würde ich
etwas sagen«. Und einer der Anwesenden meinte: »Vielleicht
willst du sagen, einer von uns werde bald sterben?« »Ja, so scheint
mir,« gebe ich zur Antwort, »noch in diesem Jahre.« Und am
1. Dezember starb einer dieser Leute, namens virgilio.
10*
147
Und dann vergesse man nicht, daß unser Leben auf den kleinsten
Kleinigkeiten ruht und durch diese mitunter große Verände*
rungen erfährt; ja oft wird durch solche Dinge und noch unbe#
deutendere, wenn ich so sagen darf, über unser ganzes Leben ent#
schieden. Ich sage nichts, was ich nicht weiß. Als ich zu Bologna
im Palazzo Ranuzzi wohnte, kam eines Tages ein Franzose und
wollte mich im geheimen sprechen. Ich sagte ihm, es genüge wohl,
wenn wir so redeten, daß es niemand hören könne. Und da ich
darauf beharrte, ging er wieder weg. Ich schöpfte Verdacht und
schickte einige Leute, die ihn aufsuchen sollten; keiner findet ihn.
Was meinst du? Der Mann hatte ein Verbrechen im Sinn.
Was soll ich von Cypern sagen? Als ich Näheres über die dors
tigen militärischen Verhältnisse der Türken und Christen erfahren,
sagte ich mehr als einmal, nun stehe zu befürchten, daß wir ge*
schlagen würden. Zeuge dafür ist mir Kardinal [alessandro]
SFORZA [di santafiore, Enkel Papst faul iii., Kardinal seit 1565].
Und ich gab Gründe dafür an und schließlich erwies der Aus*
gang, daß die Insel tatsächlich durch [türkische] Gewalt und
[christliche] Fehler verloren ging. Solche und ähnliche Dinge
mag jeder voraussehen, der Erfahrung hat und genau und regsam
zu beobachten weiß. Freilich sie treten nicht immer mit Notwen*
digkeit und nicht in allen Fällen ein. Denn ganz sicher sind nur
die rein handwerksmäßigen Dinge.
Dreiundvierzigstes Kapitel
DINGE DURCHAUS ÜBERNATÜRLICHER ART
Folgendes begegnete mir, als ich zu Pavia studierte. Eines Mor#
gens, noch ehe ich erwachte, fühle ich einen Schlag an der
Wand neben meinem Bette, obwohl das Zimmer, das an diese
Wand anstieß, leer war. Und dann, als ich wach werde, höre ich
einen zweiten Schlag, wie von einem Hammer, und am Abend
erfuhr ich, daß am Morgen zu der nämlichen Stunde galeazzo
Rossi, ein ganz außerordentlich lieber Freund, den ich schon mehr*
fach erwähnt [s. o. S. 6], gestorben sei. Doch ich will dies Zei?
chen nicht als Wunder betrachten, denn erstens mag es mir nur
148
im Schlafe davon geträumt haben, zweitens kann es von natura
hcher Ursache hergekommen sein, wie etwa vom Winde [?], und
drittens ist es auch möglich, daß meine Freunde, die mich durch
das Zeichen erschüttert sahen und wußten, daß ich mich aus
Angst den ganzen Tag nicht aus dem Hause wagte, den Zeitpunkt
dieses Todesfalles frei erfunden und auf den frühen Morgen vers
schoben haben, während er tatsächlich viel früher gestorben war.
Denn du wirst wenig Kranke finden, die um diese Stunde sterben.
Und darum halte ich auch dieses so vielfach unklare und strittige
Zeichen nicht für ein Wunder. Doch habe ich für jeden, der es
dafür halten will, ähnliche Wunderdinge zu erzählen, die deut*
lieber reden.
Im Jahre 1536, als ich an der Porta Tosa [in Mailand] wohnte,
es war, wenn ich mich nicht täusche, im Juli, ging ich eines Tages
vom Speisezimmer aus in den Hof hinaus und glaubte plötzlich
die Empfindung eines sehr starken Geruches von soeben gelösch*
ten Wachskerzen zu haben. Ich erschrak und rief meinen Burschen
und frug ihn, ob er etwas merke. Der dachte, ich meine ein Ge*
rausch, und sagte nein. Ich sagte ihm darauf, daß ich kein Geräusch
meinte, sondern frug, ob er etwas rieche. »O,« sagte er jetzt, »was
für ein starker Geruch von Wachskerzen!« »Sei still!« sage ich
ihm und frage ebenso die Magd und meine Frau. Alle merk*
ten zu ihrem Erstaunen den Geruch, mit Ausnahme meiner Mutter,
die nichts merkte, ich glaube eines starken Stockschnupfens wegen.
Nun glaubte ich, das Zeichen bedeute einen nahen Sterbefall, und
konnte deshalb, als ich mich zu Bett begeben hatte, nicht einschla*
fen. Und siehe, auf einmal zeigt sich ein zweites, noch größeres
Wunder: ich höre auf der Straße drunten grunzende Schweine,
obwohl, wie ich sehe, gar keine da waren, und gleich darauf eben*
so schnatternde Enten. »Was soll das?« denke ich, »wozu soviel
Wunderzeichen? Und die Enten, warum kamen sie zu den Schweiz
nen?« Diese grunzten die ganze Nacht hindurch ununterbrochen.
Am andern Morgen war ich ganz erschüttert durch soviele Zei*
chen, wußte nicht, was tun, und streifte vom Frühstück an vor der
Stadt draußen umher. Als ich heimkomme, sehe ich meine Mutter,
die mich eilen heißt, der Blitz habe unseren Nachbar giovanni, den
früheren Vorstand des Pesthauses, erschlagen. Man erzählte, dieser
149
Mann habe, als er vor 12 Jahren, da die Pest wütete, dies Amt ver#
waltete, viel gestohlen. Er hielt sich eine Konkubine, gestand sein
Vergehen nie ein und hatte vielleicht auch schon anderes, noch
Schlimmeres, begangen. Er war unser Nachbar, nur ein ganz kleis
nes Häuschen stand dazwischen. Ich gehe zu ihm und sehe, daß
er schon ganz tot ist, und so war ich durch seinen Tod von aller
Sorge um ihn befreit. Du fragst vielleicht: »Was hat also die Er;
scheinung zu bedeuten gehabt?« Vielleicht hat sie mir mein
Leben gerettet. Denn mitunter, wenn auch selten, war ich, mit ihm
zu plaudern, unter seiner Haustüre gesessen. Es war nämlich ein
recht kühler Ort.
Zur Zeit, da meine Mutter in den letzten Zügen lag, erwachte ich
eines Morgens, die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel,
und hörte, ohne etwas zu sehen, obwohl ich die Augen often hatte,
15 Schläge (soviel habe ich gezählt), so ungefähr, als fielenWasser*
tropfen auf den Boden. Schon in der Nacht vorher hatte ich gegen
120 solche Schläge gezählt, aber da sie von der rechten Seite zu
kommen schienen, dachte ich, es wolle vielleicht jemand vom
Hause sich mit meiner Angst einen Scherz erlauben; und so sind
jene Schläge bei Tage wohl nur geschehen, um jene bei Nacht be*
glaubigt erscheinen zu lassen. Kurz darauf fühlte ich auch oben
an der Zimmerdecke einen Stoß, als werde ein bretterbeladener
"Wagen mit einem Male geleert; das ganze Zimmer zitterte. Meine
Mutter ist, wie ich gesagt habe, gleich darauf gestorben; was jene
Schläge und Stöße zu bedeuten hatten, weiß ich nicht.
Ich übergehe eine Erscheinung, die ich ungefähr Mitte Juni 1570
hatte. Ich ging bei Nacht im Zimmer auf und ab. Die Türen waren
verschlossen, das Fenster vergittert. Und eben als ich mich setzen
will, gibt der Kasten [?] ein Geräusch von sich. Vielleicht war es
eine Sinnestäuschung infolge meines allzu angestrengten Nach*
denkens; einen anderen konnte ich darüber nicht befragen.
Wer war jener Mann, der mir einst — ich war, wenn ich mich
nicht täusche, schon 20 Jahre alt — eine lateinische Ausgabe des
Apuleius verkaufte und gleich darauf verschwunden war? Ich
hatte mich bis dahin nur ein einziges Mal in literarischen Spiele*
reien versucht, hatte keinerlei Kenntnis der lateinischen Sprache
und hatte das Buch in meinem Unverstand nur gekauft, weil es
150
goldverziert war. Und am andern Tage war ich plötzlich im Latein
soweit, als ich auch heute bin, und hatte auch zu gleicher Zeit die
griechische, spanische und französische Sprache erfaßt, freilich nur
soweit, daß ich Bücher in dieser Sprache verstehe ; von der Sprache
der Konversation und des täglichen Lebens und vollends von den
Regeln der Grammatik verstehe ich rein gar nichts.
Im Jahre 1560, im Mai, hatte ich im Schmerz über den Tod meines
Sohnes allmählich jeden Schlaf verloren; weder Fasten, noch die
Schläge, womit ich beim Reiten durch die Felder meine Beine
quälte, noch auch das Schachspiel, das mir die Zeit vertreiben
sollte, wollten helfen; auch hatten die vielen Nachtwachen den lie#
benswürdigen ercole visconti, der aus Gefälligkeit mit mir spielte,
schon ganz elend gemacht. Da flehte ich zum Herrn, daß er sich mei#
ner erbarme. Denn schließlich mußten mich die ewigen schlaflosen
Nächtesoweitbringen,daßmirnichtsandresmehrübrigblieb,alszu
sterben oder wahnsinnig zu werden oder doch zum wenigsten mein
Lehramt aufzugeben. Tat ich aber dies letztere, so hatte ich nichts
mehr, wovon ich anständigerweise leben konnte. Verfiel ich in Irr*
sinn, so wurde ich allen Menschen zum Gespött, verlor vollends den
Rest meines Vermögens, und mein hohes Alter ließ keine Hoff*
nung mehr auf Besserung zu. So bat ich also Gott, daß er mir den
Tod schenken wolle, der uns doch allen gemein sei. Und dann
ging ich gleich zu Bett, denn die Stunde war schon spät, und um
5 Uhr morgens mußte ich aufstehen; kaum zwei Stunden mehr
waren mir vergönnt, im Bette zu ruhen. Sofort befiel mich der
Schlaf, und plötzlich glaubte ich, eine Stimme zu hören, die immer
näher kam. Von wem sie kam und wer dieses sei, konnte ich der
Dunkelheit wegen nicht unterscheiden. Und diese Stimme sagte:
»Was klagst du?« oder: »warum weinst du?« Und ohne auf Ant*
wort zu warten, fuhr sie fort: »Um deinen toten Sohn?« »Wie
kannst du fragen?« erwiderte ich. Da sagte die Stimme: »Nimm
den Stein, den du um den Hals trägst, in den Mund. Solange du
ihn im Munde hast, wirst du deines Sohnes nicht mehr gedenken.«
Und alsbald verfieß mich der Schlaf. Was soll der Smaragd mit
dem Vergessen? dachte ich bei mir selbst. Aber als mir schließlich
gar kein anderes Mittel mehr blieb, den Qualen der Erinnerung
zu entgehen, erinnerte ich mich jenes Wortes: »Er hat geglaubt an
151
die Hoffnung wider alle Hoffnung, und darum ward es ihm an*
gerechnet zur Gerechtigkeit«, wie es von Abraham heißt [Rom. 4,
18 und 22]. Und ich nahm den Stein in den Mund, und siehe, was
ganz und gar unglaublich ist, sofort entschwand mir alles aus dem
Gedächtnis, was mich an meinen Sohn erinnern konnte. So nament*
lieh immer dann, wenn ich mich wieder zum Schlafen legte, und
fast anderthalb Jahre lang ununterbrochen, damals, als ich das Buch
»Theognoston«, beziehungsweise das zweite der »Hyperboraea«
schrieb. Nur wenn ich aß oder meine Vorlesungen hielt und des*
halb die Wohltat des Smaragds im Munde nicht genießen konnte,
quälten mich die früheren Gedanken bis auf den Todesschweiß.
Mit Hilfe des Steines aber, scheint mir, habe ich den Schlaf und
meine ruhige geistige Gesundheit völlig zurückgewonnen. Und
dies ist dabei durchaus staunenswert, daß innerhalb jedes einzel*
nen der beiden wechselnden Zustände des Gedenkens und Ver*
gessens nie eine Unterbrechung einzutreten schien.
Es war in der Nacht vor dem 15. August 1572. Ein Licht brannte,
und ich war noch wach ; es mochte etwa um die zweite Stunde der
Nacht sein. Da höre ich plötzlich rechts von mir einen ungeheuren
Lärm, als werde ein bretterbeladener Wagen ausgeladen. Ich sehe
hin ; der Lärm war an der Türe, die von meinem Schlafzimmer in
ein anderes führte, wo mein Hausbursche schlief. Da sah ich —
die Türe stand offen — einen Bauern hereintreten, mein Auge war
rückwärts starr auf ihn gerichtet, und ungefähr gerade auf der
Türschwelle stehend, sagte er die Worte: »Te sin casa«. Sprach's
und verschwand. Ich sah sein Gesicht nicht, verstand auch die
Worte nicht und konnte in keiner Sprache finden, was sie be#
deuten mochten. Später habe ich mir selbst gesagt: Was sollte
dies?
Vielleicht hält mir einer entgegen : warum sehen nur so wenige
Menschen solche Wunder? Und warum, wenn dem so ist, streben
die Menschen so sehr nach Herrschaft, nach Amtern, nach hoff*
nungsreichen Stellen, selbst auf Kosten so vieler Verbrechen? Ich
sage: hier ist nicht der Ort, solches zu erklären, meine schwachen
Schultern sind so schwerer Aufgabe nicht gewachsen, und ich ver*
weise den Fragenden an einen Theologen. Mir genügt, die Ge*
schichte wahrheitsgetreu erzählt zu haben.
152
Ich übergehe jenen Donnerschlag, der ohne vorausgehenden Bhtz
in meinem Schlafzimmer zu Bologna plötzlich erdröhnte ; ich zitterte
dabei nicht, und so war er weniger übel als jener Bretterlärm, der
mich stets erschreckte, obschon auch auf diesen nie irgend ein
Todesfall gefolgt ist, abgesehen von meiner Mutter, die aber an
Krankheit und Altersschwäche eines natürlichen Todes gestorben
ist. Ich übergehe auch jene widerspenstige Laune meiner Uhr, die
sich leicht auf natürliche Ursachen zurückführen läßt, und jene son*
derbare Geschichte von der Erde, die im Oktober und November
1559TagfürTag unter dem Herde odernahe daranherausgegraben
erschien. Und ich habe das mit meinen eigenen Augen, nicht
im Schlafe, im hellen Sonnenlicht gesehen. Ungefähr um den
26. März 1570 hatte ich ein ärztliches Gutachten für meinen
Gönner, den Kardinal morone, aufgeschrieben. Ein Blatt davon
fiel zu Boden. Ärgerlich erhebe ich mich, es aufzuheben. Da richtet
sich das Blatt gleichzeitig mit mir auf, steigt herauf bis an den
Schreibtisch und bleibt dort aufrecht an dessen Querbalken [?]
kleben. Voll Verwunderung rufe ich den rodolfo [silvestre] und
zeige ihm die sonderbare Sache; freilich hat er die Bewegung
selbst nicht gesehen. Ich mochte an soviel Unglück gar nicht
denken und konnte mir darum nicht erklären, was die Sache zu
bedeuten habe. Sie wollte wohl sagen, daß mir einst, wenn meine
ganze Lage sich geändert, ein sanfterer Wind wehen werde.
Als ich dann später, wenn ich mich nicht täusche im Juni, an den*
selben Kardinal morone geschrieben hatte, konnte ich die Streu?
sandbüchse nicht finden. Ich suchte lange überall, vergebens; da
nahm ich ein Blatt, um vom Boden etwas Sand aufzulesen, ihn
über das Schreiben zu schütten, und sah plötzlich, daß die Streu*
sandbüchse, die, rund, einen Zoll hoch und im Durchmesser einen
Zoll breit war, offen auf dem Schreibtische steht. Wie war es mög*
lieh, daß mir, der ich auf demselben Tische schrieb, die Büchse
verborgen bleiben konnte? Auch diese Sache hatte wohl mit
meiner Zukunft zu tun und bestärkte mich in der Hoffnung, die
mir der kluge, freundliche Kardinal gemacht, daß er nämlich bei
unserem allerbesten Papst [pius v. 1566—1572] es durchsetzen
wolle, daß ich nun endfich für so viele Mühen und Arbeit nicht
immer neues Unglück zu ertragen hätte.
153
Aber all diese Zeichen hat ein anderes übertrofFen und deutUch,
verständlich und ihre Deutung sicher gemacht. Es erschien am
9. Oktober des nämlichen Jahres [1570]. Am 6. war ich verhaftet
worden und hatte sofort 1800 Golddukaten Kaution bezahlt. Am
9. Oktober nun, ungefähr um die 9. Stunde des Tages [4 Uhr
nachmittags], die Sonne schien hell in den Kerker, alle anderen
waren weggegangen, sagte ich zu rodolfo silvestre, er möge die
Türe schließen. Nur ungern wollte es dieser tun und wunderte
sich über den unangebrachten Befehl.^ Ich aber beharrte darauf,
vielleicht weil es so Gottes Wille war, vielleicht auch, weil ich mir
eingeredet hatte, ich solle nun dort, wohin ich mit Gewalt und wider
meinen Willen geführt worden, nun wenigstens freiwillig bleiben.
Nun gehorchte rodolfo. Und siehe, kaum war die Zelle ge*
schlössen, da geschah ein überaus heftiger Schlag an die Türe,
den man weithin hören konnte, und sofort sprang vor unseren
Augen der Schlag mit ähnlichem Krachen an den Fensterladen,
durch den die Sonne schien, schlug an die Fenster und das Fenster*
gitter, daß es klirrte und knirschte, und verschwand. Und da ich
dies sah, begann ich sofort über mein Elend zu weinen, aber bald
schien mir das Zeichen, das ich auf einen sicheren, bösen Tod
gedeutet hatte, als ein froher Bote neuen Lebens. Denn nun be*
gann ich bei mir selbst nachzudenken : wenn so viele Adlige, jung,
gesund, glücklich, dem sicheren Tode ruhig entgegengehen, nur
um ihren König sich freundlich zu stimmen und ohne doch nach
ihrem Tode weiteres erhoffen zu dürfen, wie magst dann du, ein
brüchiger und verachteter Greis, dich sträuben, den Tod zu er#
dulden für ein Verbrechen, wenn sie dich dessen für schuldig
halten sollten, oder durch ein Unrecht, wenn du eine solche Strafe
nicht verdient hast in den Augen Gottes, der dir in seiner Güte
so oft gezeigt hat, daß deine Sache in seinen Händen ruht? Und
so sah ich mich mit einem Male vor dem Tode sicher, den ich
eben noch gefürchtet hatte, und begann ein ruhig^heiteres Leben
zu führen, wie es eben unsere menschliche Natur zuläßt. Und auf
diese Weise verlängerte ich mein Leben, um das es so gut wie ge*
schehen war, wenn ich daran denke, daß ich früher glaubte, nicht
' Er glaubte, cardano dürfe nach gestellter Kaution das Gefängnis ver-
lassen [?]
154
einen Augenblick im Kerker zubringen zu können, ohne zu eiv
sticken. Zeuge dieses so ganz staunenswerten Wunders war, wie
ich schon gesagt habe, rodolfo silvestre. der im Jahre darauf
Laureat geworden ist. Solche Dinge haben freilich die Eigenschaft,
daß sie, solange sie vor uns stehen oder auch noch kurz nachher,
den ganzen Menschen an sich ziehen; sobald sie aber entschwun*
den sind, werden sie kleiner und ferner, bis du schließlich, wenn
du sie nicht gleichsam mit einem Nagel festgenagelt hast, daran
zweifeln magst, ob du sie wirklich mit eigenen Augen und Ohren
erlebt. Ich glaube, daß dies — neben anderen viel tieferen Grün*
den — sich daraus erklären läßt, daß eben die Ursachen, die solche
Erscheinungen bewirken, unserer Natur ganz fremd sind. Ich weiß
wohl, wie sehr gewisse naseweise Herren darüber scherzen und
lachen werden. Ihr Herr und Führer ist polybius, jener Philo*
soph ohne Philosophie, der nicht einmal wußte, was die Aufgabe
eines Historikers ist, und, indem er sie allzuweit faßte, sich lächer*
lieh machte. Mitunter freilich ist er bewundernswert, wie z. B. im
2. Buch seiner Historien, wo er von den Achäern spricht. Bedarf
es noch vieler Worte ?[niccolo]tartaglia [berühmter italienischer
Mathematiker 1500— 1 559] hat recht, wenn er sagt, niemand wisse
alles. Ja, und alle diejenigen wissen gar nichts, die nicht wissen, daß
ihnen vieles unbekannt ist. Wir wissen, daß selbst ein Plinius,
wenn er auch die stattlichste Abhandlung geschrieben, sich als
Ochse erweist, wo er von der Sonne und den Sternen handelt.
Wie darf es uns also wundem, wenn polybius, der mit viel höhe*
ren und göttlicheren Dingen sich befaßt, seine Unbildung ganz
offen an den Tag legt?
Mir genügt das eine, und ich schwöre einen heiligen Eid darauf,
daß mir die Fähigkeit, solche Erscheinungen zu fühlen und zu
fassen, lieber und teurer ist als die Herrschaft über die ganze Welt,
und wäre solche auch von ewiger Dauer. Ich könnte hier auch noch
von merkwürdigen Dingen sprechen, die mir einst meine Eltern
erzählt haben, Dinge, die wie Märchen klingen und manchem
vielleicht belachenswert erscheinen mögen. Aber könnte man
dann nicht im Vergleich damit all die oben erzählten Dinge, die
ich so sicher wahrgenommen habe, für Kleinigkeiten halten?
Auch glaube ich nicht, meinen Eltern so viel kluge Einsicht und
155
sorgfältige Beobachtung zutrauen zu dürfen, daß ich je hoffen
dürfte, das Erzählte als wahr bestätigt zu sehen. Ich begnüge mich
damit, festzustellen, daß solche Erscheinungen häufig und immer
ganz unerwartet einzutreten pflegen ; dann vor allem, wenn irgend*
welche Leute im Sterben liegen, namentlich solche, die in Gutem
oder Bösem sich besonders ausgezeichnet haben. Und wenn dem
so ist, so kann es sich gewiß nicht so sehr um Zufälligkeiten han#
dein, als vielmehr um naturhafte und göttliche Erscheinungen. Es
handelt sich auch nicht um Täuschungen des Geistes, der durch
Schreckbilder erschüttert, verwirrt und unruhig wäre; denn über*
mäßige Affekte, wie sie durch Wunder solcher Art erregt werden,
pflegen irrige Vorstellungen zu vertreiben, nicht zu steigern. [?]
Wie wäre sonst jene Geschichte mit dem Mädchen zu erklären [?],
das zu Gott flehte auf Geheiß des Vaters, den sie erst befreien zu
müssen glaubte?
Doch genug davon. Ich wollte hier nur so kurz als irgend möglich
aufzeichnen, wann und wie diese Dinge sich zugetragen haben.
Und ich habe dabei nur solche Erscheinungen erwähnt, bei denen
jeder Irrtum und jede böswillige Täuschung ausgeschlossen war;
eine ungeheure Menge von anderen Dingen dieser Art, die ebenso
deutlich und augenscheinlich waren, die aber als Exempel nicht
so gut paßten, oder solche, die mir zwar damals ganz sonnenklar
vor Augen lagen, die aber nichtso stark und vielfach bezeugt waren,
habe ich hier übergangen. Jedermann ist es erlaubt, in meinen
anderen Schriften über dergleichen nachzulesen. — Nur um dies
eine bitte ich dich, mein Leser, schüttle nicht in menschlichem
Hochmut zweifelnd dein Haupt, sondern denk' an die Größe und
Weite von Erde und Himmel und an dies kleine dunkle Leben,
worin wir alle gleicherweise elend und angstvoll uns quälen, und
du wirst leicht einsehen, daß es nichts Unglaubliches ist, was ich
hier erzählt habe.
Vierundvierzigstes Kapitel
WAS ICH IN DEN VERSCHIEDENEN DISZIPLINEN
AN DENKWÜRDIGEN ERFINDUNGEN MACHTE
Du magst wissen, daß keine dieser Erfindungen derart ist, daß
du sie andern vorziehen dürftest. —
156
In der Dialektik, wo man bisher nur eine einzige kannte, die
Aristotelische, habe ich den ganzen Stoff und seine Handhabung
zerghedert und geteilt, so daß nun künftighin die Schulen sich im
einzelnen nach den Regeln der Euklidistischen, Ptolemäischen,
Archimedischen, Hippokratischen, Galenischen oder Skotischen
Dialektik richten können. Außerdem habe ich den Gebrauch des
Dilemma erweitert,wie auch den der »doctrinacrassa«, des »T^ojTo?«,
der »amplificatio« und des »splendor«, dialektische Formen, durch
die die meisten behaupten zu den Begriffen vordringen und gleiche
sam die Seele des Dinges von seinem Körper trennen zu können;
wie sie denn überhaupt stets derartigen Experimenten des Den*
kens den Vorzug geben, weil sie ihnen wunderbar erscheinen und
ihnen ermöglichen, aus so engem Räume vielerlei Erkenntnisse
zu gewinnen — als ob es bei den irdischen Dingen wäre wie bei
ewigen und in logischer Geschlossenheit im Kreise Anfang und
Ende sich zusammenfänden! Darum wollen sie auch nicht, daß
man durch Lektüre, geschweige denn durch Ausschreiben fremder
Bücher mühevoll Gleichnisse und Beispiele fände und durch die
Arbeit vieler Monate zu gewinnen und erreichen suche, was die
kurze Spanne einer Stunde uns geben könne. So haben sie denn
diese meine Erfindung so sehr übertrieben, daß sie allmählich auf*
hörten, meine Fähigkeit, auswendig zu dozieren, von der sie sonst
soviel Aufhebens machten, gebührend zu bewundern. Und es ver#
dienen wohl auch solche Leute Verzeihung, die glauben, diese
meine Erfindungen auf einen bösen Geist zurückführen zu müssen,
da sie weder von einem guten Geist noch von Gottes Güte wissen
wollen.
In der Arithmetik beherrschte ich fast das ganze Gebiet, nament*
lieh die Kapitel von der sogenannten Algebra, behandelte zum
erstenmal die Eigenschaften der Zahlen und vor allem die Theorie
des Verhältnisses ähnlicher Zahlen und habe diese und andere,
schon früher entdeckte Probleme dem leichteren oder auch bewun*
dernswert komplizierten wissenschaftlichen Gebrauch zugänglich
gemacht. In der Geometrie entdeckte ich die konfuse und reflexe
Proportion, das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen und
seine Behandlung im Endlichen, eine Erfindung, die freilich früher
schon ARCHiMEDES gemacht hatte. In der Musik erfand ich neue
157
Tonarten und neue Stimm verhältnisse oder habe vielmehr die schon
früher von ptolemaeus und aristoxenus [Schüler des Aristoteles]
erfundenen wieder in Gebrauch gebracht.
In der Naturphilosophie habe ich das Feuer aus der Zahl der Ele#
mente gestrichen und als Erster gelehrt, daß alles von Natur kalt
ist; daß die Elemente sich gegenseitig nie verändern, sondern auf
dem Weg der Palingenese sich erneuern; daß es nur zwei eigent*
liehe Qualitäten gebe, Wärme und Feuchtigkeit. Ferner beschrieb
ich die Eigenschaften des Salzes und des Öls und stellte die These
auf, daß das einzig mögliche Prinzip der Fortzeugung vollkomme*
ner Lebewesen die himmlische Wärme sei; daß Gott unendlich
genannt werden müsse; daß alles, was aus verschiedenen organi*
sehen, geordneten Teilen bestehe, notwendigerweise Seele und
Leben besitze; daß die Unsterblichkeit unserer Seele nach der
Lehre der Philosophen eine wirkliche, nicht eine scheinbare und
schattenhafte sei. Ich lehrte ferner, daß alles stets aus einer immer
gleichbleibenden bestimmten Zahl bestehe, wie zum Beispiel Blät?
ter und Samen bei den Pflanzen; daß das Wesen der Ähnlichkeit
in der Wirkungsweise zu suchen sei, die ein und dasselbe wirkende
Prinzip in ein und derselben Materie ausübe, und daß daraus das
Wesen des Wechsels und das der Schönheit zu erklären sei; daß
die Erde für sich allein und nicht bloß mit dem Wasser vermischt
Bestand habe, weshalb auch oft hier das eine und dort das andere
der beiden Elemente überwiegt. Ich gab weiterhin die Erklärung
dafür, weshalb der Osten besser sei als der Westen; warum auch
nach der Sonnenwende, wenn die Sonne am Himmel schon wie*
der den entgegengesetzten Weggeht, dennoch viele Tage hindurch
die Wärme beziehungsweise die Kälte noch zunehme; was unter
dem Schicksal zu verstehen und wie seine Wirkungsweise sei. Auch
erklärte ich die Ursachen vieler sonderbarer Erscheinungen, wie
etwa der, daß 1000 Würfel, vorausgesetzt, daß sie nicht falsch
sind, in 1 000 Würfen mit Notwendigkeit stets eine gleichbleibende
Einheit werfen. Ich lehrte auch, daß aus allen faulen Blättern einer
Pflanze stets ein neues, je nach der Natur dieser Blätter verschie*
denes Lebewesen erzeugt werde; daß ferner jener von Aristoteles
nur aus Widerspruch gegen platos Ansicht eingeführte Begriff
der Natur gar nicht möglich und daß er nur ein durchaus willkür*
158
lieh angenommener, in nichts der WirkHchkeit entsprechender
Schemen sei. Noch unzähhg viele andere Entdeckungen und Er«
findungen machte ich auf diesem Gebiet; vor allem wichtig scheint
mir, daß ich als Erster lehrte, die Betrachtung der Natur führe uns
zur Annahme und zum Begriff der künstlerischen Schöpfung, ein
Gedanke, dem vor mir noch nie jemand gewagt hatte näher zu
treten.
In der Moralphilosophie lehrte ich das allgemeine Gleichgewicht
aller Lebensverhältnisse nicht nur bei den Menschen, sondern bei
allen Lebewesen; woraus natürlicherweise geschlossen werden
darf, daß der Tod die Vergeltung für viele Taten bringen muß und
daß die Menschen aus jedem Unglück Nutzen ziehen können.
Ich lehrte ferner, welches Leben das beste, und wie es möglich
sei, in innerem Gleichgewicht zu leben; daß es drei verschiedene
Reiche gebe; daß es im Reiche des Menschlichen sehr oft besser
sei, nicht zu wissen, was gut und böse, solange man dessen Trag*
weite nicht kenne; daß es dagegen in den andern Reichen sich
anders verhalte. Weiter erklärte ich, was in jedem einzelnen Reiche
den Begriff des Glückes ausmache, und lehrte, daß eine Kenntnis
der menschlichen Sitten zuerst auf den Begriff des wesentlich Sitt:;
liehen, dann erst auf die verschiedenen Sitten, Gebräuche und
Gewohnheiten ganzer Völker und endlich auf die sittlichen Eigen*
tümlichkeiten des einen und andern Individuums sich erstrecken
müsse.
In der Medizin entdeckte ich die wahre Bedeutung der sogenannt
ten kritischen Tage; erfand die Theorie der Heilung des Podagra
und der des pestartigen Fiebers; die vielfache Verwandlungsmög*
lichkeitölartiger Stoffe; die Technik, wie man aus nichtpurgieren*
den Medikamenten purgierende machen kann; und erklärte die
Eigenschaften und Kräfte einzelner Heilquellen. Ich erfand ferner
die mannigfaltigsten und nützlichsten Arten, Speisen zuzubereiten ;
wie man gefährliche und zu stark wirkende Medikamente in nütz*
liehe und sanft wirkende, ebenso wie man ekelerregende in an*
genehme verwandeln kann; ich entdeckte, wie gewisse Arzneien
die Wassersucht so rasch zu heilen imstande sind, daß der Kranke,
schnell gestärkt, noch am gleichen Tage wieder durch die Stadt
spazieren kann; wie die Heilung einer einzelnen, besonderen
159
Krankheit zur Erkenntnis und zur Behebung des Krankheits==
Stoffes anderer Körperteile beitragen und wie man aus der drei::
oder viermal wiederholten Lektüre eines einzigen medizinischen
Werkes die Erkenntnis der verschiedensten Krankheiten, wie auch
der Mittel, sie zu heilen, lernen kann. Ferner ist von mir die rieh*
tige Behandlung der Bruchleiden in den allgemeinen Gebrauch
gebracht und verbessert worden. Auch schrieb ich als Erster eine
ausführliche Geschichte des Urins, während man bisher auf die*
sem Gebiete kaum einige Anfänge schattenhafter Kenntnisse hatte.
Außerdem verfaßte ich Erläuterungen zu den schwierigsten Schrif*
ten des hippokrates, namentlich zu den authentischen; doch ist
dies Werk noch nicht vollendet, sondern heute noch, da ich dies
niederschreibe, am 16, November 1 575, unter der Feder. Des weite*
ren handelte ich sehr ausführlich von der Behandlung der fran*
zösischen Krankheit und gab und erklärte Beispiele von Heilungen
der schwierigsten Krankheiten, wie Epilepsie, Wahnsinn, Erblin*
düng, und entdeckte für einige wenige wichtige Krankheiten die
wirksamstenHeilmittel,wiezumBeispieldieWirkung des Schachtel*
halms bei der Wassersucht, die des Knoblauchs bei verhärteten
Geschwüren, bei Harndrang, namentlich aber bei Gelenkkrank*
heiten, Nierenstein, Kolik, Hämorrhoiden und viele andere, gegen
5000. An gelösten oder wenigstens aufgestellten medizinischen
Problemen werde ich gegen 40000 hinterlassen, an solchen kleine*
rer, nebensächlicher Art 200000, weshalb denn auch jenes Licht
unseres Vaterlandes [andrea alciati s. u.S. 189] mich den »Mann
der Erfindungen« nannte.
Fünfundvierzigstes Kapitel
DIE BÜCHER, DIE ICH VERFASST HABE. WANN
UND WARUM ICH SIE SCHRIEB UND WAS SICH
DABEI EREIGNET HAT
/. GEDRUCKTE WERKE
Mathematische Schriften:
1 Buch »ars magna«.
1 Buch »de proportionibus«.
1 Buch »regula Aliza«,
160
Astronomische Schriften:
4 Bücher Kommentare zu Ptolemaeus.
1 Buch »de genituris exemplaribus«.
1 Buch »de interrogationibus et electionibus«.
1 Buch »de Septem erraticis«.
1 Buch »de usu ephemeridum«.
1 Buch »de emendatione motuum et cognitione stellarum«.
1 Buch »astrologiae encomium«.
Naturwissenschaftliche Schriften :
22 Bücher »de subtihtate« mit der »apologia«.
17 Bücher »de rerum varietate«.
1 Buch »de animi immortahtate«.
Moralwissenschaftliche Schriften :
4 Bücher »de utihtate capienda ex adversis«.
3 Bücher »de consolatione«.
1 Buch »exhortatio ad bonas artes«.
Ein erster Band: Schriften verschiedenen Inhalts:
1 Buch »de hbris propriis«.
1 Buch »de curis admirandis«.
1 Buch »Neronis encomium«.
1 Buch »geometriae encomium«.
1 Buch »de secretis primus«.
1 Buch »de uno«.
1 Buch »de gemmis et coloribus«.
1 Buch »de morte«.
1 Buch »Tetim seu de humana conditione«.
1 Buch »de minimis et propinquis«.
1 Buch »de summo bono«.
Ein zweiter Band: Schriften verschiedenen Inhalts:
1 Buch »dialectica«.
1 Buch »Hyperchen«.
1 Buch »de Socratis studio«.
1 Buch »de aqua«.
1 Buch »de aethere«.
I Buch »de decoctis«.
II Cardano
161
Ein dritter Band: Schriften medizinischen Inhalts:
1 Buch »de causis, signis et locis morborum«.
1 Buch »ars curandi parva«.
1 Buch »consihorum liber primus«.
1 Buch »de medicorum abusibus«.
1 Buch »quod nulluni simplex medicamentum noxa careat«.
1 Buch »Triceps«.
1 Buch »apologia in Thessalicum medicum«.
1 Buch »apologia in Camutium«.
Medizinische Kommentare :
7 Bücher zu den »aphorismi« [des hippokrates].
3 Bücher »de venenis«.
1 Buch »de aeris constitutione« ; alle zusammen 1 1 Bücher,
4 Bücher Kommentare zu den »prognostica« [des hippokrates].
1 Buch Kommentare zu dem Buch »de septimestri partu« [von
hippokrates]; alle zusammen 5 Bücher.
8 Bücher Kommentare zu der Schrift »de aere, aquis et locis« [von
hippokrates].
1 Buch »consiliorum liber secundus«; alle zusammen 9 Bücher.
2 Bücher Kommentare zu der Schrift »de alimento« [von hippo*
KRATES].
22 Bücher Kommentare zu der Schrift »examen aegrorum« [von
hippokrates].
Aus dem Gebiet der Wahrsagekunst:
4 Bücher »de somniis«.
Dann existieren noch gedruckte Werke, die ich nicht
zu den anderen zähle:
5 Bücher »de sapientia«.
5 Bücher »Antigorgias«.
1 Buch »medicinae encomium«.
10 Bücher »ephemeridum supplementum«.
//. HANDSCHRIFTLICHE WERKE
Mathematische Schriften:
2 Bücher »geometria nova«.
162
1 Buch »de numeris integris«.
1 Buch »de numeris fractis«.
1 Buch »de numerorum proprietatibus«.
1 Buch »de alogis«.
1 Buch »de commentitiis seu fictis«.
1 Buch »de musica«.
Naturwissenschaftliche Schriften :
1 Buch »de natura«.
1 Buch »de secretis quartus«.
2 Bücher »hyperboraea«.
Moralwissenschaftliche Schriften :
3 Bücher »de moribus«.
1 Buch »de optimo vitae genere«.
1 Buch »memoriale«.
1 Buch »de vita nostra«.
Aus dem Gebiet der Medizin:
4 Bücher »de urinis«.
1 Buch »de habitatione Romae«.
5 Bücher »de dentibus«.
4 Bücher »de tuenda sanitate«.
1 Buch »de lue Indica«.
1 Buch »consihorum tertius«.
1 Buch »actus«.
12 »libri contradicentium medicorum«.
4 Bücher unter dem Titel: »manuarius«.
6 Bücher Kommentare zu der Schrift »de victu in acutis« [von
HIPPOKRATES].
1 Buch Kommentare zu des galenus »ars medica«.
2 Bücher »floridorum seu in primam primi«.
5 Bücher Kommentare zu des hippokrates »epidemia«.
Aus der Theologie:
Ein Hymnus und die »vita B. Virginis«.
Die »vita B. Martini cum dispunctionibus«.
Schriften verschiedenen Inhalts:
6 Bücher »paralipomena«.
11* 163
1 Buch »de clarorum virorum libris«.
1 Buch »de inventione«.
1 Buch »problemata«.
1 Buch »de conscribendis hbris«.
1 Buch »proxeneta«.
2 Bücher »de ludis«.
1 Buch »dialogus de carcere«.
1 Buch »Flosculus dialogus«.
1 Buch »de nodis«.
1 Buch »Antigorgias«.
1 Buch »medicinae encomium«.
7 Bücher »de metoposcopia«.
1 Buch »technarum caUidarum«.
1 Buch »de usu ephemeridum seu inventionis novae«.
1 Buch »Sacra«.
Wie ich dazu kam, Bücher zu schreiben, das hast du, glaube ich,
oben schon erfahren. Ich tat es, weil ich ein*, zwei;:, drei? und vier?
mal und noch öfter im Traume dazu ermuntert wurde, wie ich an
anderer Stelle erzählt habe, aber auch aus dem Verlangen heraus,
meinen Namen zu verewigen. Zweimal habe ich eine große Zahl
und Masse von Büchern vernichtet: das erstemal um das Jahr 1537,
wo ich ungefähr neun Bücher verbrannte, von denen ich einsah,
daß sie wert? und nutzlos sein würden. Es hatte sich damals ein
großes Durcheinander von Schriften, hauptsächlich medizinischer
Art, angesammelt. Ich habe von all diesen Büchern weder ein gan?
zes noch einen Auszug daraus zurückbehalten, mit Ausnahme des
Buches »de malo medendi usu«, von dem ich bald darauf die erste
Ausgabe veröffentlichte, und der »rudimenta arithmeticae«, aus
denen ich später die »arithmetica parva« zusammenstellte. Einige
Zeit darauf, nämlich ums Jahr 1541, gab ich das früher schon ver#
öffentlichte Werkchen »de supplemento ephemeridum« in mehr?
fach vermehrter Ausgabe neu heraus. Und dann im Jahre 1573, als
jenes Unglück schon vergangen und verschmerzt war, verbrannte
ich weitere 120 Schriften. Doch ich machte es nicht wie beim ersten
Male, sondern exzerpierte vorher daraus, was mir von Wert zu sein
schien. Außerdem bewahrte ich einige Schriften ganz unversehrt
auf, wie zum Beispiel den »liber technarum callidarum« aus dem gro?
164
ßen »opus fabularum«, und das Buch »delibris clarorumvirorum«,
andere Schriften arbeitete ich um, wie diomedes einst [seine Rüstung
vertauschte,] »die eherne mit der goldenen, die neunrinderwertige
mit der hundertrinderwertigen« [Hias 6, 236].
Ich tat dies, weil mir die Bücher gefielen, und vernichtete die an*
dem, weil sie mir mißfielen, und der Erfolg hat mir in beiden
Fällen recht gegeben. Wiederholte Träume veranlaßten mich späs
ter dazu, die Bücher »de subtilitate« zu schreiben, die ich in Druck
gab, dann ein erstes und ein zweites Mal vermehrte und verbes*
serte und schließlich in dritter Auflage veröffentlichen ließ. Dann
[1545] machte ich mich an die Abfassung der »ars magna«, die
ich damals zusammenstellte, als ich mich mit giovanni colla [de
TORRINI DA coi, Lehrer der Arithmetik in Brescia] und niccolö
TARTAGLiA [berühmter italienischer Mathematiker, 1500—1559]
herumzankte. Von tartaglia hatte ich verschiedenes in das erste
Kapitel meines Werkes übernommen; er aber wollte mich lieber
zum Rivalen, und zwar zum überlegenen Rivalen, als zum Freund
und Dankverschuldeten haben. Als ich während meiner Reise auf
der Loire fuhr und nicht wußte, womit ich mich beschäftigen sollte,
schrieb ich, es war im Jahre 1552, die Kommentare zu ptolemaeus
zusammen. Dazu kamen dann als Anhang der »ars magna« die
Bücher »de proportionibus« und »regula Aliza«, die ich im Jahre
1568 herausgab; damals ließ ich auch den übrigen arithmetischen
Schriften die zwei Bücher der »geometria nova« und die Schrift
»de musica« folgen, doch habe ich diese letztere sechs Jahre späs
ter, nämlich im Jahre 1574, umgearbeitet und neu kopieren lassen.
Die Bücher »de rerum varietate« habe ich im Jahre 1558 heraus*
gegeben; es waren dies einzelne Überbleibsel aus den Vorarbeiten
der Bücher »de subtilitate«, die ich nicht vorher hatte ordnen und
feilen können, der Menge von Geschäften wegen, die damals auf
mir lasteten. Meine Söhne zeigten für diese Arbeit leider weder
Neigung noch Fähigkeit; ich selbst hatte damals keinerlei Ein*
künfte, konnte meine Tätigkeit als Dozent nicht unterbrechen,
mein Haushalt war in völliger Auflösung, ich mußte meine ärzt*
liehe Praxis in der Stadt ausüben, briefliche Konsultationen be*
antworten und hatte noch soviel andere dringende Arbeit, daß ich
kaum Zeit zum Atmen, geschweige denn zum Ausfeilen von Bus
165
ehern fand. Mitten in diesen trüben Zeiten gab ich zuerst die Bücher
»de consolatione« heraus und Heß diesen später die Bücher »de
sapientia« folgen, die ich dann in neuer Auflage im Jahre 1543 [?]
herausgab. In der Zwischenzeit schrieb ich jene zahllosen kleineren
Werke, die teils herausgegeben sind, teils noch der Edition harren,
außerdem meine sämtlichen medizinischen Schriften, von denen,
wie du siehst, bis heute vier veröffentlicht sind: die Kommentare
zu den »aphorismi«, zu den Schriften »de alimento« und »de aere,
aquis et locis« und zu den »prognostica«; handschriftlich liegen
noch vor die beiden Bücher »floridi«, die Kommentare zu der
»ars medendi« des galen und das erste und zweite Buch der Kom*
mentare zur »epidemia« des hippokrates. Als ich nach Bologna
übersiedelte [1562], gab ich das Buch »de somniis« heraus, das
gewiß für viele verständige Leute von Nutzen, dem ungebildeten
Pöbel freilich gefährlich und schädlich sein wird. Aber gibt es
denn überhaupt etwas, das nicht schädlich wäre, wenn man schlecht
ten oder auch nur unbedachten Gebrauch davon macht? Pferde,
Messer, "Waffen, Geschütze sind in den Händen schlechter Men-
schen fürchterliche Dinge, den guten sind sie notwendig, nicht
nur wertvoll. Freilich, hier richtig zu scheiden ist sehr schwer,
und man müßte zwischen den Büchern, die von Nutzen, und de*
nen, die nutzlos sind, eine dritte Klasse anerkennen, Bücher, die
nur Gelehrte lesen dürfen. Das Buch »dialectica« schrieb ich nur
um zu zeigen, wie man von jenen natürlichen und doch so uns
sichern dialektischen Erkenntnismitteln nützlichen Gebrauch ma*
chen könne; dann machte mir aber das Werk selber solche Freude,
daß ich es der Öffentlichkeit übergab, obwohl es weder vollstän*
dig, noch auch von Fehlern frei ist. Die kleine »ars medendi« gab
ich nur dem Vorteil des Publikums zuliebe heraus, weil ich merkte,
daß die übrigen Schriften nur langsam in die Öffentlichkeit dran*
gen. Das Buch »de anini immortalitate« schrieb ich eigentlich nur
als Studie, nicht als abgeschlossene Meinungsäußerung, und da
das Büchlein dem Ungeheuern Gegenstand nicht gerecht werden
konnte, ergänzte ich es durch das zweite Buch der »hyperboraea«.
Von den Dialogen habe ich den einen geschrieben, um mir das
Elend zu erleichtern, das mich damals drückte, den andern, um
den allgemeinen menschlichen Wahnsinn in seiner Blöße darzu*
166
tun und dabei jenen vier sich widerstreitenden menschlichen
Schwächen ihren Platz zu geben, dem Schmerz und der unsinni*
gen Lust, der törichten Gier und der Furcht. Das Buch »proxe*
neta« entstand in einem einzigen Anlauf energischer Schaffens«
lust; das »memoriale« behandelt einen Stoff, den ich vorzüglich
beherrsche [die Kunst des Extemporierens]. Die vier medizinis
sehen Magazine oder Handbücher [oben unter dem Titel »manua*
rius« aufgezählt] enthalten alle Blüten und Früchte des gesamten
medizinischen Wissens in kurzer Zusammenfassung: kennst du
sie, so brauchst du die andern medizinischen Werke nicht mehr
zu lesen; hast du aber diese schon durchgearbeitet und hast die
Handbücher nicht kennen gelernt, so magst du wissen, daß du
nichts versäumt hast. Die Kommentare zu des hippokrates Schrift
»de victu in acutis« schrieb ich, um aus diesem gediegenen Werke
die Theorie der Mittel zu gewinnen, die aus akuten Krankheiten
retten können. Auf diesem Gebiet, der Heilung von Krankheiten,
bin ich, wie ich schon gesagt habe, überaus glücklich gewesen.
Die Bücher »de urinis« sind noch nicht vollendet; sie bekunden
die Wunder der Natur, da hier auf so kleinem Gebiet so unend*
lieh viel von Bedeutung enthalten ist, und wie in diesem einen
Teil, so ist es auch im ganzen Bereich der Natur. Die von mir ge*
fundene Theorie des Urins ist gleichwohl ganz einfach und bietet
gerade deshalb den Nachahmern große Schwierigkeit; das Buch
ist wohl gearbeitet und die Theorie, wie es sich gehört, mit vielen
Experimenten belegt. Weiterhin verfaßte ich die »libri contradi*
centium medicorum«; sie behandeln alle strittigen Probleme der
Medizin, und diese wollen so aufgefaßt werden, wie ich sie gelöst
habe: wenn mir die Lösung gefiel, warum sollte ich sie dann ver*
urteilen? wenn ich ihr mißtraute, warum ihr zustimmen, sie bestä*
tigen und zum Gesetz erheben? Die »problemata« schrieb ich
nach dem bekannten Grundsatz [horaz, ars poet. 333]:
»Nützen allein nicht wollen die Dichter, sie wollen ergötzen!«'
Die Bücher »de ludis« endlich schrieb der Spieler in mir. Und
warum sollte ein Schriftsteller, der Würfelspieler ist, nicht über
Spiele schreiben? Und vielleicht heißt es auch hier: »ex ungue
leonem«.
' CARDANO schreibt: »ef prodesse volunt, et delectare poetae«.
167
Die ursprünglich dreizehn Bücher »de metoposcopia« zog ich in
sieben zusammen; es ist diese Wissenschaft [die Kunst, aus den
Linien des Gesichts zu lesen] ein Teil der Physiognomik. Ich
habe sie vonciROLAMO visconti übernommen, sueton lobt diese
Kunst ganz über alle Maßen. Und ich habe darin einen Schimmer
von Wahrheit entdeckt. Freilich ist es überaus schwer, einiger*
maßen festzustellen, was wahr und was falsch daran ist, und man
geht leicht in die Irre, weil es sich um so viele Menschen als Obü
jekte und um so vielerlei verschiedene Zeichen handelt, die sich
so häufig und regellos verändern.
Auch die »paralipomena« sind erhaltene Überbleibsel von den
Trümmern eines älteren Werkes, das ich vernichtet hatte und
zwar nur deshalb vernichtet hatte, weil ich mit den verworrenen
und ungeordnet gruppierten Aufzeichnungen nicht zufrieden
sein konnte. Es war darin keinerlei sachliche Einteilung ein*
gehalten gewesen, die höchsten Dinge wechselten mit den nie*
drigsten ab, häßliche mit schönen, nützliche mit schädlichen,
Dinge der Kunst mit Naturzufälligkeiten, kluge und sorgsam ge*
arbeitete Gedanken mit durchaus absurden; und ich durfte nie
hoffen, auch wenn ich noch so viel daraus gestrichen hätte, den
Rest des Werkes besser gestalten und in eine einheitliche, abge*
rundete, geschlossene Form bringen zu können. Nun hielt ich es
aber für besser, heute schon, da noch alle die Menschen leben und
es lesen können, die sich dafür interessieren, und da die Dinge
selbst noch allen Leuten bekannt sind, eine bloße Zusammen*
Stellung des gesammelten Materials zu geben und so meinen Freun*
den und Gönnern einen guten Dienst zu leisten, vor allem aber,
was noch wichtiger ist, mit einer sehr großen Ersparnis an Zeit
eine Menge Kenntnisse von Einzeldingen klar und bestimmt der
Nachwelt zu hinterlassen, als in einer sorgfältigen Bearbeitung
mühselig zu zeigen, wieviel Material ich vernichten mußte. Dies
eine sage ich: das allerschönste ist, so zu leben, daß niemand bei
mir vermissen kann, was er von einem guten Mann, der seine
Pflichten kennt, glaubt erwarten zu dürfen. Darum habe ich auch
die Bücher »de inventione«, »de conscribendis libris« und »de
libris clarorum virorum« geschrieben, um durch eigene Tat zu
bekräftigen, was ich mit Worten gelobt hatte. Den Hymnus und
168
jene beiden Viten der seligsten Jungfrau und des heiligen Marti*
nus schrieb ich, um offen zu zeigen, daß ich dankbare Gesinnung
gegen die hege, von denen ich so viele Gnaden erlangt habe. Und
ihre korrekte Form suchte ich diesen Werken deshalb zu geben,
weil ich der Ansicht bin, daß, wenn ein Buch durchaus nützlich
sein soll, eine peinlich genaue Sorgfalt das Buch nicht nur beglei*
ten, sondern notwendigerweise beherrschen müsse. Denn wie einer*
seits die höchste Form einem Buche Kraft und Schmuck verleiht,
so machen andrerseits Fehler, Nachlässigkeiten, wenig gefeilte
Stellen den Leser müde und mißmutig, rauben dem Buche selbst
jedes Ansehen und jede Autorität und schaden so schließlich nur
der allgemeinen guten Wirkung. Ich weiß auch sehr wohl, und
das Beispiel des Aristoteles und des galen konnte es mich lehü
ren, daß diese sorgfältige Durcharbeitung bei allen Arbeiten durch*
aus möglich ist; aber bei diesen beiden war sie notwendig, da
diese ihren Gegenstand prinzipiell und vollständig abhandelten,
mir diente es immerhin zur Stärkung des Eindrucks und zum
Schmuck, wenn ich in der Schrift »de optimo vitae genere« in
einzelnen Partien nach Kräften diese höchste Sorgfalt der Aus*
feilung angewandt habe. Ich schrieb dieses Buch, weil ich aus all
dem Elend der Erinnerung an vergangenes, der drückenden Last
des gegenwärtigen und dem drohenden Unheil künftigen Un*
glucks nie einen anderen Ausweg gefunden habe als den, mit
der Unsterblichkeit eines Namens sich selbst Unsterblichkeit
vorzutäuschen, zu sterben, ohne die Trübsal des Alters gespürt und
doch die Mängel der Jugend überwunden zu haben, mitten in
der ewigen Hast des Lebens sich seine Ruhe zu bewahren und
im dauernden wirren Wechsel und Durcheinander der Dinge selbst
fest und beständig zu bleiben. Diese vier Dinge, dächte ich, soll*
ten uns entschädigen für all das Elend im Unglück, das jedem von
uns Sterblichen freilich weit reichlicher beschert wird als jene Gü*
ter, die uns so nötig wären. Und der letzte Trost ist der Gedanke,
daß alles, was kam, kommen mußte; so auch der Tod der Mei*
nigen. Aber vielleicht, wendest du ein, nicht gerade so, wie es
kam? Was verschlägt es? Wir alle haben den gleichen Heimweg,
und ist es nicht heute, was liegt daran, wenn die Stunde doch bald
genug kommen wird? Wir Menschen haben nie Ruhe gehabt und
169
werden sie nie haben. Vergleiche einmal das, was heute dir zu*
gestoßen ist, mit dem Leben etwa in der Zeit eines polybius. Heute
sind wir ja fast wie auf Rosen gebettet; damals konnte man von
Jammer und Elend sprechen: nichts war jenen Armen sicher, ohne
Grund ward man ermordet, in die Sklaverei geführt; ein heitrer
Scherz war es, so einer nur sein ganzes Hab und Gut verlor. Wir
haben heute zudem noch den Glauben an ein ewiges und glück*
seliges Leben, der jenen früheren Zeiten fremd war. Was kann nun
also einem, der solche Gedanken sich vor Augen hält, im Leben
Widriges begegnen? Wir haben mit den Menschen aller Zeiten
den gleichen Ursprung und ein gemeinsames Ende, in allem das
gleiche Schicksal, außer daß wir nach dem Tode noch ein Leben
der Freude erwarten. Wohl aber täuschen wir uns, wie ich schon
einmal ausgeführt habe, in vier [?] Dingen : einmal, wenn wir glau?
ben, es gebe in diesem Leben und in unserem alltäglichen Tun et*
was, das auch nur einigermaßen Bestand und Wert habe; sodann
wenn wir nicht merken, daß nichts von Dauer, geschweige denn
von Ewigkeit ist; drittens, wenn wir glauben, unser Geist, wenn
er auch den Körper überdaure, werde doch wie dieser alt, und
zwar deshalb, weil die Tätigkeit, die er mit dem Körper gemein*
sam hat, erlahmt. Ich aber erkläre mit aller Entschiedenheit: nichts
an uns altert; nicht die Seele, die immer Werkzeug und immer
Tätigkeit ist, wie ich heute mehr denn je einsehe; nicht der Kör*
per, denn nach Ansicht der Philosophen, namentlich der Plato*
niker, ist er ja überhaupt, wie es im Phaedon heißt, nicht der
wichtigste Teil unseres Daseins; nicht unsere Tätigkeit endlich,
die den wichtigsten und vollkommensten Teil unseres Wesens
ausmacht, denn sie kann wohl an äußerer Wirkung verhindert
werden, bedarf aber für sich dieser Wirkung nicht. Dies sind näm*
lieh zwei verschiedene Dinge: die Sonne bedarf der Luft, um zu
erleuchten, und die Luft ist ihrerseits Ursache, daß die Sonne er*
leuchtet; fehlt die Luft, so vermag die Sonne nicht mehr zu er*
leuchten. — Dies ungefähr sind die Grundgedanken, dies die letz*
ten Zwecke und Ziele der Ratschläge [die ich in der Schrift »de
optimo vitae genere« gebe].
Eine zweite Schrift derselben Tendenz ist das »memoriale« be«
titelte Büchlein; alle die Lehren, die ich in der zuletzt genannten
170
Schrift zusammengestellt und hier soeben vorgetragen habe, sind
in dieser zweiten logisch gegliedert und in ihre einzelnen sachlich
begründeten Teile zerlegt, so daß du daraus nicht nur einen ganz
allgemeinenTrost, sondern für jeden einzelnen Fall, in welche Lage
du auch kommen magst, Nutzen und Rat entnehmen kannst. Eine
dritte Schrift ist das medizinische Handbuch oder Magazin [»liber
manuarius«]. Ich habe es nicht nur des Gewinnes und der Ehre
wegen geschrieben, sondern weil es das schönste auf Erden ist,
Liebesdienste zu erweisen und zu leisten, was du zu leisten schuldig
bist. Freilich mußt du auch einsehen, wieviel du selbst in solchen
Dingen anderen zu helfen schuldest, wo andere Menschen noch
nicht im entferntesten daran denken, Pflichten zu haben. Und wenn
es schon dem Architekten ein liebes Gefühl sein muß, ein Haus
nicht nach den Gesetzen blinden Zufalls, sondern mit Ordnung
und Verstand gebaut zu haben, um wie viel mehr einem Menschen,
der seinen Nebenmenschen vernünftig helfen könnte und der ein*
sieht, wieviel er dann zu leisten vermag. Ein viertes Buch ist das
hier vorliegende, der Nabel aller meiner Schriften. Ich schrieb es
mir und anderen zur Lust und aus einem Gefühl der Pflicht heraus.
Sei überzeugt, daß ich darin niemandem bewußt lügend Unrecht
getan habe; wie dächtest du, müßte sonst meine Seele gegen Gott
gestimmt sein? Freilich, wer wird es mit Vergnügen lesen? Die
Menschen sind ja wie das blöde liebe Vieh, das nicht an guten
Dingen Freude und Interesse hat, sondern an dem nur, was es ver#
schlingen kann, so wie die Spinne an der Mücke, der Vogel Strauß
am Eisenstück sich ergötzt. (Und um jene anderen Leute kümmere
ich mich nicht, die sich bewundern lassen und mit pfiffigen Knifs
fen den Eindruck erwecken wollen, als wüßten sie, was niemand
außer ihnen weiß, während doch oft genug die Erfahrung zeigt,
daß sie vieles selbst nicht wußten, was andere wissen.) An fünfter
Stelle nenne ich die Schrift »de tuenda sanitate« und an letzter das
zweite Buch der »hyperboraea«. Im fünften wird das dritte, im sech*
sten das erste der genannten Bücher ergänzt und zu innerem Ab*
Schluß gebracht.
Ich wünschte, daß neben den eben genannten nur neunzehn mei#
ner Schriften mich überlebten; außer diesen wünschte ich kein an*
deres Buch geschrieben zu haben. Vielleicht wundert sich einer,
171
daß VERGIL nie gewünscht hat, seine Aeneis vernichtet zu sehen —
er hat dies übrigens gewolh und befohlen, sie zu vernichten —
nachdem doch seine »bucoHca« und »georgica« geschrieben waren.
Und ich selbst bin erst dann auf diesen Wunsch gekommen, nach*
dem ich alle meine Werke erneut gesichtet hatte. —
Warum ich die Bücher »de natura« zusammenstellte, habe ich zur
Genüge ausgeführt. Das Buch »Theognoston« trat später an die
Stelle der »hyperboraea«. Die Schrift »de moribus« schrieb ich, von
ARISTOTELES angeregt, der in seiner Staatslehre die Behauptung
aufstellt, die längste mögliche Dauer einer Tyrannei umfasse kaum
die Spanne von hundert Jahren, was sicherlich falsch ist. Zu der
Abfassung meiner Selbstbiographie hat mich, wie es wohl scheint,
der Gedanke an den Nutzen einer solchen, das Drängen meiner
Freunde und die vielfach sich bietende günstige Gelegenheit ge#
reizt. Auch muß es, wenn epikur sich nicht durchaus täuscht, kein
unangenehmes Gefühl sein, so gründlich sein ganzes Leben zu
durchleuchten. Das Buch »de dentibus« verfaßte ich, um eine
sichere Methode der Heilung dieser langwierigen Krankheiten zu
geben; und der nämliche Grund war es auch, der mich die Kom?
mentare zu dem Buch »de victu in acutis« schreiben ließ. Die Schrift
»de Indica lue« entstand, weil so viele Leute in dieser Sache an
mich schrieben und ich darüber eine große Menge Material gesam*
melt hatte. Auch zu der Abfassung der Bücher »de tuenda sani*
täte« bewogen mich vielerlei Gründe; in erster Linie war es der,
daß GALEN auf diesem Gebiet im Verlauf seiner Abhandlung allzu
pedantisch wird und dabei viele seiner Ausführungen dunkel,
die meisten unsicher, alle unvollständig sind. Ich mag gar nicht
sagen, wie sehr er mit seinen verschiedenen praktischen medizini*
sehen Anweisungen in der Irre geht und dabei Zeit und Kraft
vertrödelt; er vergißt sogar anzugeben, welcher Wein für Gesunde
und welcher für junge Leute der beste und bekömmlichste sei, ob*
schon in seinen umfangreichen Schriften oft genug Gelegenheit
dazu geboten ist, so daß man glauben möchte, er habe es mit Ab*
sieht verschwiegen. Dazu kommt nun auch, daß nicht alles, was
in alter Zeit und in Griechenland gut war, auch uns Italienern
von heute zuträglich ist. Und außerdem muß sich seither manches
geändert haben : so berichtet galen im zweiten Buche seiner Schrift
172
»de alimentis«, in der Cyrenaika werde die Natterwurz wie eine
Rübe gekaut und gegessen und sei nicht im mindesten schädlich.
Auch kannte galen die Kunst der Destillation nicht, die damals
noch gar nicht erfunden war. Bei mir aber muß naturgemäß diese
Erfindung, deren große Bedeutung und Nützlichkeit unbestrit*
ten sind, eine nicht geringe Rolle spielen. Das Büchlein »actus«
habe ich meinen anderen Schriften so nebenbei mit auf den Weg
gegeben, so wie ein kleiner Funke gelegentlich aus der Feuer?
maschine springt.
Wenn übrigens jemand alle meine übrigen Bücher im Stil der acht*
zehn erstgenannten Schriften redigieren und dabei austilgen wollte,
was nicht in den Zusammenhang paßt oder eine leere Wieder?
holung wäre, — so wie ich selbst an einigen Stellen anderer Bücher,
wie etwa der Schrift »de varietate rerum«, vorgegangen bin — so
würde er ein Werk leisten, das sich lohnte, und sich meinen Dank
verdienen.
Nun magst du aber wissen, daß zwar alle Bücher, wenigstens alle
guten, stets unter einer Art von himmlischer Erleuchtung geschrie?
ben sind, daß dies aber im einzelnen auf dreifache Weise geschehen
kann : entweder ist der menschliche Geist bei Abfassung eines Bu?
ches von jenem göttlichen Geist erleuchtet, der uns allen gemein
ist; denn jede Weisheit stammt ja von Gott dem Herrn, und wie
die platonische Schule meint, dringt unser Intellekt nur, wenn er
mit dem Sittlich? Guten verbunden ist, zur Erkenntnis vor und
leuchtet über der Seele, die sich der Idee des Guten zugewandt
hat. Eine andere, mehr einleuchtende Art ist die, daß sich die gött?
liehe Erleuchtung im einzelnen Falle über uns ergießt; diese An?
sieht halten zwar manche Platoniker für falsch, doch widerspricht
ihr keinesfalls das Gesetz unseres Wesens; auch diese Erleuchtung
wird nur dem Rechtschaffenen zuteil. Eine dritte Art endlich ist
die, daß uns zu günstiger Stunde plötzlich die Erkenntnis dar?
gereicht wird. So ist es mir in diesem laufenden Jahre 1576, am
14. März, ergangen. Ich schrieb damals gerade in meinem Buch
»de tuenda sanitate« an dem Abschnitt über das Pfriemenkraut
und lobte darin die anerkannt günstige Wirkung der aus dem
Pfriemenkraut gewonnenen Medikamente. Da begegnete mir auf
dem Gemüsemarkt in Rom, ganz nahe dem Fischmarkt, ein alter
173
Mann, ohne Mantel, ja ganz zerlumpt gekleidet, und riet mir da?
von ab, dieses Kraut zu kaufen und zu gebrauchen. Nach der Lehre
des GALEN, sagte er, könne diese Pflanze, wie auch der Schierling,
sofort töten. Und da ich ihm zur Antwort gab, ich wisse sehr
wohl das Pfriemenkraut vom Schierling zu unterscheiden, sagte
er: »Nimm dich in acht! Ich weiß, was ich sage.« Und murmelte
noch etwas von galen. Ich kehre nach Hause zurück und finde
tatsächlich bei galen eine betreffende Stelle, die mir bisher ents
gangen war. Und so habe ich, wenn auch nicht im großen und
ganzen, so doch an vielen einzelnen Punkten meine frühere Ans
sieht aufgegeben und meiner Schrift zahlreiche Anmerkungen bei*
gefügt, so: daß das Pfriemenkraut, das ich kenne, nur in Italien
gepflückt werde; daß die genannten Wirkungen nur vom Stengel
verstanden werden müßten, wenn man beim Gebrauch ganz sicher
gehen wolle; das Kraut dürfe nicht erfroren sein [oder: nicht bei
kalter Witterung gebraucht werden] ; es könne sich als Medika*
ment der Natur des Körpers nicht so sehr anpassen, wie andere;
es dürfe wohl gebraucht, nie aber mißbraucht werden; es dürfe
nur im ersten Frühjahr, nicht mehr zu Sommeranfang, gepflückt
werden, dann, wenn der Stengel die frisch gewachsenen üppigen
drei Blätter habe; und wenn sich einer fürchte, zuerst davon zu
kosten, so solle er Zitterwurzel oder eine Zitrone oder auch Brot
mit gekochtem Knoblauch dazu nehmen [?], oder es vorher einem
Hund oder einer Henne zum Fressen geben. Wenn einer auf all
dies achtet, so wird er gewiß reichen Gewinn aus der Lektüre dieses
Buches ziehen und es dem, der sich so sehr verdient um ihn gemacht,
wie wir schon eingangs gesagt haben, zu Dank wissen. Und er
möge, bitte ich ihn, freundlich meine Fehler bessern. — Meine
neuen Bücher aber, wie ich schon oben gesagt, sind mit derselben
Fertigkeit, nicht aber mit derselben Sorgfalt geschrieben, wie die
früheren.
Sechsundvierzigstes Kapitel
VON MIR SELBST
Wenn ich solches und ähnliches bedenke, fährt mir die Frage
durch den Kopf, die man, wie ich wohl fühle, mir entgegen*
174
halten könnte: ob es mich bei all diesen guten und bösen und
gleichgültigen Erlebnissen nicht reut, zu leben und gelebt zu
haben? Es wäre töricht von mir, nicht im voraus schon an eine
Antwort zu denken und der Antwort gleich ihre Begründung bei?
zufügen. Zu wirklichem Unglück in meinem Leben rechne ich den
schrecklichen Tod meines einen und die Torheit meines anderen
Sohnes, die Unfruchtbarkeit meiner Tochter; mein eigenes frühe*
res langjähriges Unvermögen, mit Weibern geschlechtlich zu ver?
kehren; die andauernde Armut, den ewigen Kampf, die unaufhör*
liehen Verfolgungen und Verleumdungen; Unannehmlichkeiten
aller Art, Krankheiten, Gefahren, meine Einkerkerung und das
Unrecht, das mir so und so oft dadurch zugefügt wurde, daß man
mir Leute mit geringerem Verdienste vorzog. Doch lassen wir dies;
jedem mag solches begegnen. Wenn wir den nicht unglücklich
nennen wollen, der weder Kinder, noch Amt und Würden, noch
Reichtümer sein eigen nennen darf, wie sollten wir dann den
heißen, der alt geworden ist und von allen diesen Gütern wenig*
stens etwas besitzt? Stets soll man seine Lage mit der des Arme*
ren vergleichen, nie mit der des Bessergestellten; dann aber habe
ich kein Recht, unglücklich zu sein und zu klagen, ja, wenn wir
dem ARISTOTELES glauben dürfen, bin ich viel glücklicher als all
die anderen, denn ich habe die sichere und seltene Kenntnis von
vielen wichtigen und großen Dingen. Und ich sage noch mehr:
dies Wissen gibt mir das Recht, alle irdischen Dinge zu verachten,
wie es die Stoiker tun. Und so üppig reiche Frucht breche ich nun
von dem Baume dieser Erkenntnis, daß ich selbst heute als ge*
brechlicher Greis mich nicht mehr um meine frohe Jugend be?
neide; bin ich doch auch durchaus nicht arm zu nennen, die Sinne
meines Leibes tun ihren Dienst, irdisches Wohlergehen ist mir zu*
teil geworden, mein Geist ist stark und frisch. Und ein noch große*
res Wort darf ich aussprechen: den glücklichsten Menschen darf
ich mich heißen, denn ich weiß, daß meine Natur des Göttlichen
teilhaftig ist. Wie? wenn der Tod dir vor der Türe steht und einer
kommt und verheißt dir, wie einst dem König ezechias, du wer*
dest noch 15 Jahre leben, wird dein Herz nicht froher schlagen?
Noch mehr, wenn er dir 30 oder 100 verspräche? Und ginge er
von dem Hundert gar zum Tausend über, wie ohne Maß wäre da
175
deine Freude 1 Würdest du nicht all dieser irdischen Freuden
und Genüsse vergessen? Und verspräche er dir zehn? oder
hunderttausend Lebensjahre, wüßtest du dich vor Wonne noch
zu fassen? Und nun nimm an, du lebest ewig: gibt es noch et*
was, worauf du hoffen, was du wünschen möchtest? Wer aber
ohne diese ewige Hoffnung leben muß, der ist um ein doppel*
tes wahrhaftes Gut betrogen, um eine Hoffnung und um ihre
Frucht.
Da es nun also Gott gefallen hat, in unserer Sterblichkeit der Un#
Sterblichkeit uns teilhaftig werden zu lassen, dürfen wir seine un#
verdiente Gnade nicht mißachten, noch über unser Leben und
unsere Lage eine unbillige Meinung haben.
Siebenundvierzigstes Kapitel
MEIN SCHUTZGEIST
Man weiß, daß manche Menschen sich der dauernden Hilfe
von beistehenden und schützenden Geistern (die Griechen
pflegten sie »Engel« zu nennen, im Latein nennt man sie etwas
weniger korrekt »Geister«) zu erfreuen hatten : so sokrates, plo#
TIN, SYNESius, DiON, FLAvius josEPHus Und auch ich. Alle diese
führten ein glückliches Leben, ausgenommen den sokrates und
mich, obschon ich mich sonst, wie ich oben ausgeführt habe, in
den besten Verhältnissen befinde. Einem caius caesar dem Dik?
tator, einem cicero, Antonius, brutus und cassius standen böse,
wenn auch glänzende Geister zur Seite; einem Antonius und
CICERO Geister des Ruhmes, doch beide waren ihren Schütz*
lingen verderblich. Der Schutzgeist des josephus war von hoher
Herrlichkeit und seltenem Adel; er erwies sich in seiner kriegeri*
sehen Tüchtigkeit, in der Gunst, die vespasian und seine Söhne
ihm schenkten, in seinen Reichtümern, in seinen historischen Wer*
ken, in seiner dreifachen Nachkommenschaft, in dem Kampf, den
er um das Unglück seines Volkes führte, vor allem aber in der
ahnenden Voraussicht alles Kommenden, die ihn während seiner
Gefangenschaft erleuchtete, ihn vom Wahnsinn der Seinen befreite
und aus den Fluten des Meeres rettete. Aber alle diese Geister
176
waren offenkundig böse Dämonen; mein Schutzgeist aber ist, wie
ich glaube, ein guter und barmherziger Geist.
Daß ich einen solchen Schutzgeist besitze, davon war ich längst
überzeugt; auf welche Weise er mich aber über alle bevorstehen*
den Ereignisse unterrichtete, das konnte ich erst nach meinem
vollendeten 74. Lebensjahr erfahren, damals als ich anfing, diese
meine Lebensbeschreibung zu verfassen. Daß ich so viele Dinge,
die mir bevorstanden, so frühe schon, fast auf der Schwelle meines
Lebens, möchte ich sagen, so bis aufs Haar genau und so lange
Zeit vorher wußte und in Wirklichkeit voraussah, das wäre ein viel
größeres Wunder, hätte ich es ohne Gottes Hilfe, als wenn ich es
durch meinen Geist erfahren. Über einzelne dieser Tatsachen habe
ich schon oben berichtet. Da mein Schutzgeist voraussieht, was
mir droht, ist er imstande, mich zu warnen. So war es damals [s.
o. S. 1 39], als er voraussah, daß mein Sohn — wahrscheinlich hatte
dieser schon am Abend zuvor versprochen, die brandonia seroni
zur Frau zu nehmen — am folgenden Tage jene Ehe schließen
werde; damals erregte er mein gewohntes Herzklopfen, das ihm
bekannt sein mußte, in so starkem Maße, daß ich den Eindruck
hatte, als erzittere das ganze Zimmer. Und den nämlichen Eindruck
bewirkte er bei meinem Hausburschen, und so fühlten damals ich
und mein Bursche ein Erdbeben, das sonst kein Bürger der Stadt
merkte, weil es ja auch tatsächlich kein wirkliches Erdbeben war.
Dies Zeichen war so allgemeiner Art, daß ich, hätte mein Sohn
etwa nicht geheiratet, was freilich ohne große Streitigkeiten mit der
Familie seiner Braut nicht möglich gewesen wäre, mich keineswegs
hätte getäuscht fühlen können. Ich wäre dann vielmehr meinem
Schutzgeist zu noch weit größerem Dank verpflichtet gewesen,
in der Annahme, daß er ja erst durch sein Zeichen mir ermöglicht
habe, das Unheil zu verhüten. Und so hat er auch damals [s.o.S.
1 54] im Kerker mir und meinem jungen Genossen, ich glaube wohl
auf Gottes Geheiß, den Geist berührt, so daß wir jenen Lärm zu
hören glaubten und dadurch in der Hoffnung auf Gottes Hilfe
gestärkt wurden. Und so entging ich damals dem Tode, und alles
das Bittere, was ich erdulden sollte, erschien mir in milderem
Lichte.
Daraus erkennen wir auch, daß dieser Geist sehr mächtig sein
12 Cardano 1 / /
muß; deutlich wird dies namentlich bei solchen Zeichen, die
mehrere andere mit mir sahen, oder bei solchen, wo zwei Sinne
zugleich, Auge und Ohr, durch ihn berührt wurden, wie bei jenem
»Te sin casa« [s. o. S. 152]. Ebenso damals im Jahre 1531, bei der
Erscheinung von Raben, Hunden, Feuerfunken. Solches ist mög;:
lieh, weil eben dieser Geist auch Einfluß hat auf die Seelen der
vernunftlosen Tiere. Auch kommt es ja auch sonst wohl vor, daß
Menschen vor leeren Schatten erschrecken oder daß vor ihren
Augen ein kurzes trügerisches Gaukelbild glänzender Dinge, ein
Phantom von Edelsteinen etwa oder Metallen, erscheinen mag.
Im allgemeinen unterschieden schon die Alten bei ihren Dämonen
mannigfach verschiedene Arten. Bald waren es warnende Gei#
ster, wie bei sokrates, bald mahnende, wie beim Tode ciceros;
Geister, die durch Träume, durch gewisse Bewegungen von Tieren,
durch Zufälligkeiten anderer Art die Zukunft lehrten; solche, die
den Menschen zu irgend einem Orte trieben, die durch Täuschung
eines oder auch, je mächtiger sie waren, mehrerer Sinne zugleich
ihn in die Irre führten; Geister schließlich, die auf dem Wege rein
natürlicher, oder solche, die durch ganz außernatürliche Dinge
wirkten, welch letztere wir für die mächtigsten und bedeutendsten
halten. Endlich unterschied man gute und böse Geister.
Einige Bedenken in dieser Sache mögen immerhin zu Recht be#
stehen, so etwa, warum denn ein solch sorgsamer Schutz gerade
über mir und nicht auch über anderen waltete? Der Grund ist gewiß
nicht der — wie wohl manche glauben möchten ~, daß ich mich
durch besondere Gelehrsamkeit auszeichnete; vielleicht gerade das
Gegenteil. Oder ist es meine maßlose Liebe zur Wahrheit und
Weisheit, verbunden mit der Verachtung aller irdischen Güter,
die mich auch in diesem Zustand der Armut beseelt, oder etwa
mein Hunger nach Gerechtigkeit, oder weil ich alles Gott, fast
nichts mir selber zuschreibe? Oder hat es vielleicht einen Grund,
der Gott allein bekannt ist?
Eine andere Frage ist die, warum mein Schutzgeist das, was er mir
zu sagen hat, nicht offen und unverhüllt sagt? Mir selbst wäre
dies lieber; er aber drückt eine Sache durch ein fremdes Zeichen
aus, so wie er mich [im Kerker] durch jenen rätselhaft verborgenen
Lärm zum Gottvertrauen mahnte, andeutend, Gott sehe alles,
178
wenn auch ich ihn nicht mit Augen sähe. Er hätte ja wohl auch
etwa durch einen Traum oder ein anderes deuthches Wunder*
zeichen, mir unverhüllt sagen können, was er mir sagen wollte.
Aber vielleicht zeigte er mir auf diese verhüllte Weise viel deut*
licher die göttliche Sorge an und all das andere, das immer stärker
auf mich einstürmte, Furcht, Beklommenheit, ängstliche Sorgen;
und jenes Klirren sinnbildete die Angst. Manchmal ist auch Dun*
kelheit wohl am Platze, wenn wir Gottes Hand erkennen, nicht
dann freilich, wenn wir vor einer Tat gewarnt werden sollen.
Töricht wäre es darum, bei Dingen solcher Art vorschnell um ein
Verstehen und Begreifen sich zu kümmern; noch törichter, ans
Licht der Erkenntnis zerren zu wollen, was dem menschlichen
Geiste aus so vielen Gründen ewig verschlossen bleiben wird.
Lange Erfahrung und die stets verdrehte, unsichere Auslegung sol#
eher Zeichen lehren uns dies. Künden diese Zeichen uns wirklich die
Zukunft, so kann uns diese Kenntnis doch nur wenig nützen ; und
trügen sie uns, wem ist dann geholfen? Gott tut mit uns wie frei*
gebige Menschen: ihnen ziemt es, vieles zu schenken, was uns nicht
immer ziemt anzunehmen.
Und wieder eine andere Frage wäre die, warum ich gewisse Er*
scheinungen sah, die mir doch durchaus unverständlich blieben,
wie etwa das »te sin casa« oder die Sache mit dem »lamant« [?]
oder die Antwort des Affen [?] von dem vier Jahre langen Leben?
Oder die Geschichte von den Würmchen, die sich in den Trink*
schalen zeigten? Nun ist es aber nicht wahrscheinlich, daß solche
Erscheinungen auf reiner Täuschung beruhen, denn die göttliche
Kraft, die uns derartige Dinge schickt, bedient sich keiner unedlen,
krampfhaft wirkenden Mittel und kennt überdies in jedem einzel*
nen Falle die zur Wirkung günstigste Gelegenheit. Und so scheint
es mir, obgleich ich nichts Sicheres darüber weiß, doch sehr glaub*
haft zu sein, daß die wirkende Ursache dieser Erscheinungen,
nämlich mein Schutzgeist, wie die Natur nach eigenen bestimm*
ten Gesetzen lebt und wirkt; und wie es im Bereich dieser Natur,
die doch niemals von sich selbst abweicht, dennoch möglich ist,
daß Mißgeburten zur Welt kommen, eben infolge eines bestimm*
ten Mangels der Materie, so ist es auch hier der Fall. Denn ich
halte es kaum für wahrscheinlich, daß dieser mein Schutzgeist
12* 179
edlerer Art ist als der Intellekt der Natur, und dieser vermag sehr
wohl Irrtümer zu begehen, der Mittel wegen, durch die er wirken
muß. Und darum ist wohl zu glauben, daß auch diese unerklärt
liehen Erscheinungen Werkzeuge meines Schutzgeistes sind. Und
wie zu gewissen Zeiten viele Mißgeburten geboren werden, wenn
nämlich die Kraft der Sonne irgendwie gehemmt ist, so kann es
auch vorkommen, daß irgend eine heimliche Kraft des Körpers
oder der Seele, die solche Zeichen zu fassen vermag, gehindert
und gehemmt ist und infolge davon in der durch diese Zeichen ver?
mittelten Erkenntnis der künftigen Dinge sich Unzulänglichkeiten
und Irrtümer einschleichen. Wenn du mir aber entgegenhältst, daß
im ersteren Falle die Fehler in einem rein materiellen Geschehen
liegen, daß aber das Wirken meines Schutzgeistes nur auf dem
Boden des Willens sich abspielt, so antworte ich darauf, daß erstens
dieser mein Schutzgeist als ein unkörperliches, an sich gutes, von
Gott abhängendes Wesen, also als das, was die Theologen einen
guten Geist oder Engel nennen, mir nach Gottes Willen zeigt, was
in Wirklichkeit eintreffen wird, und daß er sich darin nie irren
kann; daß zweitens das Naturwirken durchaus befähigt ist, der
Seele richtig vor Augen zu stellen, was der Geist ihm eingegeben
hat, daß aber die Materie, das Instrument, wodurch die Natur
mich belehren will, sei es nun eine Art Dunst oder etwas anderes,
nicht immer geeignet ist, richtig aufzunehmen und wiederzugeben.
Und dann kommt es zu einer unvollkommenen Form des äußeren
Geschehens, die entweder gar nichts äußert oder etwas anderes,
als der Schutzgeist oder die Natur will; und die Folge davon ist,
daß ich mich entweder täusche oder gar nichts verstehe. Der ganze
Unterschied ist der, daß ein solcher Irrtum nach der Ansicht der
Philosophen daraus entsteht, daß die Materie nicht geeignet war, die
Form aufzunehmen, daß er aber nach der Meinung der Theologen
meist die mit Gottes Willen zugelassene Folge der Sünde ist. —
Im übrigen möchte ich nicht, daß irgend jemand betreffs jener
Art von Erkenntnis, von der ich so oft gesprochen, einer Täuschung
sich hingebe. »Wenn wir glauben sollen,« könnte einer einwenden,
»daß du alles, was du weißt, von deinem Schutzgeist empfangen
hast, wozu brauchst du dann noch Sinne? Und weißt du etwa
alles?« Dann wäre ich ein Gott, Nein, verglichen mit der Erkennt*
180
nis der Unsterblichen ist mein Wissen nicht mehr als der Schatten,
den ein Mensch wirft, im Vergleich zu einem unermeßlichen Pa#
laste. Die Art der Erkenntnis ist also eine dreifache: Erstens die,
die ich mit Hilfe der Sinne aus der Beobachtung vieler Dinge
gewinne. Dies ist die Erkenntnis, die der Pöbel und die Unwissen*
den an mir so hoch einschätzen. Sie ist an sich eine doppelte: die
Erkenntnis dessen, was ist, und die der Gründe, weshalb es ist;
in den meisten Fällen aber genügt es mir, zu wissen, was ist, denn
ich hielt es stets der geistigen Arbeit für unwert, bei solchen Kleinig*
keiten nach dem Grunde zu forschen. Die zweite Art der Erkennt*
nis ist die, daß wir von den Erfahrungen aus auf dem Wege des
Schließensauf den Grund und mit Hilfe der Methode der einzelnen
Disziplinen zu höheren Dingen vordringen. Diese Erkenntnis
pflegt man »Beweis« zu nennen, weil wir sie mittelst des Gesetzes
vom Grund aus der Wirkung beweisen. Diese Art übe ich, um
dann von ihr zu den einzelnen dialektischen Erkenntnisformen,
zur »amplificatio«, zum »splendor«, zum Schluß vom Einzelnen
auf das Allgemeine, vorzudringen. Doch habe ich auf diesem Wege
mein Wissen viel häufiger mit der Hilfe meines Schutzgeistes als
aus eigener Kraft gewonnen. Diese Erkenntnis ist es, die den Ge*
lehrten an mir gefällt; sie glauben nämlich, meine Gelehrsamkeit
und Arbeit bringe sie zustande und es meinen darum die meisten,
ich sei fleißig und habe ein gutes Gedächtnis, und doch ist nichts
weniger wahr als dieses. Die dritte Art endlich ist die Erkenntnis
der unkörperlichen und unmateriellen Dinge. Diese ist mir durch*
weg von meinem Schutzgeist verliehen worden und zwar einfach
durch ein anschauliches, beweisendes Dartun des Grundes, wobei
dann der Beweis unumstößlich sicher erscheint. Doch haben diese
Beweise nicht denselben Sinn wie die, von denen weiter oben die
Rede war; denn einmal führt ein solcher Beweis eine Wahrheit oft
ad absurdum, und dann handelt es sich beim Beweis zum Beispiel
des Satzes »der Außenwinkel ist so groß wie die beiden nicht*
anhegenden Winkel des Dreiecks« nicht um den Grund, daß dies
in Wirklichkeit so ist, sondern nur um den, daß es theoretisch so
gesetzt und angenommen wird. Die genannte Art intuitiver Er*
kenntnis ist vielmehr nur möglich, wo es sich um körperliche und
unkörperliche Dinge handelt, die substantiell und in Wirklichkeit
181
existieren, also bei allen jenen Dingen, die die Naturphilosophie
und die Theologie umfassen; nicht möglich dagegen ist sie in der
Mathematik, wo alles nur auf hypothetischen Annahmen beruht.
Dies mag etwas schwerverständlich und paradox erscheinen, aber
es ist in Wirklichkeit so. Die Erkenntnis, daß etwas so oder so ist,
ist erst der Grund, worauf wir Beweise dieser Art aufbauen kons
nen ; zur Lösung solcher Probleme und auch zur Erwerbung sprach*
lieber Kenntnisse — wennschon ich selbst keine Sprache sprechen
kann — bedarf es keines abstrakten logischen Denkens. Die dia#
lektischen Erkenntnisformen der »amplificatio« und des »spien*
dor« habe ich teils aus Denkübungen gewonnen, teils von meinem
Schutzgeist erhalten; um den richtigen Gebrauch des »splendor«
habe ich mich mehr als 40 Jahre lang abgemüht, bis ich ihn end*
lieh erfaßte. So verdanke ich auch meine ganze Fertigkeit in der
Abfassung von Büchern und meine Fähigkeit des freien Dozierens
nach dem Gedächtnis meinem Schutzgeist und der Anwendung
des »splendor«. Doch hat mir diese Art des Wissens bei den Mens
sehen bis heute mehr Neid als Ehre, mehr Ruhm als Nutzen ver*
schafft, mir selber aber ist sie innerlich zu einer nicht geringen
und nicht gemeinen Lust geworden und hat viel dazu beigetragen,
mir das Leben zu verlängern; in all dem Unglück ist sie mir Trost,
in jeder schwierigen Lage Hilfe, in Mühsal und Arbeit Erholung
gewesen. Sie umfaßt völlig den fruchtbarsten Teil allen Wissens,
ist größer als alle andern Arten der Erkenntnis, denn alle diese
bedürfen ihrer zum Schmuck und zu letzter Vollendung. — So ist
der Tatbestand im ganzen. In der Begründung und Erklärung des
Einzelnen kann ich mich wohl irren und überlasse sie darum den
Weiseren, das heißt: den Theologen.
Achtundvierzigstes Kapitel
URTEILE BERÜHMTER MANNER ÜBER MICH
Die ehrendsten Urteile über mich sind die vier, die von Fein*
des Seite gefällt wurden: das erste ist jenes des matteo curzio
[berühmter itahenischer Mediziner, gestorben 1544]. Als ihn der
Senat [der Akademie zu Padua] frug, wen er zu seinem Nachfol*
182
ger wünsche, erklärte er mich als den geeignetsten und versicherte,
ich sei jeder Aufgabe gewachsen und werde keine Hoffnung ent^
täuschen.
Das zweite Urteil stammt von delfino [s. o. S. 81], der neben mir
im gleichen Fach als zweiter Professor tätig war. In aller öffent*
lichkeit, vor seinen Schülern und vor mir sagte diesem einst ein
Dritter, wenn ich [cardano] wegginge, werde wohl montano
[giovanni battista, berühmter italienischer Arzt, 1498— 1551] die
erste Professur erhalten, und als ich dann zu delfino gewandt die
Bemerkung fallen ließ, das werde dann für ihn eine harte Arbeit
sein, neben montano zu arbeiten, der so viel Erfahrung darin
habe, andern die Schüler wegzuködern, gab dieser zur Antwort:
»Von meinem Platz werde ich deshalb doch nie weichen, und
wenn selbst galen neben mir dozierte. Aber immerhin bin ich
der Ansicht, daß es für mich ehrenvoller ist, neben dir an zweiter
Stelle zu arbeiten, als an erster Stelle neben einem andern. Übri#
gens glaube ich nicht, daß mir die Konkurrenz eines andern mehr
zu schaffen machen würde als die deinige; denn sieh, obwohl ich
die mächtigsten Gönner habe, obwohl diese ganze Stadt und so
viele erlauchte Herren zu mir halten, und obwohl sogar auf mein
Drängen hin alle Ausgewiesenen wieder zugelassen wurden, habe
ich es doch nicht fertig gebracht, auch nur so viel wie ein Drittel
deiner Zuhörerschaft um mich zu sammeln.«
CAMUZio [andrea, gestorben 1578], ein anderer Konkurrent von
mir, gab ein Buch im Druck heraus, worin er bitter darüber klagt,
daß zu Pavia und an anderen Universitäten mein Name als eine
Autorität gegen galen zitiert werde, dem man doch unbedingt den
Vorzug vor mir geben müsse, und wäre es auch ausschließlich
darum, daß er schon seit vielen Jahren tot, jedem Neid völlig ents
rückt und von so vielen Autoritäten anerkannt sei. Das Buch steht
überall zum Verkauf aus.
sebastiano giustiniani, der venezianische Statthalter von Padua,
ein überaus kluger und in den humanistischen Studien wie in der
Philosophie und Theologie bewanderter Mann, der in einer Reihe
von wichtigen diplomatischen Missionen für die Republik Vene*
dig tätig war, wohnte im Sommer des Jahres 1 524 einer öffentlichen
Disputation zu Padua bei, an der sich unter andern auch vincenzo
183
MADio aus Brescia [belesener Philolog und Philosoph, gestorben
1543] beteiligte, der bald darauf zu Ferrara öffentliche Vorlesun*
gen über Philosophie hielt. Als nun giustiniani nach vielen ans
dem auch mich disputieren hörte, fragte er, wer ich sei, und man
sagte ihm, ich sei ein Mailänder und hieße girolamo cardano.
Und als die Disputation beendet war, ließ er mich kommen und
sagte mir vor den Ohren der ganzen Akademie: »Arbeite fleißig,
junger Mann, denn du wirst einmal selbst den curzio überragen.«
Und als ich überrascht durch das unerwartete Lob schwieg, fügte
er hinzu: »Hast du verstanden, junger Mann? Ich sage dir, ar*
beite fleißig, denn du wirst einmal selbst den curzio überragen.«
Alle staunten, die es hörten, namentlich deshalb, weil ich nicht
bloß kein venezianischer Untertan war, sondern sogar aus einer
Stadt stammte, die Venedig wenig freundlich gesinnt war, der vie^:
len Kriege wegen, die so lange Zeit hindurch zwischen der Repu*
blik und unserm Fürsten getobt hatten.
Da ich nun aber wohl weiß, daß die Zeugen aller mündlichen Urs
teile über mich mehr und mehr schwinden, gehe ich zu den schrift*
liehen Zeugnissen über und halte es dabei für der Mühe wert, eins
zelne der Männer zu nennen, in deren Büchern meiner ehrenvolle
Erwähnung geschieht. Die Bücher sind alle gedruckt und überall
zu haben.
URTEILE ÜBER MICH IN BÜCHERN:
1. ADOLFUS CRANGius in Seinem Trithemius [?].
2. ADRIAN ALEMAN [französischer Arzt des 16. Jahrhunderts] in
seiner Schrift »Hippocratis de aere, aquis et locis liber com?
mentariis illustratus«.
3. ANDREAS VESAL [berühmter belgischer Anatom, 1514—1565]
in seiner »Apologia contra Puteum«, die er unter dem Pseudo*
nym Gabriel, Sohn des zacharias, veröffentlichte.
4. ANDRE tiraqueau, ein französischer Rechtsgelehrter [1480 bis
1558], in der Schrift »de nobilitate« und in seinem Buch »de
legibus connubialibus«.
5. AUGER ferrier [französischer Arzt, 1513— 1588]inseinem Buch
über die französische Krankheit.
6. Der Autor der Anmerkungen zu dem Buch »de revolutioni*
184
bus nativitatum« des hermes [trimaximus, ägyptischer Schrift*
steller des 2. nachchristlichen Jahrhunderts].
7. ANTOiNE MizAUD [französischer Astrolog, 1510—1578] in sei*
nem Werke von der Sympathie und Antipathie [»catalogi
sympathiae et antipathiae rerum aliquot memorabilium«].
8. AMATUS LUSITANUS [jUAN RODERIGO DE CASTEL BRANCO, portU*
giesischer Arzt, 1510—1568] in seiner »Commentatio in Dio*
scoridem [Anazarbaeum]«.
9. ANDREA BACCio [italienischer Arzt, gestorben 1600] in seiner
Schrift »de thermis seu de balneis«, aber in mißgünstiger Weise,
wie ich selbst ihm nachgewiesen habe.
10. ANDREA CAMUzio, wie ich oben erzählt.
11. ANTONIO MARIA [de' conti] oder, wie er sich selbst mit verän*
dertem Namen in seinen Schriften nannte, marcantonio maio#
RAGio [italienischer Humanist, 1514—1555] in seinem »Anti*
paradoxon«.
12. adrien turnebe [französischer Gelehrter, 1512—1565] indem
Brief, den er seiner Auslegung des Buches »de oraculorum
defectu« von plutarch vorausschickt. Dabei unterdrückte er
aber meinen Namen — der Tor klagt sich selbst an.
13. [jean] brodeau [französischer Gelehrter, 1500—1568] in sei*
nen Miscellaneen [»dix livres de melanges«].
14. BUTEO [jean borrel, französischer Mathematiker, 1492—1572],
ein Mühlstein, der nichts weiß und nicht zu lehren versteht.
15. CHARLES DE l'ecluse [berühmter französischer Botaniker, 1524
bis 1609] in seiner Schrift »de aromatibus Indiae« [»aromatum
et simplicium aliquot medicamentorum apud Indos nascen*
tium historia«].
16. Der Spanier cristoforus in seinem Itinerar des spanischen
Königs.
17. In derChronik des gaspare BUGATTo[italienischerPolyhistor des
1 6.Jahrhunderts] , wo er von denArzten und Professoren spricht.
18. Im Anhang der Chronik des s.\nsovino [francesco tatti, itas
lienischer Gelehrter, 1521 — 1586], unter den Ärzten und Pro*
fessoren, die er anführt.
19. KONRAD gesner [Züricher Arzt, 1516—1565] an verschiede*
nen Stellen.
185
20. coNRADUS LYCOSTHENES [konradwolffhart, deutscher philo*
logischer und theologischer Schriftsteller, 1518—1561] in sei*
nem Buche von den Prodigien [»prodigiorum ac ostentorum
chronicon«].
21. coNSTANTiNUS in seinem Buche gegen amatus [?], namentlich
an der Stelle, wo er von den Steinen handelt [gemeint ist viel*
leicht ROBERT coNSTANTiN, französischer Arzt und Botaniker,
1502—1603, ein Freund scaligers].
22. CHRISTOPH clavius[schlüssel] aus Bamberg[1537— 1612, Mit*
arbeiter an der gregorianischen Kalenderreform] im dritten
Buche seiner »elementa«.
23. DANIELE BARBARO, Patriarch von Aquileja [gestorben 1570],
im achten Kapitel des zehnten Buches seines »commentarius
in Vitruvium«.
24. DANIEL SANTBERCHius [niederländischer Mathematiker] im sie*
benten Buche seiner »problemata astronomica et geometrica«.
25. DONATUS DE MUTis [?] in einigen Aphorismen.
26. Die epitome bibliothecae [?].
27. FRANCESCO ALESSANDRi [italienischer Arzt des 16. Jahrhunderts]
in seinem »antidotarium«.
28. FRANQOis DF FOIX, Comte DE CANDALE [französischer Mathema*
tiker, 1502—1594], dessen Tadel ich als Lob erachte, in seiner
»geometria«.
29. FRANCESCO vicoMERCATi [italienischer Gelehrter des 16. Jahr*
hunderts, Freund cardanos] in seinem »commentarius in libros
meteorologicorum Aristotelis«.
30. [leonhard] FUCHS [1501 — 1566, Professor der Medizin in Tu*
hingen] in seinem medizinischen Kompendium.
31. KASPAR PEUCER [dcutscher Arzt Und Polyhistor, Schwiegersohn
MELANCHTHONS, 1 525— 1602] in Seinem »commentarius de prae*
cipuis divinationum generibus«.
32. GAUDENZio MERULA [merlani?], gebürtig aus Novara, in sei*
ner Schrift »de hello Erasmicano<f ; er war der erste, der mei*
nen Namen in einem Druckwerk veröffentlichte.
33. GEORG picTORius [maler], ein Arzt [1500—1568], in seinen Bü*
ehern, deren es mehrere gibt.
34. GUGLiELMO GRATAROLO aus Bergamo, ein Arzt [1516—1568].
186
35. GABRIELE FALLOPio [bedeutender italienischer Anatom, 1523
— 1562] in seinem »über de metallis et fossilibus«, wo er mir
freilich widerspricht.
36. GuiLLAUME RONDELET [französischer Naturforscher, 1507 —
1566] in seiner »historia aquatilium«. In ungünstiger Weise.
37. [rainer] gemma frisius [niederländischer Arzt und Mathema*
tiker, 1508—1555] in seiner Arithmetik [»methodus arithme*
ticae practicae«].
38. GiROLAMO castiglione in seiner Rede vom Lobe des Vater*
landes [vermutlich der um die Mitte des 16. Jahrhunderts als
Präsident des mailändischen Rates fungierende Vater des 1523
geborenen Kardinals francesco castiglione].
39. HiERONYMus TRAGUS [hieronymus BOCK, deutscher Botaniker,
1498—1554] in seinem Buche von den Pflanzen [»New Kreuts:
terbuch«].
40. jeröme monteux [berühmter französischer Arzt des 16. Jahr*
hunderts], Leibarzt des französischen Königs [heinrich ii.,
1547-1559].
41.jACcyjES peletier [französischer Dichter und Mathematiker,
1517—1582] in seinen mathematischen Werken.
42. JEAN DUCHOUL [französischcr Naturforscher des 16.Jahrhun#
derts] in seiner »historia quercus«.
43. JOHANNES [luis] DE COLLADO [spanischer Arzt des 16. Jahr*
hunderts, Leibarzt Philipps ii., 1556—1598] in seinem Buche
»de ossibus« [gemeint ist wohl der »commentarius in Galeni
librum de ossibus«].
44. GIOVANNI battista ploti [de plotis, italienischer Rechtsgelehr*
ter des 16. Jahrhunderts] in seinem »tractatus de in litem iu*
rando«.
45. JOHANN SCHÖNER [deutscher Astronom und Geograph, 1477
— 1547] in seiner Schrift »de nativitatibus«.
46. JOHANN cocHLÄus [dobneck, deutscher Humanist und Theo*
log, 1479—1552] zu Beginn seiner »historia [de actis et scriptis
Luthericis«].
47. jOACHiMUS scELERUS [?] in seiner Einführung in die Werke
des JUAN VON SEVILLA [spanischer Arzt des 15. Jahrhunderts].
48. JOHANNES CEREDUS [?] in scincmWerk »de aquarum elevatione«.
187
49. JOHANNES STADius [belgischer Mathematiker, 1527—1579]
in seinen »tabulae« und »ephemerides« [gemeint sind die
Schriften »tabulae aequabilis et apparentis motus corporum
coelestium« und »ephemerides astrologicae novae«].
50. Der Portugiese joaom de barros [Geschichtsschreiber, 1496 bis
1570] im vierten Kapitel der ersten Dekade seiner Geschichte
des östlichen Indiens [»quarta decada da Asia«].
51. JULIUS CAESAR SCALIGER [berühmter itaHenischer Arzt und Ge*
lehrter, 1494—1558] in seiner Schrift »exotericarum exercita*
tionum lib. XV. de subtilitate ad Hieronymum Cardanum«].
52. jACCLUES CHARPENTiER [französischcr Arzt und Philosoph, 1524
bis 1574] in seiner »epistola in Alcinoum«].
53. [giovanni FiLipPo]iNGRASSiAs[sizilianischerArzt, 1510— 1580]
in seinem Buch »de tumoribus [praeter naturam«].
54. Der »liber aggregatus de aquis«.
55. Der »liber aggregatus primus de Gallica seu Indica lue«.
56. LiviN LEMMENS [niederländischer Naturforscher und Philosoph,
1505—1568] in seinem Buch »de naturae secretis« [gemeint ist
wohl »de occultis naturae miraculis«].
57. LAURENTius DAMiATA in Seiner noch nicht herausgegebenen
Geographie [?].
58. LEO suAvius [jACQUES GOHARY LE SOLITAIRE, französischcr Na*
turforscher, Historiker und Dichter, gestorben 1 576] in seinem
Werk »de arsenico et auripygmento«.
59. LUCA GAURico [italienischer Mathematiker und Astrolog, 1476
bis 1558] in seinem Nativitätenbuch [gemeint ist wahrschein*
hch der »tractatusastrologicus«], freilich inmißgünstigerWeise.
60. MATTHÄUS ABEL in Seinem Buch »de situ orbis«.
61. MARTiNUS HENRicus in Seinen »quaestiones medicae« und zwar
an verschiedenen Stellen.
62. [pHiLipp] MELANCHTHON [der berühmte deutsche Reformator,
1497—1560] in der Einleitung zu seiner Schrift »doctrinae
physicae elementa«.
63. MELCHIOR WIELAND, ein Preuße [gestorben 1589].
64. MICHAEL SEiFELius [sTiFEL 1487—1567?] in seiner Arithmetik.
65. MICHAEL [raffaelle] bombelli [italienischer Algebraist des
16. Jahrhunderts] in seiner Algebra.
188
66. niccolÖ tartaglia[s. o. S. 165],der übel über mich redete und
dann in Mailand gezwungen wurde, einen Widerruf zu blasen.
67. [guillaume] PHiLANDRiER[französischerGelehrter, 1 505— 1 565]
in seinen »annotationes in Vitruvium«.
68. PIERRE PENA [französischer Arzt des 16. Jahrhunderts] und
MATTHIAS DE LOBEL [französischer Botaniker, 1538 — 1616] in
ihrem Werke »stirpium adversaria nova« in dem Kapitel »de
hora et antithora« [?].
69. REINER SOLENANDER [deutscher Arzt, 1524 — 1601] in seiner
Schrift von den warmen Wassern [»tractatus de causa caloris
fontium medicatorum eorumque temperatione«].
70. SEVERiNus BEBELius im Zweiten Buch der Schrift »de succino«.
7 1 . TADDEO DUNO [italienischer Arzt, 1 523— 1 60 1 ] in seinem haupt#
sächlichen Werke [in der Schrift »de calendis, nonis et idibus et
de arte supputandi« oder in dem Buch »muliebrium morborum
omnis generis remedia . . .«].
72. VALENTIN NAiBOD aus Köln [Mathematiker des 16. Jahrhun*
derts] in seinem »commentarius in Alchabitium«.
73. VAREUS in seiner »materna poesis« [?].
Auch von mehreren anderen, deren Namen ich mich gerade nicht
entsinne, weiß ich, daß sie meinen Namen in ihren Werken öffent*
lieh zitiert haben. Von denen, die schlecht von mir geredet haben,
wüßte ich keinen, der auch nur über die Grammatik hinausgekom*
men wäre, und es ist mir unbegreiflich, mit welcher Kühnheit sie
sich unter die Gelehrten zählen. Ich meine nämlich brodeau,
RONDELET, FUCHS, BORREL, CHARPENTIER, TURNEBE, DE FOIX Und TAR*
TAGLiA. Denn scaliger, duno, ingrassias, gaurico und sole#
NANDER haben mir nur widersprochen, um sich dadurch selbst
einen Namen zu machen.
Doch ich will noch einige andere Urteile anführen, denn was die
Schriften anlangt, so sind ja ohne Zweifel ein galen oder viel*
leicht auch ein Aristoteles kaum so oft zu ihren Lebzeiten zitiert
worden, wenn ich nicht hierin etwa aus der Buchdruckerkunst
Nutzen gezogen habe. Ich nenne zuerst den andrea alciati [mai#
ländischer Rechtsgelehrter, 1452— 1 550] und zwar mit Ehren, denn
er pflegte mich den »Mann der Erfindungen« zu nennen; täglich
blätterte er in meinen Büchern, namentlich in denen, die »de con*
189
solatione« betitelt sind, ambrogio cavenega, der erste Leibarzt
des Kaisers, nannte mich den »Mann der Arbeit«, juuus caesar
SCALIGER hat mir mehr Ehrentitel verliehen, als ich je selbst ge#
fordert hätte; er nannte mich das »tiefste, glücklichste und unver«
gleichliche Genie«. Und obwohl soviel Neid mich verfolgte, ver*
mochte es doch niemand zu verhindern, daß mein Name in allen
öffentlichen Vorlesungen genannt wurde, zu Bologna, Pavia und
anderswo, angelo candiani und bartolommeo urbina, zwei be^:
deutende Männer und hochangesehene Ärzte — o wie oft hat man
sie angetroffen (und sie machten gar kein Hehl daraus), wie sie
meine Bücher in Händen hatten, obwohl sie mir durchaus nicht
sehr freundlich gesinnt waren.
Doch ich will nunmehr ein Ende machen, man möchte sonst
glauben, ich jage dem nichtigen Schatten eines Traumes nach.
Denn alles Irdische ist eitel und das Lob der Menschen ist durch*
aus wertlos.
Neunundvierzigstes Kapitel
MEINE MEINUNG ÜBER DIE DINGE DIESER WELT
Zwei Gründe sind es vor allem, warum die Sterblichen so sehr
unglücklich sind. Während doch alles Irdische eitel Tand und
Dunst ist, sucht der Mensch noch immer etwas, das vollkommen
und von Dauer sei. Und jeder einzelne glaubt, dieses wahre, volle
Gut entbehren zu müssen: der Kranke die Gesundheit, der Arme
den Reichtum, der Kinderlose seine Familie, der Unglückhche die
Freundschaft. Und wenn er nun diesem Gut nachjagt und es nicht
findet, so quält er sich in Trauer und Kummer; noch viel mehr
aber quält es ihn, wenn er das Ersehnte gefunden, denn dann
sieht er ein, daß er betrogen, und sucht nach einem anderen Glück ;
denn immer fehlt dem Menschen irgend etwas. So jammerte au#
GUSTUS einst, daß ihm Freunde fehlten, und klagte über die Un*
keuschheit in seiner Familie. Alle diese Leute betrügen sich selbst.
— Ein anderer Grund ist der, daß viele zu wissen glauben, was
sie doch nicht wissen ; auch diese betrügen sich selbst und betrügen
andere dazu. Wieder andere heucheln dies Wissen nur; auch diese
betrügen die andern. Und zu all diesem Ungemach kommt noch
190
ein Doppeltes, das von äußeren Zufälligkeiten abhängig ist. Das
eine sind die mißlichen Verhältnisse, denen du ausgesetzt bist,
wenn du zu Zeiten und in einem Lande lebst, wo der Staat durch
völlig verdrehte Gesetze Schiffbruch leidet. Widerstand leisten zu
wollen, wäre in diesem Falle überaus schwer, brächte Angst und
Sorgen mit sich und wäre durchaus töricht und verfehlt. Nicht
weniger schwer und nicht weniger gefährlich wäre es, solchen
trüben Verhältnissen aus dem Wege gehen zu wollen; denn alles
Hab und Gut hängt in seinem Bestand ab vom öffentlichen Un*
glück. Die andere vom Zufall beherrschte Mißlichkeit ist jenes
unsichere Hin und Her, worin unser ganzes kurzes Leben sich
abspielt. Es ist der Grund, daß die meisten von uns in Arbeit und
Mühsal sterben und andere an ihrer Stelle den Gewinst einstrei?
chen. So ist das Leben für uns alle ein schweres, am schwersten
ist es für die alten und für die wenig vorsichtigen Leute ; ganz
unmöglich wird es für die Unerfahrenen und für die, die nicht
verstehen, die Augen offen zu halten. Und noch viel schlechter
wird dies Leben durch die Dummheit der andern, die ja dann,
wenn sie mit der Unwissenheit zusammentrifft, auch die Gott*
losen für sich und für die andern noch schlechter macht. Um
all solchem Unglück leichter zu begegnen, tun sich manche zu
Verbänden zusammen. Andere greifen zu anderen Mittel. Fürs
erste halten sie sich Gott und den Tod vor Augen, jenen als den,
der nie trügt, diesen als das äußerste und letzte aller Übel, das
uns lehrt, alles andere zu verachten, das einzig Sichere auf Erden,
das für uns alle einmal jedem Unglück ein Ende machen wird. Ein
zweites Mittel ist, auf mehrere Dinge zugleich deine Existenz zu
stützen, so daß du, wenn das eine zugrunde geht, nicht fallest noch
der Sklave deiner Verhältnisse werdest. Drittens sollst du die Dinge
nicht nach ihrer Quantität, sondern nach ihrer Qualität beurteilen.
Denn wisse, daß die kleinen Anfänge großer Dinge jenen großen
Dingen vorzuziehen sind, die ihrem Wesen nach geringeren Wert
besitzen. Ferner darfst du, wenn du mehrerer Dinge bedarfst und
doch nicht alle zugleich zum guten Ziele führen kannst, dich an
keines von ihnen allzusehr hängen, sondern nur, soweit es nötig
und dir von sicherem Vorteil ist. Ebenso darfst du auch nicht alles
Guten auf gleiche Weise dich bedienen, sondern jedes einzelnen
191
nach Verhältnis und Maß. Achte vor allem auf die Tugend, die
keiner fremden Hilfe bedarf, und auf jene Mittel, die allen dien*
lieh sind. Sechstens vermag bei Kindern auch die Erziehung nach
dieser Seite hin sehr viel auszurichten. Wenn nun aber von all dem
nichts geholfen hat, wenn etwa deine Kinder von Natur böse oder
dumm oder in ihrem wilden Freiheitsdrang allzu widerspenstig,
vielleicht sogar geistig schon zu weit vorgerückt, zu träge und nicht
mehr zu bilden sind, und wenn du etwa nur ein einziges Kind hast
und selber schon ein Greis bist, so ist dir das größte aller Übel zu?
teil geworden, vollends wenn du noch Armut und ewigen Zank
dazu nimmst, Vermögensverluste und schlechte Zeiten. (Siehe, all
dies, das letzte ausgenommen, trifft heute auf mich zu!) Aber auch
dann sage ich dir, es gibt noch Trost und Hilfe, neben all dem
schon Gesagten. Einmal magst du bedenken, daß du noch mehr
Armut littest, wenn dir gar nichts geblieben wäre. Und sodann
rate ich dir, schleunigst hinzugehen und dir unter deinen Bekann?
ten einen scipio als Schwiegersohn oder Vetter zu finden. Schließ?
lieh ist ja nicht nötig, auch darin einen Irrtum zu begehen. Und so
magst du dann, wie ein Neugeborener nach soviel Torheiten, dich
ganz dieser Aufgabe widmen.
Und um mit dieser Sache zu schnellem Schluß zu kommen: sind
schon so alle irdischen Dinge verschwindend klein und von ge?
ringem Wert, so ist außerdem alles, was mit lässig betriebenen
Handlungen zu tun hat, im höchsten Grade von augenblicklichen
Zufälligkeiten abhängig. Bei mir besonders ist dies der Fall; eine
Reihe von Beispielen dafür könnte ich anführen, ein einziges mag
deutlich genug sprechen: Es war im Jahre 1562, wenn ich mich
nicht täusche, am 17. Oktober; ich war gerade in Mailand und
eben im Begriff, nach Bologna zu reisen. Ungefähr sechs Tage vor?
herhatte der Riemen, womit ich die Hosen mit dem Brustlatz zu?
sammenschnürte, seine Messingkappe verloren. Ich schenkte dem
umsoweniger Beachtung, als eine Menge Geschäfte mich in An?
Spruch nahmen. Zufällig waren aber am Tag, ehe die Messing?
spitze verloren ging, sechs Bündel solcher Riemen, die ich nach
Bologna mitnehmen wollte, gekauft worden. Tag und Stunde der
Abreise waren gekommen. In dem Augenblick, da ich den Wagen
besteigen will, kommt mir der Drang, mein Wasser abzuschlagen,
192
Ich verrichte das Geschäft, doch als ich die Hosen wieder fest*
binden will, geht der Riemen der fehlenden Messingkappe wegen
nicht durch die Ösen. Voll Ärger über die lästige Verzögerung
laufe ich nacheinander in die Kaufläden, die um mein Haus stan*
den — drei, wenn ich mich nicht täusche, waren in der Nähe, —
mir einen neuen Riemen zu kaufen. Nirgends ist einer zu finden.
Und wie ich nun überlege, was zu tun sei, fallen mir die sechs
gekauften Bündel ein. Ich bitte meinen Schwiegersohn um den
Schlüssel, er bringt ihn, ich öffne den großen Reisekoffer, dessen
Schloß nach deutscher Art sehr schwer und nur durch einen Kunst*
griff zu öffnen war, ich sehe die Riemenbündel und siehe — mit
einem Male merke ich auch, daß der ganze Haufe meiner selbst*
verfaßten Bücher im gleichen Koffer verborgen lag, so daß ich
sie nun gleich mit mir auf die Reise nehmen konnte.
»Staunen faßt' mich, es stand mir zu Berge das Haar, und die Stimme
Klebt' mir am Gaumen.«
Ich nehme also die Bücher zu mir, bringe sie mit nach Bologna,
beginne dort meine Vorlesungen. Anfang Dezember kommt ein
Brief, der große Reisekoffer sei bei Nacht aufgebrochen und der
ganze Inhalt ausgeraubt worden. Wäre die Sache mit dem Riemen
nicht gewesen, so hätte ich meine Bücher nicht bei mir gehabt,
hätte meine Vorlesungen nicht halten können, hätte mein Lehramt
verloren und betteln müssen, die Bücher, mein ganzes Lebenswerk,
wären vernichtet gewesen, und ich selbst wäre wohl aus Trauer
darüber bald gestorben. Und all dies hing von der einen Zufällig*
keit, der fehlenden Messingkappe, ab! O Menschenleben! Mens
schenelend!
— Um die verschiedenen Charaktereigenschaften des Menschen,
das Wesen und die letzten Ziele, ihre gesellschaftlichen Einrieb*
tungen kennen zu lernen, wirst du ihre natürliche Anlagen, ihre
Gesetze und Gewohnheiten beobachten. Dann wirst du feststellen,
daß die Ungebildeten einfältig und halsstarrig sind. Woraus sich
erklärt, daß sie sich stets zwischen den Extremen bewegen; sind
sie gut, so sind sie gleich sehr gut, denn sie lassen sich nicht leicht
zu Bösem verführen; sind sie schlecht, so sind sie gleich ganz
schlecht, denn mit Vernunft ist bei ihnen nichts auszurichten, und
keine Überredungskunst vermag sie zu bewegen. In Sachen des
13 Cardano
193
geschlechtlichen Lebens sind sie durchaus zügellos, und ungemein
häßlich, wenn sie sich den Genüssen des Gaumens hingeben. Im
Zorn sind sie furchtbar in ihrer Maßlosigkeit; und die Armen
sündigen stets mehr aus Habsucht, die Reichen aus Ehrgeiz. Im
ganzen aber sind sie alle träge, stumpfsinnig, mißgünstig und als
solche bösartig und auch geizig. Leben solche Leute unter der Herr*
Schaft eines Tyrannen, so richten die Mächtigen ihr ganzes Augen*
merk darauf, fremdes Gut an sich zu raffen, die Armen, ihr eige#
nes sicher zu behalten; überall herrscht dann Habsucht, keine
Liebe, keine Treue, kein Erbarmen. Kühnheit und Zorn machen
die Menschen grausam, die Trägheit macht sie gemein und nieder*
trächtig, vor allem, wenn sie mit den Lüsten des Geschlechts und
des Gaumens verbunden ist. Arbeitsam werden sie nur unter dem
Druck der Not oder aus Gewohnheit, dann aber weicht ihre
Geistesarmut einer gewissen Erfindungskraft und Begabung. Wenn
die Gesetze den Bürger von den Wissenschaften fernhalten, wenn
das Handwerk geehrt ist und der gesunde Ehrgeiz Raum zur Ent*
faltung seiner Kraft hat, wie es unter einem Optimatenregime der
Fall zu sein pflegt, dann blühen Handwerk und künstlerisches
Gewerbe auf, vor allem, wenn der Boden an den mannigfaltigsten
natürlichen Schätzen reich ist. In einer Republik aber und überall,
wo nur das Streben nach Macht und Reichtum herrscht, wird auf
keinerlei Weise für diese bürgerliche Ehre gesorgt. —
Ich habe vorhin ein Beispiel als Beleg für das Gesagte angeführt,
nun will ich noch ein Erlebnis erzählen, wie es tausendmal vor*
kommen mag. Du lachst vielleicht darüber, und doch, so wenig
entscheidet oft über Leben und Todl Es ist mir dies heute begeg*
net, am 28. April des Jahres 1 576. Ich will nach dem Forum fahren ;
und da ich unterwegs einen Juwelier, der in einer für den Wagen
zu engen Gasse wohnte, besuchen will, steige ich aus und sage
meinem Kutscher, einem stumpfsinnigen Menschen, er solle indes
zum Campo Altovitaro fahren und mich dort erwarten. Er sagte
ja, er werde dorthin fahren, versteht aber etwas anderes und be*
gibt sich irrtümlicherweise dorthin. Ich komme nun zur verab*
redeten Stelle und finde ihn nicht. Ich denke, er ist vielleicht zum
Platz bei der Burgwache gefahren und begebe mich dorthin, mit
Kleidern beladen, da ich ja vorher im Wagen gefahren war [siehe
194
auch oben S. 21]. Unterwegs begegne ich dem Musiker vincenzo
aus Bologna, meinem Freund, der sieht, daß ich ohne Wagen bin.
Ich gehe weiter und komme nun vor die Burgwache, finde aber
auch hier Wagen und Kutscher nicht. Nun befällt mich sofort die
größte Sorge und Unruhe, denn nun mußte ich ja wieder über
die Brücke nach der Stadt zurückgehen, abgehetzt und müde,
nüchtern und hungrig, in Schweiß gebadet. Ich hätte nun zwar
vom Kommandanten der Engelsburg einen Wagen erhalten kön*
nen, aber auch dann drohten mir noch viele Fährlichkeiten.
So befehle ich mich denn in Gottes Hände und sage mir, daß nun
Klugheit und Geduld vonnöten sind. Ich gehe also wieder über
die Brücke zurück, in der festen Absicht, weder zu ermüden noch
auszuruhen. Aber wie ich am anderen Ende der Brücke bin, be*
gebe ich mich nun doch zum Bankier altovito, unter demVorwand,
wegen des Umwechseins neapolitanischen Geldes etwas zu fragen,
was ich zu wissen wünschte. So kam ich doch wenigstens zum Sitzen.
Der Bankier gibt mir gern Auskunft, inzwischen aber sehe ich
den Kommandanten vorbeikommen, stehe deshalb sofort auf, gehe
auf den Platz hinaus und sehe nun mit einem Male dort meinen
Wagen stehen. Der Freund, den ich unterwegs getroffen hatte,
war nämlich auf ihn gestoßen und hatte den Kutscher hierher*
gewiesen. Ich besteige den Wagen, bin aber noch ungewiß, ob
ich des Hungers wegen nach Hause fahren oder meine Fahrt fortü
setzen solle. Da finde ich in der Tasche drei große Zibeben, und
so konnte ich denn meine vorhabenden Besorgungen in aller Sicher*
heit und mit Vergnügen ausführen.
Da siehst du nun, wieviel einzelne Zufälligkeiten hier zusammen*
wirken mußten: meine Begegnung mit vincenzo, dann dessen Be*^
gegnung mit meinem Kutscher, mein Entschluß, zum Bankier zu
gehen, sodann der Umstand, daß dieser gerade freie Zeit für mich
hatte, das Vorübergehen des Kommandanten, infolge davon wieder
mein Verlassen des Hauses, wobei ich den Kutscher traf, und end*
lieh jene kretischen Traubenbeeren. Dies sind sieben Einzelheiten.
Und wäre auch nur eine einzige dieser sieben Einzelheiten etwas
früher oder etwas später eingetreten, etwa um soviel, als man an
Zeit nötig hat, zwei Worte zu sprechen, so wäre ich vielleicht um*
gekommen oder hätte doch wenigstens die größten Unbequem*
13* 195
lichkeiten und Unannehmlichkeiten gehabt. Ich leugne nicht, daß
auch anderen Leuten mitunter solche Dinge zustoßen mögen; aber
dann sind sie sicher nicht so ganz auf den Zufall aufgebaut, so
voll von großen Fährnissen und so ganz überladen mit peinlichen
Einzelheiten, die vielleicht ein anderer gar nicht empfinden würde.
Fünfzigstes Kapitel
REDENSARTEN, DIE ICH IM MUNDE FÜHRE,
FERNERHIN BEOBACHTUNGEN UND LEBENS.
REGELN. ZURÜCKWEISUNG EINER FALSCHEN
ANSICHT. TOTENKLAGE AUF MEINEN SOHN.
EIN DIALOG ÜBER DEN WERT DIESER AUF*
ZEICHNUNGEN
Stets sind solche Dinge zu tun, deren Erinnerung dir nie im
Leben Reue bereiten wird; solche, die auszuführen dich die
Fähigkeit früher als der Wille verläßt; solche endlich, deren Ge*
dächtnis dir einst Beruhigung gönnen wird. Besser ist es auch
immer, nur solches zu tun, wobei keinerlei wichtige Sorge außer
Acht gelassen wird.
Wenn du zwischen zwei notwendigen Übeln zu wählen hast, so
ziehe das vor, das bei längerem Gebrauch am wenigsten Nach*
teil bringt.
Sache eines Ehrenmannes ist es, wie soranus sagt, anzunehmen,
wo etwas angeboten, und nichts zu verlangen, wo nicht gern ge#
geben wird.
In kritischer Lage wähle stets den von Natur aus bequemeren
Weg. Du wirst den größten Nutzen davon haben; denn wählst
du den besseren und stärkeren, so wird dir dadurch nur der Rück*
zug schwer, du wirst hilflos in deiner mißlichen Lage bleiben und
dabei keine sehr gute Figur machen.
Wer bei seinem Tun auf keine Gründe hören will, ist nicht besser
als ein Vieh. Entweder verdient er, Prügel zu bekommen, oder,
daß du dich von ihm trennest. Denn wisse, es ist ein Vorzug
des Menschen, sein Tun mit vernünftiger Rede zu begleiten und
zu fördern.
196
Pedantische, ungefügige, plumpe und energielose Leute scheinen
in manchen wichtigen Geschäften nicht ganz so unnütz zu sein,
wie oft in vielen anderen; aber gerade darum sind sie noch mehr
zu fliehen als alle anderen.
Den Mächtigen dieser Erde gegenüber darfst du, wobei du noch
den Schein der Bescheidenheit wahrst, stets sagen: »Entweder ihr
habt mir Unrecht getan, oder aber jedenfalls habe ich über er*
littenes Unrecht zu klagen.« Und deinen Verwandten, die dich
beerben werden : »Wollt ihr nicht auch nach meinem Tode so sorg*
sam über mein Vermögen wachen?« In beiden Fällen nämlich
wirst du sie an ihrem wunden Punkte treffen.
Einem, der mir die geringe Zahl meiner Schüler vorhielt, gab ich
zur Antwort, ein donatus [berühmter römischer Grammatiker]^
sei eben immer mehr gesucht als ein vergil. Und einem anderen,
der mir einmal sagte, ich stünde mit meiner Ansicht allein, er?
widerte ich, um so höher stehe ich, gleich dem Einhorn, im Wert.
Ein Rechtsgelehrter hielt mir einst die geringe Zahl meiner Hörer
vor. Ich gab ihm zur Antwort: »Manche Schüler verschaffen ihrem
Lehrer Ehre durch ihre Anwesenheit, andere viel mehr durch ihre
Abwesenheit.«
Einem Arzt, der sich rühmte, mehr Kranke zu haben als ich, er#
widerte ich: »Nicht daraufkommt es an; viel wichtiger ist die
Frage, ob von deinen Patienten mehr geheilt werden als von den
meinen.« Und einem anderen gab ich die schärfere Antwort:
»Höchst schmählich ist es, daß soviele unter deinen Händen ster#
ben müssen.«
Einem jungen Menschen, den ich von schlechter Gesellschaft ab*
mahnen wollte, sagte ich, es sei mir ein Leichtes, ihm einen Apfel
zu zeigen, den ein Haufe schlechter Apfel verdorben; ihm aber
werde es sehr schwer fallen, mir einen Haufen schlechter Äpfel
zu zeigen, der einen einzelnen verdorbenen wieder besser gemacht
habe.
Hielt man mir vor, daß ich soviele Knaben in meinem Hause
* DONATUS hieß man im ausgehenden Mittelalter jede Grammatik. — Der
Sinn der Antwort ist der: die Schüler laufen gewöhnlich dem Lehrer nach,
der die geringsten Anforderungen an ihr Verständnis stellt, und meiden
den geistig anspruchsvolleren.
197
aufzöge, so gab ich zur Antwort: »Ich habe ein doppeltes Ver:^
dienst daran ; erstens tue ich ein gutes Werk, und zweitens komme
ich dafür auch noch in schlechten Ruf.«
Die Weisheit muß man wie andere Kostbarkeiten tief aus dem
Schoß der Erde graben.
Zog einer einen Vergleich zwischen mir und anderen Gelehrten,
so hielt ich ihm wohl das Wort vergils entgegen:
»Wie? und sollte er gar im Wettsang mit Phöbus bestehen?«
Oft stellte ich den Satz auf, einzig und allein und soviel wie mög*
lieh solle stets darüber eine Betrachtung angestellt werden: was
ist das Größere? was das Kleinere?
Ein großes Zeichen von Weisheit ist es, einen guten Freund
zu haben.
Hielt mir einer mein hohes Alter vor, pflegte ich zu sagen: »Alt
ist nur, wen Gott verlassen hat.«
Bist du in Not, so werden die, die deine Freunde sind, dir helfen,
deine Schmeichler nur dir guten Rat geben.
Ein Übel ist durch ein Gutes, nicht durch ein anderes Übel zu
heilen.
Ich weiß, daß die Seele unsterblich ist; wie dies sein wird, weiß
ich nicht.
Mehr verdanke ich schlechten Ärzten, die meine Feinde zugrunde
richteten, als guten, und wären diese mir noch so freundlich ge::
sinnt.
Als man mir einmal vorwarf, ich hätte mich, da ich in einer Ge*
Seilschaft von schlechten und unerfahrenen Menschen etwas vor*
hersagen wollte, geirrt, gab ich zur Antwort: »Es wäre doch sonder*
bar, wenn ich in solcher Gesellschaft richtig hätte weissagen, noch
überhaupt etwas Gutes hätte tun können.«
Wenn du etwas unternehmen willst, so denke daran, in welcher
Lage du dich befinden wirst, wenn die Sache geschehen ist, mag
sie nun gelingen oder nicht.
Ein trefflicher Mann soll dort leben, wo der Fürst thront.
Eure Freunde nehmt stets mit heiterer Miene auf, denn sie ver#
dienen es; eure Feinde aber so, daß ihr die Überlegenen seid.
Leute, die Bücher schreiben ohne die Fähigkeit dazu zu haben,
gleichen denen, die schwer verdauliche Speisen verschlingen:
198
einer kleinen Gaumenlust wegen nehmen sie die übelsten Magen*
Beschwerden auf sich.
Rechne stets damit, daß die Menschen nur solange treu sind, als
es ihr Vorteil will, es sei denn, daß sie ihrem Charakter nach
durchaus über die Sache erhaben wären.
Bei allem menschlichen Tun ist es die größte Aufgabe, Ziel und
Ende zu finden.
Die besten Menschen ziehen sich heutzutage, weil sie nämlich ein*
zig und allein am Gegenwärtigen und am Greifbaren kleben, den
Vorwurf der Pflichtvergessenheit, der Undankbarkeit und der
geistigen Beschränktheit zu. [?]
Als ich einst einen Diener wegjagte, sagte ich ihm: »Du genügst
zwar mir, ich aber nicht dir, darum siehst du dich gezwungen,
mich zu verlassen.«
Jemand sagte mir einst : »Warum sind denn deine Söhne so töricht,
da du doch so weise bist?« — »Eben weil ich nicht so weise bin,
als sie töricht.«
Vom Glück begünstigte Leute gleichen Knaben, die über die
Stufen der Treppe herunterspringen; je mehr Stufen einer über*
springen kann, desto lustiger ist er, und doch muß er dabei mit
stets wachsender Gefahr und größer werdendem möglichem Ver*
lust rechnen.
Besser ist es, hundertmal nicht zu reden, wenn man hätte reden
sollen, als einmal zu reden, wo man hätte schweigen sollen.
Man soll die Knaben immer dazu anhalten, rasche Antworten zu
geben; denn wenn sie auf das Gefragte nicht leicht und kurz ant*
Worten, vergessen sie darüber alles andere.
Als mich einmal einer frug, was man denn in Rom treibe, sagte
ich: »Das, was sich eben für die Herrin aller Städte und allen
menschlichen Daseins schickt.«
»Du warst einmal im Gefängnis?« frug mich einer. »Willst du
auch hingehen?« frug ich ihn wieder. Und einem anderen, etwas
blöderen Frager gab ich die deutlichere Antwort: »Was hast du
denn angestellt, daß du Furcht hast, hineinzukommen?«
Man sollte nichts in seine Bücher hineinsetzen, was nicht abge*
schlössen oder in keiner Weise lesenswert ist.
Wenn du irgend etwas Boshaft ^Witziges sagen willst, so mußt
199
du eine dicke Haut haben; wenn du solches hörst, so glaube, sie
zu haben. [?]
Beim praktischen Arbeiten ist es anders als beim wissenschafthch*
theoretischen; hier genügt nicht ein allgemeines begriffliches
Wissen, sondern nur die konkrete, gegenständliche Kenntnis. Wir
können zwar einem Kranken, der am Tertianfieber leidet, durch
eine Dosis Rhabarber auch dann helfen, wenn wir über die nötige
Quantität keine exakte Kenntnis haben; aber es ist im allgemeinen
immer besser zu schweigen oder einen Kranken gar nicht zu be#
suchen, solange man sich über die Art der notwendigen Behand*
lung im wesentlichen unklar ist.
Die Tränen sind die Arznei gegen den Schmerz, der Zorn oder
noch mehr der äußere Zwang die gegen das Mitleid; die Praxis
hat dies jederzeit bestätigt. Im allgemeinen aber ist es immer gut,
bei allem etwas Zeit verstreichen zu lassen.
Wenn es sich um deine eigene Sache handelt, so setze keck auf
jedes Laster, das dir entgegentritt, ein anderes; auf Stumpfsinn antü
Worte mit Händelsucht und streitbarer Geschäftigkeit, auf Hart*
näckigkeit mit heftigem Zorn, auf Hochmut mit offener Beleidi:=
gung und mit Gewalttätigkeit, und schlage lieber mit Fäusten
drein, als daß du viele Worte machest. Wenn du mit Mächtigen
zu tun hast, so wähle dir die Rücksichtslosigkeit zum Boten. [?]
Wenn du dich waschen willst, so halte zuvor ein Tuch bereit, dich
abzutrocknen.
Willst du ein altes Weib zur Magd nehmen, so frage sie zuerst,
ob sie nähen, waschen, backen könne; dann lasse sie vor deinen
Augen gehen und heiße sie, Feuer zünden. Auch tust du gut, zu
klagen, man müsse dir Wein gestohlen haben, und sie zu fragen,
ob sie Verwandte habe (und zwar so, als bedürftest du dieser)
und Freunde, und wie sie dazu gekommen sei, ihren früheren
Herrn zu verlassen; und wie viel Männer und wie viel Kinder sie
gehabt habe. Und dann dinge sie ja nicht, jedenfalls aber triff
gleich gute Vorsichtsmaßregeln.
Beim Schwatzen ist Schnelligkeit stets vom Übel, beim Handeln
ist sie mitunter notwendig; beim Nachdenken und Überlegen
aber sei weder zu langsam noch zu rasch.
Verlange nie, was von rechtswegen einem anderen, namentlich
200
wenn es einem Herrn gehört. Und was dir gehört, das verlange
nicht vertragsmäßig zugesichert zu bekommen, sondern gebrauche
es gleich nach deiner Willkür, bescheiden und mit Maß freilich.
Bist du in Gesellschaft, so sage nie, was du denkst, sondern achte
vielmehr darauf, stets auch zu empfangen, wo du gibst. [?]
Da Gott in der Ewigkeit wirkt, bildet die Zeit nur seinen Schatten;
aber auch so ist sie, des Wechsels wegen, nur ein Unvollkom;;
menes.
Bei gefährlichen Dingen und wo irgendwelche Schikanen drohen,
ist es immer besser, unbeteiligt zu bleiben, einmal schon der Sache
wegen, dann auch deinetwegen, wenn du nämlich deiner Sache
nicht ganz sicher bist und dein Sprüchlein nicht wirst absolvieren
können. Auf diesem Gebiet sündigen viele, die sich überall ein*
mischen, weil sie nämlich allzu gierig auf den Ruhm bedacht sind,
alles zu wissen und bei allem dabei gewesen zu sein.
Hüte dich, deine Sache je in die Hände eines Mannes zu geben,
der dir freundlich tut. Er mißbraucht sie. Und verlangst du sie
zurück, so ist die Gefahr nahe, daß du mit ihm in Streit und Feinds
Schaft gerätst. Jedenfalls aber hast du dich von ihm abhängig ge*
macht.
Sorge dafür, daß ein Buch der praktischen Nutzbarkeit Genüge
tut und diese wieder das Buch formt und beherrscht. Nur ein
solches und kein anderes Buch ist vollkommen.
Sagte mir einer : »Ich habe Mitleid mit dir«, so gab ich ihm zur Ant#
wort: »Mit Unrecht.«
Das Böse ist nur ein Fehlen des Guten, das Gute aber hat eigenes
Sein und Wesen; es ist eine bestimmte Fähigkeit, die in unserer
Macht liegt und in gewissem Sinne Bedürfnis ist.
Wenn du Reichtümer, Kinder, Freunde nie besessen hast, aber
anderes besitzest, so bist du noch immer glücklich; wenn dir aber
auch alle anderen Güter fehlen, so wirst du auch damit bald fertig
werden.
Viele Künste gibt es, eine aber ist die Kunst aller Künste: mit
Hilfe der klaren Grundbegriffe so sprechen zu können, daß man
mit wenigen Worten viel, daß man dunkle Dinge deutlich, von
ungewissen Dingen das Gewisse zu sagen weiß. Dreierlei aber
ist dazu nötig: einmal, daß alle diese Grundbegriffe einheitlich
201
gefaßt und aufeinander eingestellt sind, sodann, daß man klar den
Inhalt der Begriffe feststellt und Fremdes ausscheidet, und endlich,
daß man die einzelnen Begriffe streng und genau nur innerhalb
ihres eigenen Gebietes anwendet. Das hat Aristoteles außer Acht
gelassen; das dürftige wissenschaftliche Material seiner Zeit mag
die Schuld daran tragen. — Dabei ist nicht zu vergessen, daß man
auch auf die Zierlichkeit der äußeren Form einiges geben darf,
wie zum Beispiel in der Geschichtsschreibung.
Mit Unrecht klagen die meisten Menschen darüber, daß die
Tüchtigkeit in der Sklaverei des Glückes stehe. Und ebenso
mit Unrecht meinen andere, sie sei die Herrin des Glückes, und
zitieren dafür Verse, die eines hochmütigen Menschen würdig
sind:
»Siegerin über das Glück ist die Weisheit. Wir aber sagen :
Denen auch lacht das Glück, die des Lebens Mühen und Lasten
Ruhig zu tragen gelernt usw.«
Ein doppelter Fehler liegt in dieser Auffassung: erstens ist die
Meinung irrig, daß die Weisheit — worunter diese unsere mensch*
liehe Weisheit zu verstehen ist, stärker sei als das Schicksal; er*
fahren wir doch täglich das gerade Gegenteil. Und dies letztere ist
durchaus verständlich. Das Schicksal nämlich wirft sich immer
ganz in die Wagschale und entfaltet in jedem einzelnen Fall alle
seine Kräfte, während wir immer nur einen kleinen, schwachen arm*
seligen Schößling dessen einzusetzen haben, was man die Weisheit
nennt. So ist zwar also das Schicksal gewiß nicht stärker als die
Weisheit, andererseits aber ist unsere Weisheit noch viel weniger
Siegerin über das Schicksal. Vielmehr ist zu sagen, daß das Schick*
sal durchaus jenseits der göttlichen Weisheit wirkt, ja nicht ein*
mal den Fuß dorthin zu setzen wagt, wo es auch nur riecht, daß
die göttliche Weisheit einmal vorübergegangen ist. Für irrig halte
ich auch die Worte des sterbenden brutus :
»Unheil birgt die Tugend, mit Worten nur weiß sie zu helfen.
Warum wandelt dein Tun nicht auf den Pfaden des Glücks?«
PLUTARCH führt zwar ein Wort des Antonius über brutus an, wo*
nach dieser allein den caesar nur aus reiner Ruhmbegierde, die
anderen ihn dagegen aus Neid erschlagen hätten. Dies mag aber
202
auch andere Gründe gehabt haben als die Gesinnung, die aus den
zitierten Versen spricht. Wir wissen ja aus den Briefen ciceros
an ATTicus, daß brutus über viele der damaligen Verhältnisse ver#
stimmt war und dann auch später über die Folgen seiner Tat das
größte Mißbehagen fühlte. Dies wäre aber unverständlich, wenn
der einzige Zweck seines Tuns der Ruhm gewesen wäre. Mit Un*
recht aber klagt brutus darüber, daß Antonius, der sein ganzes
Leben im Waffenhandwerk verbracht, vom Schicksal ihm vorge*
zogen worden sei, der in stiller Arbeit der Beredsamkeit sich ge*
widmet. Starker Männer Worte mögen ungehobelt und unge*
schliffen sein, ihr Empfinden und ihr Tun aber ist stark und kraft*
voll. Dies gilt auch gegenüber dem, was tacitus von nero sagt.
Es war also durchaus töricht von brutus, in seiner wildbewegten
Zeit Platz für die Tugend zu suchen. Man wird schon in einer
von Feinden umringten Stadt keinen glücklichen Menschen finden
können, wieviel weniger in einer Stadt, in der Empörung und
Aufruhr herrschen. Und auch gesetzt den Fall, das Glück liege
nicht im Schicksal, sondern in der Tugend begründet, so vermag
doch, wenn beide miteinander im Kampfe liegen, das Schicksal
mehr zu vereiteln, als die Tugend leisten kann.
Drei Dinge vor allem ändern den Charakter: das Alter, das Glück
und die Ehe — darum sei vorsichtig! — des weiteren auch der
Umgang mit Menschen. Nichts ist wertloser, als das glänzende
Eisen, solange nur die Hand es bearbeitet; erst wenn es unter den
Schlägen der Hämmer gelegen, bringt es dem Schmied Gewinn,
den andern Nutzen.
TRAUERGESANG AUF DEN TOD MEINES SOHNES
Ach, wer hat dich dem Vater entführt, du liebster der Söhne?
Gab es so hart ein Herz, dem greisen Haupte der Trauer
Vollgerütteltes Maß zu reichen? Du grausames Schicksal,
War es dir Lust, mir die fruchtverheißende Blüte zu brechen?
Sohn, nicht Calliope, nicht Apollo hat dich gerettet.
Weg drum mit Zither und Lied und mit den klingenden Rhythmen,
Die mir ums liebe Kind nur neue Tränen entlocken,
Denk' ich daran, wie auch er manch süßes Lied einst gesungen. —
Nützte dir nun dein medizinischer Lorbeer, dein reiches
Wissen und deines Latein so selt'ne, beredsame Kenntnis,
Wenn so schnell dir die Frucht der fleißigen Jahre dahin fährt?
203
Nützte es mir, dem spanischen Herzog, den vornehmen Bürgern
Heilend das Leben gerettet zu haben, wenn Bürger und Herzog
Ruhig durch Urteil und Spruch dem blutigen Beile dich opfern?
Hilflos steh' ich, du Liebster, mir schwinden die Sinne, gedenk' ich
Deines bittern Geschicks in stiller, einsamer Stunde.
Und mir ist es verwehrt, mit Tränen ein Büchlein zu füllen —
Grausame Welt, du nimmst mir den Sohn, und ich soll nicht weinen?
Weihte ich dafür der Asche, was ewigen Ruhm mir verheißen.
Daß man mich zwingt, zu deines Todes Unrecht zu schweigen?
Dein Verbrechen war nur, daß du die Gesetze umgehend
Unheil über dich nahmst nach der Alten schrecklichem Beispiel,
Sühntest mit eilender Hand der Ehebrecherin Sünden.
Künftig wird jeder in Ruhe und Lust unser Eh'bett besudeln.
Trifft die sühnende Hand des edlen Jünglings die Strafe.
Liebling, du schönstes Abbild dessen, was gut war am Vater!
Würdig dachte ich dich, des Lebens dich ewig zu freuen.
Doch dir war's nicht vergönnt. Es reißen empor zu den Sternen
Unerbittlich die Parzen, was glänzt auf der schmutzigen Erde.
Heil dir, Jüngling, adlig im stolzen Geist wie im Blute
Eifertest du, den Ruhm mit Ahn' und Vater zu teilen!
Doch der König ist fern, die sichere Hoffnung entschwunden,
Phöbus entzieht, es entzieht der Mond der Erde sein Leuchten,
Und kein blinkender Stern strahlt nieder vom heiteren Himmel,
Daß nur keiner das Haus, das mordgeschändete, sehe.
Wohin wend' ich den Schritt? Hat den zerstückelten Gliedern,
Ach, die Erde kein dürftiges Grab? Und blieb mir, mein Liebling,
Nichts sonst von dir zurück? Sieh', ich folgte dir über die Meere. —
Treffet doch mich, wenn ihr Mitleid habt. Grausame, und richtet
Alle Geschosse auf mich! Mich treffe zum ersten der Mordstahl!
Oder doch, himmlischer Vater, erbarme dich du des Gequälten,
Triff dies verhaßte Haupt und schicke hinab mich zum Orkus,
Soll ich nicht anders mir selbst das bittere Leben verkürzen.
War es denn so mit Arglist gemeint, als einstens dem Vater
Väterlich Glück verheißend erstrahlte? So wütet die Liebe?
Sie, ach, nahm mir den Sohn. Und du, glückselige Gattin,
Glücklich, daß du tot und diesen Jammer nicht schautest!
Du aber, Sohn, verzeih' ! Denn bitter rächt sich des Vaters
Schuld nun an dir: weil Herd und Heimat schnöd' ich verlassen,
Zahl' ich dem Vaterland heut' und dem Haß der Meinen die Sühne.
Tausendfach gäbe ich gern dem Tod die schuldige Seele —
Doch dem lebenden Auge erfüllt sich bitter das Schicksal!
Dir aber, herrlicher Sohn, dir lebe ein ruhmvoller Name
Stolz in ewige Zeit! Schon reicht er nach fernesten Ländern.
Sterben mußtest du uns, der ganzen Erde zu leben!
204
Wir alle sterben, einer wie der andere; was uns überlebt, wie
HORAZ einmal sagt, das ist nur der herrliche Ruhm, ein wür#
diger Herold und ein heiliger Sänger unserer Trefflichkeit. Darum
wünschte sich Alexander einen homer. Denn in der Geschichte ver#
dunkeln neue glänzende Taten den Ruhm der Ahnen. Die Dichter
freilich fabulieren nur, und so verfallen sie durch sich selbst der Ver#
achtung. Ein großes Wunder ist es, daß horaz auch ohne Ge*
Schichtsschreibung zu hoffen wagte, seinen Namen kommenden
Jahrhunderten zu erhalten. Denn nur auf demWege der Geschichte
war es ja möglich, spätere Menschen zu ergötzen, wie er es selbst
für seine Aufgabe hält:
»Spaß zu bereiten dem Leser, ihn gleicherweise zu bessern.« —
Aber was einem andern geschadet hätte, der rasche Zerfall der
Reinheit der lateinischen Sprache, das ward dem horaz zum
Heil : der außerordentlich seltenen sprachlichen Reinheit wegen war
er um so begehrenswerter. Notwendig ist also, daß eine herrliche
und berühmte Sache in ihrer Wirkung bestehen bleibe ; daß sie in
einem historischenWerke festgehalten und dazu von einem Dichter
in poetischer Weise ausgestaltet werde, denn eine bloße Anfüh*
rung der Tatsache würde die Sache nicht reizvoll genug machen;
wie es ja auch heißt [horaz, ars. poet. 323]:
». . . den Griechen gab es die Muse,
Mit voUtönendem Munde zu reden.«
Ferner, daß dieser Dichter Würde genug habe, diese schmücken*
den Fabeln passend anzubringen ; endlich, daß dadurch der Nach?
weit so viele gute Lehren überliefert werden, als kaum das um?
fangreichste Buch des Aristoteles umfassen kann. Treffen diese
vier Dinge alle zu, so wird der Name des Betreffenden in Ewig*
keit leben, sonst nicht.
»Aber wozu dies alles?« —
Damit wir wissen, was zu einem glücklichen Leben nötig ist!
Damit wir erkennen, daß in diesem Leben für kein Glück Raum
ist; damit wir nicht vergebens unsere Kraft vergeuden, es zu
suchen, und so doppelt unglücklich werden. —
»Aber dies genügt nicht. Notwendig ist auch noch, daß wir wie
alle anderen Handwerker auch wissen, was Aufgabe und Inhalt
dessen ist, was wir suchen. Der Schmied weiß und lehrt, wie man
205
Nagel und Riegel, Amboß und Hammer macht; er weiß aber
auch, wozu man sie gebraucht: den Nagel, um Bretter zusammen;;
zuheften, den Riegel, die Türen zu schließen, den Amboß, die
Hammerschläge aufzufangen. Du aber, so könnte man dir sagen,
lehrst nichts dergleichen. Unbekannt bleibt, was überhaupt das
Glück ist, und auch du erklärst es nicht. Du sagst auch nicht, wie
es zu gebrauchen. Die Sache ist freilich überaus schwierig. Und
da du darüber schweigst und nichts zu sagen weißt, so wissen wir
nicht, ob du mit dieser deiner Anschauung mehr gewonnen hast
als die andern, ob inWirklichkeit etwas Greifbares hinter all diesen
Ausführungen liegt. Darum möchten wir nun hören, ob die Sache
überhaupt einen Wert und welchen, und welchen Zweck sie hat.
Bietet sie nämlich gar keinen Nutzen, was hat es dann für einen
Sinn, zu schreiben, zu lehren und zu lernen?« —
Die Sache bietet einen Nutzen und bietet keinen. Der erste Nutzen
ist der, daß wir, wie ich schon gesagt habe, wissen, daß das Un#
glück größer ist als das Glück, ja daß dies letztere verschwindend
klein ist; daß es aber doch in der Öde dieses Lebens mitunter ein
Glück gibt, so klein und kurz es sein mag; daß ferner alles darauf
ankommt, daß wir wissen, dies kleine Glück zur rechten Zeit zu
fassen und dem Unglück aus dem Wege zu gehen. Daß wir end;;
lieh verstehen, was uns an Unglück begegnen will (vorausgesetzt,
daß es nach menschlichem Ermessen nicht ein übergroßes Un;;
glück ist — denn es kann sehr wohl ein solches sein — , daß es
vielmehr an sich weder groß, noch auch nur mittelmäßig, ge#
schweige denn ein größtes und äußerstes Unglück ist) — daß
wir, meine ich, dies Unglück zu verjagen und zu vertreiben wis#
sen. Verstehst du dies aber nicht, so wirst du stets unglücklich
sein, —
»Wie ich sehe, ist also der Nutzen solcher Ausführungen ein
fünffacher. Erstens erleichtern wir damit das Unglück, voraus*
gesetzt, daß es nicht allzu stark ist. Zweitens mehren wir jenes kleine
Maß von Glück, dessen die menschliche Natur sich erfreut. Drit#
tens füllen wir die glückleere Öde dieses Lebens doch mit einem
bescheidenen Glück, wenn wir es zur rechten Zeit zu fassen wis;;
sen. Viertens wissen wir, daß es doch überhaupt wenigstens ein
Glück gibt, sei es auch noch so arm und kurz, und daß das Glück
206
allein in der menschlichen Tüchtigkeit beruht, solange diese nicht
durch allzu großes Unglück gehemmt ist. Fünftens endlich, daß
es in unserer Hand liegt, uns ein derartiges Glück doch einiger*
maßen zu mehren und zu verlängern, weil eben der Gegenstand
dieses Glückes und sein Gebrauch in einzelnen Fällen vergrößert
und ausgedehnt werden kann — immer verglichen mit der Kürze
des menschlichen Lebens. Wenn aber das menschliche Leben
500 oder 600 Jahre zählte, so würden alle in Verzweiflung ihr
Leben enden. Und so ist es auch bei einem Glück, das rasch ent*
schwindet.« [?] —
Ganz vortrefflich gesagt! Und ich danke dir dafür, daß du die
Sache weit besser erklärtest, als ich sie vorzustellen wußte. Nur
noch eines will ich hinzufügen, daß nämlich dieses Glück, so
klein und ärmlich, wie ich schon sagte, es auch ist, ja obwohl es,
um ganz offen zu reden, eigentlich gar nichts ist, vier verschieb
dene Stufen hat. Die erste Stufe ist die seiner wirklichen Gegen*
wart; die geht zwar sehr rasch vorüber, scheint aber immerhin
etwas zu sein, obschon sie so gut wie nichts ist. Denn die allge*
meine Ansicht der Philosophen geht dahin, daß sie nur in einer
Art Freisein vom Schmerz besteht. Die zweite Stufe ist die, da
uns das Glück eben verlassen hat; noch bleibt sein äußerer Ge#
genstand und seine Wirkung, so daß das Glück selbst noch gegen*
wärtig zu sein scheint. Die dritte tritt ein, wenn das Glück weit
hinter uns liegt, uns aber noch eine gewisse Erinnerung daran ge*
blieben ist. Die freilich ist ganz schattenhaft und hat nichts von
Wirklichkeit an sich. Die vierte Stufe ist die, daß uns von all den
Dingen, wie etwa den alltäglichen Ereignissen, gar keine Spur mehr
geblieben und jedes Erinnern daran erloschen ist, oder daß, wenn
wir doch noch daran denken, diese Erinnerung keinerlei Eindruck
mehr auf unser Gefühl macht. Aus all dem geht klar hervor, daß
es uns in diesem Leben genügen muß, es ohne allzu großes Un*
glück verbracht zu haben.
207
Einundfönfzigsfes Kapitel
WORIN ICH GLAUBE GEFEHLT ZU HABEN
Spät lernen die Dummen, unmöglich ist es, keinen Fehler zu
machen. Viele Fehler machen aber mit Notwendigkeit die,
die nur dem Vergnügen zu dienen entschlossen sind.
Meinen größten Fehler beging ich in der mangelhaften Erziehung
meiner Kinder; denn eine gute Erziehung vermag sehr viel zu
wirken. Mir aber fehlten die Mittel, kluge Kinder, fehlten Brüder
oder Schwestern, Verwandte, Freunde, Vermögen, Macht und
Ansehen, treue Diener. Ich hätte in jeder Hinsicht in meinem
Leben mehr Erfolge haben können, hätte ich es über mich gebracht,
etwas sparsamer zu sein im Schriftstellern, meiner Natur mitunter
Zwang anzutun, meine Vergnügungssucht zu zügeln, etwas sorg*
samer zu sein in der Wahl und Pflege meiner Freundschaften,
damals [?] die Entscheidungen des Senats von Bologna abzu#
warten — wenn es schon gut war, nicht zu bitten, wie viel mehr,
nicht zu drängen? In solchen Fällen, wo alle deine Widersacher
wider dich arbeiten und deine Freunde machtlos dagegen sind,
ist es stets das beste, alles dem Zufall zu überlassen.
Ich urteile auch nicht allzu streng über meine leidenschaftliche
Hingabe an das Schachspiel. Ich halte es mit horaz, der sagt:
»Ich hab' gelebt. Mag schwarz der Himmel
Morgen bewölket uns dröhn, die Sonne
Erstrahlend glühn . . . .«
mit dem Zusatz etwa : »vorausgesetzt, daß künftiger Lust nichts
im Wege steht.« Ich habe darauf auch weniger Geist und Mühe
verwendet als auf irgend etwas anderes, außer etwa darauf, daß
ich Maß im Essen hielte und im täglichen Umgang mich zierlicher
Ausdrücke bediente. Also ist es nicht der Rede wert. Und wem
hätte es gedient, wenn ich bei jeder einzelnen Handlung sieben
Grundsätze beachtet hätte? Auf meine literarische Bildung habe
ich freilich Zeit und Mühe über die Maßen verschwendet, und es
wäre vielleicht gut gewesen, hätte ich mich mit ähnlicher Beharrs
lichkeit auch allen anderen Geschäften gewidmet. Dann wäre das
eine nicht gar so bewundernswert erschienen.
Mehr als genug war mir, daß mir so vielerlei fehlte : ich hatte kein
208
gutes Gedächtnis, keine Kenntnis des Lateinischen, wenigstens
in jüngeren Jahren, eine schwache Gesundheit, keinen Nutzen
von Freunden und Familie, ein langjähriges geschlechtliches Un*
vermögen, keinerlei sympathische Züge, nicht die geringste ge*
winnende Anmut, Kinder, die nicht einmal das Mindestmaß an
gesundem Menschenverstand besaßen. Dafür war ich nun be?
glückt mit einem furchtsamen Charakter, mit ewigen Prozessen
und Streitereien, kränklichen Eltern; und lebte zu einer unruh*
vollen Zeit der Kriegswirren und Ketzereien. — Aber sovieler
glücklicher Erfindungen konntest du dich doch erfreuen? Die
Wahrheit über alles : anderer Leute Erfindungen fand ich in den
meisten Fällen bald als fehlerhaft oder verstand sie nicht, so daß
ich von all dem keinen Nutzen hatte. Was ich selbst erfand, das
nützte mir freilich mehr, aber es kam zu spät. Wäre mir in früheren,
zeitigen Jahren vergönnt gewesen, zu erfinden und zu besitzen,
was ich jetzt habe, oder wäre mir zur rechten Zeit das bekannt
geworden, was andere mit Eifer suchten und fanden, so hätte ich
vielleicht nicht soviel zu leiden gehabt.
Und trotz alledem — es ist mir noch soviel geblieben, daß, wer
es besäße, sich gerne glücklich priese: ein reiches Wissen, eine
trotz allen Wunden gesicherte Nachkommenschaft, viele Bücher,
die ich veröffentlicht habe und noch zu veröffentlichen gedenke,
Name, Stand und Würde, ein anständiges Vermögen, einflußreiche
Freunde, manches liebe Geheimnis, und was das beste ist, Fröm#
migkeit und Gottesfurcht. Und es kann ja, wie ich es schon ge*
sagt habe, nicht einer alles besitzen, noch einer in allem der Erste,
noch auch nur, und gäbe er sich die größte Mühe, im einen oder
anderen vollkommen sein.
Was suchst du also gerade bei mir, was noch nie ein Mensch be*
sessen hat? Was wunderst du dich, bei mir Fehler anzutreffen, da
doch auch alle anderen Menschen fehlen?
14 Cardano 209
Zweiundfünfzigstes Kapitel
WIE ICH MICH IM LAUFE DER JAHRE ÄNDERTE
Das zunehmende Alter verändert den Charakter, die Körper*
formen, das Temperament und die ganze äußere Erschein
nung.
In meiner Kindheit war ich, wie ich gehört habe, fett und rot, im
Knabenaher mager mit länghcher Gesichtsform und weiß*röthcher
Hautfarbe. Ich wuchs sehr rasch, so daß im 16. Lebensjahre mein
Wachstum so gut wie völlig abgeschlossen war und ich so groß
aussah, als ich jetzt bin. Mein Temperament war ein melanchoü
lisches. In den Jünglingsjahren war ich fuchsrot, in meinem Be#
nehmen lag durchaus nichts Hervorstechendes, ich war erregbar,
wie schließlich jeder anderer auch, heiter, allen Vergnügungen,
der Musik in erster Linie, leidenschaftlich zugetan. Auch im reife*
ren Alter, so etwa vom 30. bis zum 40. Jahre, zeigte ich keine
anderen Charakterzüge; doch hatte ich allmählich vieles, was
mich verstimmen konnte: meine Armut, Sorgen um Frau und
Kinder, eine stets schwankende Gesundheit und viele erbitterte
Feinde und Rivalen. So geschah es eines Tages, nachdem ich eine
vornehme Dame, bartolommea crivelli, und nach ihr auch ihren
Bruder geheilt hatte, daß dieser letztere, noch kaum genesen, mich
verhöhnte. Ich erwiderte ihm: »Was hättet ihr alle getan (es
waren nämlich noch einige dabei, die mit ihm lachten), wenn
er nicht gesund worden wäre?« — Was durfte ich also nicht alles
erhoffen, als ich endlich, nicht vor meinem 39. Lebensjahre, zu
Atem kam ? Und doch habe ich in den nächstfolgenden vier Jahren,
nämlich vom 1. September 1539 bis zum 1. November 1543, gar
nichts unternommen, weder privat noch öffentlich; den einzigen
Vorzug, den ich genoß, war, daß ich meiner ärztlichen Sorgen los
und ledig war und doch in geehrtem Ansehen stand.
Das erste Jahr, das in meinem Leben eine entscheidende Wendung
zum Besseren brachte, war das Jahr 1543. Von diesem Jahre bis
zum Jahre 1 570, also in fast 27 Jahren — gerade die Dauer des
peloponnesischen Krieges — verfaßte ich die Mehrzahl meiner
Werke; denn in den vier Jahren von 1571 bis 1575 schrieb ich
nur 12 Werke in zusammen 18 Büchern. Der größere Teil meiner
210
Werke ist freilich erst noch im Druck herauszugeben, und davon
stammt ein Teil aus der früheren, der andere aus späterer Zeit.
In dieser ganzen Zeit habe ich mich 7 Jahre lang nur Vergnügun*
gen hingegeben, der Musik und anderen Dingen, dem Spiel und
vor allem dem Fischfang, Dann bereitete ich mich auf meine Vor*
lesungen und Disputationen vor. Damals befand ich mich auch
körperlich schlechter als sonst; die Zähne taten mir weh, und
einige von ihnen fielen aus. Auch das Podagra befiel mich damals;
doch quälte es mich nicht allzu stark, nur während 24 Stunden
steigerten sich bei einem Anfall die Schmerzen, dann begannen
sie wieder langsam nachzulassen. Bis zu meinem 60. Jahre ließen
meine Kräfte in keiner Weise nach, so daß es offensichtlich ist,
daß, was sie schließlich minderte, mehr seelische Schmerzen
waren als das Alter. Von diesem Jahre an begann ich auch end;s
lieh für meinen Haushalt Sorge zu tragen; aber immer und immer
wieder kamen Mißgeschicke aller Art, so daß es eigentlich ein
Wunder ist, daß ich noch heute lebe. Wenn einer all die Mühen
und Sorgen zählen möchte, die auf mir lasteten, die Trauer, die
Schmerzen, meine Irrtümer bezüglich meiner Lebensweise, die
Zwischenfälle und Sorgen meines häuslichen Lebens, die Angst
vor Armut, die Nachtwachen, die Magenbeschwerden, die schwe*
ren Verdauungsstörungen, das Jucken und auch die Läusesucht,
den Leichtsinn meines Neffen, die üblen Taten meines Sohnes —
wer sollte sich da nicht wundern, daß ich noch immer am Leben
bin? Auch fielen mir allmählich die meisten Zähne aus, so daß
mir nur noch 15 geblieben sind, und auch die sind nicht alle ge*
sund noch fest. Dazu die ewigen Verfolgungen, die ewigen Fallen
und Nachstellungen, diebische alte Weiber, betrunkene Kutscher,
überall nichts als verlogene, feige, treulose, hochmütige Menschen 1
Niemanden hatte ich, der mir Stütze gewesen wäre, nur einen,
der mir einigermaßen half. Sechsmal ungefähr habe ich beim
Schlafengehen ob all dieses Unglücks oder auch eines Fehlers in
der Diät wegen geglaubt, nicht mehr aufzustehen; zweimal war
ich überzeugt, noch in der gleichen Nacht sterben zu müssen.
Und doch hatte ich das Testament, das mein letztes sein sollte,
noch nicht abgefaßt.
Du wirst fragen, wie ich aus all dem schließlich entrann? Der
14»
211
Schmerz war die Arznei meines Schmerzes; den Unmut heilte
ich mit Zorn, meiner ungesunden Liebe zu den Meinen begeg#
nete ich mit ernsten Studien. Schmerzen kleinerer Art vertrieb ich
durch das Schachspiel; über große halfen mir falsche Hoffnungen
und phantastische Gedanken hinweg. Ich pflegte nicht zu früh*
stücken, sondern hatte es soweit gebracht, mit einem gekochten
Apfel oder mit 15 Zibeben zufrieden zu sein; ich trank fast nie
Wein noch Wasser oder beides nur sehr wenig. In den letzten
Jahren habe ich mich an ein Frühstück gewöhnt, das mir Freude
macht und, wie ich hoffe, auch gesund ist: ich esse die sogenannte
weiße Suppe des galen und darin gut weichgekochtes Brot;
sonst nichts. Reichlicher dagegen ist meine Abendmahlzeit.
In allen trüben Stunden aber lasse ich mir die Gedanken durch
den Kopf gehen, die ich in meinem Buch »de optimo vitae genere«
niedergeschrieben habe. Ich denke daran, wie es einst dem Sohne
des SULLA gegangen, den caesar mit seiner Gattin, weil diese
eine Tochter des pompeius war, hat töten lassen. Und wie ging
es einst dem quintus cicero? Wie seinem Bruder marcus? Seine
Tochter starb ohne Leibeserben noch zu seinen Lebzeiten, worüber
er in Wahnsinn fiel. Ein Sohn, der ihn zwar überlebte, hatte weder
Sohn noch Tochter. So hat die unglückliche terentia mit ihren
hundert Jahren all die Ihrigen, auch ihren einst so hochberühmten
Mann, überlebt. O menschliches Schicksal! Und wie erging es
den herrlichen und so nützlichen Werken eines theophrast? —
Zu Abend speise ich nach lang erprobter Gewohnheit große, aber
leichte Fische; sollen sie nahrhaft und leicht verdaulich sein und
eine kräftige Speise bilden, so müssen sie gut gekocht sein. Karpfen
ziehe ich anderen Fischen vor; doch gibt es diese hier in Rom
nicht. An ihrer Stelle esse ich den Stachelflunder und die Stein?
butte, auch Hechte, die etwa 9 Zoll lang und anderthalb Pfund
schwer sein müssen, auch andere leichte, breite Fische, wie etwa
die Steinbarbe. Karpfen, die nicht im fließenden, sondern im
stehenden Wasser leben, die sogenannten »scardea«, liebe ich
nicht, aus Gründen, die ich anderswo angeführt habe. Sehr gerne
esse ich dagegen Mangoldsuppe mit Knoblauch, auch Suppe aus
Gienmuscheln, Austern oder Schnecken mit frischen grünen Lor#
beerblättern, oder statt Mangoldsuppe liebe ich auch ein Gericht
212
Salat aus Gänsedisteln, aus Wurzeln der Endivie, aus der Wurzel
und den kräftigen Blättern des Gurkenkrauts, An Stelle einer die*
ser Speisen esse ich auch gerne ein paar frische Eidotter; oft bin
ich auch mit einem einzigen zufrieden. Auch die weißen Fleisch*
teile esse ich gern, aber ohne Blut und gut gekocht, desgleichen
auch Kalbsfüße, vom Huhn und der Taube die Leber, das Hirn
und die anderen blutreichen inneren Teile. Am Spieß gebratenes
Fleisch, fein und zart zerschnitten oder mit dem Messerrücken zer*
klopft und dann lang in Bockfett getaucht und mit der Suppe im
Topf gekocht, ziehe ich allem andern vor.
Sind meine Füße kalt, so wasche ich sie; denn dann frieren sie
nicht mehr so sehr. Auch nehme ich nur dann Speise zu mir, wenn
mein Körper an allen Stellen warm und trocken ist. Nach dem
Frühstück gehe ich nicht, noch viel weniger nach der Haupt*
mahlzeit.
Seelisch bin ich ruhiger und sicherer geworden, aus Erkenntnis,
nicht aus Selbstzucht. Und da mir der Tod mit Recht zu fürchten
zu sein scheint, hasse ich ihn. Die anderen, die vor seinem Korn*
men nicht zittern, lassen wir beiseite wie die Ochsenhirten. Laufe
ihm doch entgegen, wenn du ihn nicht erwarten kannst!
Doch ich kehre zum Thema zurück. Im Laufe der Jahre habe ich
oft in all meinen Dingen, auch bei den verstecktesten, so große
Veränderungen gesehen, daß ich oft glauben wollte, ein böser
Geist sei da, der alles untereinanderbringt: oft war mein Geld
verschwunden, dann war es plötzlich vermehrt, dann wieder wie
weggeblasen. Damit du nicht glaubst, ich fabuliere nur oder hätte
kein Gedächtnis mehr, will ich dir erzählen, was mir gestern be*
gegnet ist und heute noch anhält; ich weiß nämlich sehr wohl,
wieviel man gegen Dinge, wie ich sie eben sagte, einwenden
kann. Ich speiste ziemlich heiter zu Abend; und nach der Mahl*
zeit befiel mich plötzlich ein so großer Haß gegen alle Bücher,
solche von anderen, wie meine eigenen, nämlich die schon her*
ausgegebenen, daß ich es nicht aushielt, daran zu denken, ge*
schweige denn, sie anzusehen. Denke ich nun vernünftig darüber
nach, so erkenne ich, daß der Grund in mir, in einer Art von
Melancholie liegen muß, vor allem, da es sich gerade um meine
besten Bücher handelt. Aber anders ist es bei der Sache mit dem
213
Geld: keinerlei Hinterlist, keine Dummheit, kein Irrtum spielte
herein, niemand hat es weggenommen — was war es also anderes
als eine heimliche Gewalttat?
Dreiundßinfzigstes Kapitel
MEINE ART IM VERKEHR MIT ANDEREN
Ich weiß sehr wohl, daß ich im Verkehr mit anderen aus vielen
Gründen stets nur wenig gute Eigenschaften gezeigt habe, am
wenigsten heute in meinen alten Tagen. Vor allem liebe ich eben
die Einsamkeit, und nie bin ich enger mit denen zusammen, die
ich so innig liebe, als wenn ich allein bin. Denn die ich liebe, das
sind nur Gott und mein guter Schutzgeist. Und wenn ich dann
allein bin, so betrachte ich diese beiden, Gott, das unermeßliche
Gut, die ewige Weisheit, Anfang und Quelle alles reinen Lichtes,
die wahre Freude in uns, bei der wir nicht fürchten müssen, daß
sie uns einmal verlasse, den Grundstein der Wahrheit, die willige
Liebe, den Schöpfer aller Dinge, der in sich selbst selig und allen
Seligen Schutz und letzte Sehnsucht ist, die tiefste und erhaben*
ste Gerechtigkeit, die für die Toten sorgt und der Lebendigen
nicht vergißt. Und dann betrachte ich meinen guten Geist, der auf
Gottes Geheiß mich schützt, den stets Barmherzigen, den guten Be*
rater, den Helfer und Tröster in den Trübsalen meines Lebens. —
Und nun zeige mir einen Menschen, welches Standes er auch sei,
der nicht einen Sack voll stinkenden Kotes und einen Nachttopf
voll Urin stets bei sich im lebendigen Leibe führte! Und die
meisten Menschen, auch die allerbesten unter ihnen, haben den
Bauch voll Würmer; viele, Männer und — um ganz gerecht meine
Höflichkeiten auszuteilen — auch Damen, und zwar solche, die
zu gefallen pflegen, starren von Läusen und Flöhen; andere
stinken aus den Achselhöhlen, andere aus den Füßen, die meisten
aus dem Munde. Und denke ich an solche Dinge, welchen Sterbe
liehen sollte ich dann (ich meine hinsichtlich seines Leibes) lieben
können? Ist ja doch ein Kätzchen oder eine kleine Ziege viel
reinlicher und schöner. Und soll ich etwa der Menschen Seele
lieben, da doch kein Tier heimtückischer, niederträchtiger, ver#
214
logener ist als der Mensch? Und weiter, lassen wir jene Teile der
Seele, die von leidenschaftlichen Wallungen beherrscht sind, und
setzen wir den Fall, ich wolle den Verstand lieben. Gibt es denn,
wende ich hier ein, einen Verstand, der die Wahrheit fassen und
lehren kann, ruhiger, reiner, höher und sicherer als der göttliche?
Die Bibliotheken freilich füllen sich mit Büchern, die Geister aber
werden immer ärmer an Bildung. Man schreibt nicht mehr, man
schreibt ab; an Geist freilich fehlt es nicht mehr, es fehlt an ande#
ren Dingen.
Was ist es also, das ich aus dem Zusammensein mit Menschen
erhofifen dürfte? Schwätzer sind sie alle, Geizkragen, Lügner,
Streber nach Ehre und Macht. Zeige mir einen, der in diesem
blühenden Jahrhundert, da man die so nützliche Kunst der Buch*
druckerei erfunden, auch nur den hundertsten Teil von dem, was
ein THEOPHRAST, erfunden hat, und ich reiche ihm die Hand. Aber
mit ihren Lappalien und Kindereien, ihrem ov oder ov, stören und
schädigen sie nur die schönen Erfindungen unserer Zeit. Aber das
ist nicht alles. Erfindungen nämlich bedürfen der ungestörten
Ruhe, des stillen, beständigen Nachdenkens und eifrigen Er#
probens, und all dies gibt nur die Einsamkeit, nicht die Gesell*
Schaft der Menschen, wie wir es ja auch an archimedes sehen. Was
mich persönlich betrifft, so verdanke ich von den ungefähr 60 Er*
findungen, die ich gemacht habe, auch keine 20 der Anregung
durch andere oder dem Verkehr mit anderen. Ich will nicht, daß
man sagt, ich hätte gelogen, wenn es etwa noch weniger sind. In
der Mathematik, gestehe ich, habe ich einiges, aber recht wenig
dem Bruder niccolö [tartaglia, s. o. S. 165] zu danken. Doch
wie viel davon ging wieder verloren? Und eine große Menge ver*
danke ich anderen Gründen, vor allem auch jenem verborgenen
inneren Glänze [s. o. S. 120] oder einem noch Besseren [seinem
Schutzgeist].
Wozu also brauche ich die Menschen? Die Glücklichen wollen
meine Gesellschaft nicht, und der Elenden Gesellschaft wiederum
bedarf ich nicht. Schmeichle ich den anderen, so bessere und heile
ich sie nie ; sage ich ihnen offen und grob die Wahrheit, so fassen
sie es gleich von der übelsten Seite auf. Und überdies sind sie alle
nichts als launische Greise, jammernd, winselnd und dabei voll
215
Schelsucht, Habe ich denn von ihrem Geschwätz auch nur den
geringsten Nutzen? Und wie eng ist uns die Zeit bemessen! »Des
Menschen Tage währen 70, wenn es hoch kommt, 80 Jahre.« Wie
wenig Zeit bleibt da für die Lappahen geselliger Unterhaltung !
Die Zeit dafür müßte ich anderem, besseren Tun entziehen. Und
welchem? Der Betrachtung? Das wäre ungerecht und gottlos.
Meinen wissenschaftlichen Arbeiten? Töricht wäre es, zu den
Plackereien zurückzukehren, denen ich mit Mühe nur entfliehen
konnte, den Mördern meiner freien Zeit. Oder etwa meinen Leibes*
Übungen? dem Schlaf? meinen häuslichen Geschäften?
Und dann: mit wem soll ich plaudern? Mit meinen Freunden?
Die wollen von mir Arbeit, nicht Unterhaltung. Mit anderen
Leuten? Wozu? Mit Erfahrenen? Die werden vielleicht vorher
schon viel mehr zu wissen glauben, als ich ihnen sagen kann. Und
wissen sie es tatsächlich schon, so wird das Resultat nur Streit oder
Zank sein. Soll ich etwa von anderen lernen? Wozu denn? Oder
soll ich andere zu belehren suchen? Schamlose Verschwendung
wäre es, das Seinige zu vergeuden, um nichts anderes dafür ein*
zutauschen als Haß. Soll ich mit einem allein, soll ich mit vielen
zugleich verkehren? Wenn mit vielen, wo wird dann die Grenze
sein? Wenn nur mit einem, soll der allein dir Gott sein? Auch
würde ich dadurch bei anderen nur den Neid erregen und von
neuem in ein Meer von Streit und Hader sinken. Auch sprechen
oft mehrere zugleich, und dann wieder lachen sie im Stillen über
dich. Zahllosen peinlichen Gelegenheiten setzt man sich aus, ohne
den allergeringsten Nutzen. Und endlich, was das wichtigste ist:
in der Unterhaltung bedarf es gefälliger Anmut, im Gespräch
heiterer Liebenswürdigkeit, und beides ist mit Natur und Cha#
rakter eines alten Mannes unvereinbar. Für all dies zitiere ich
keinen anderen Zeugen als den Aristoteles.
Aus all diesen Gründen war ich in der geselligen Unterhaltung
immer unbrauchbar. Und dies war auch eine von den Ursachen,
daß ich nie zu größeren Gelagen ging. Gute und anständige Leute
freilich wies ich nie vom Verkehr mit mir zurück, noch weniger
Arme oder solche, die sich um mich verdient gemacht, noch auch
vernünftige Menschen.
Aber du wirst mir entgegenhalten: der Mensch ist ein geselliges
216
Wesen, und was wirst du tun, da du doch auf diese Weise jeden
Einfluß auf Dinge dieser Welt aufgibst und auf alle Freunde Vers
zieht leistest? Was vermagst du so zu leisten? Du rühmst dich,
mächtige Freunde zu besitzen. Dies ist vielleicht nur leere Frah#
lerei, und wenn nicht, wo ist der Gewinn, der dir daraus wird?
Und wenn es andere Leute gibt, die deinen Freunden beim ge*
selligen Schmaus, bei Scherz und Spiel mehr gefallen als du, wer
bürgt dir, daß deine Freunde jene lassen und dir, dem Ungesel*
ligen, in Liebe treu bleiben? Und was nützen dir deine wissen^
schaftlichen Studien, die du vor den anderen voraus hast, wenn
die Freunde sie dir nicht glauben?
»Wissen ist nichts, wenn nicht, daß du weißt, alle anderen wissen.«
Und schließlich wirst du, wenn du diese natürlichen menschlichen
Bedürfnisse vernachlässigst, nur Schaden davon haben. — Ich
weiß, daß mir dies entgegengehalten werden kann. Ich weiß aber
auch, daß es viele Dinge gibt, die auf den ersten Anblick hart
und absurd erscheinen, aber, wenn sie gelebt werden, ein anderes
Gesicht bekommen; und auch umgekehrt, manches erscheint zu*
nächst ganz angenehm, vernünftig und nützlich, was in Wirklich*
keit hart und absurd ist. Und meine Art, mich zu benehmen, ist
in den meisten Fällen hinreichend, mir die wenigen zu erhalten,
die mir einmal ihre Freundschaft geschenkt haben. Und diese
wenigen genügen mir; sie sind auch mehr von Nutzen und zu*
verlässiger als eine große Menge.
Vierundfünfzigstes Kapitel
UND ZUGLEICH NACHWORT
Ich glaube nunmehr sicher zu sein vor dem Verdacht der Lüge.
Ein Mann wie ich, der alt geworden ist im Streben nach Wahr*
heit, bei dem Gottesliebe und Ewigkeitshoffnungen verbunden
sind mit dem Besitz so weitumfassenden Wissens und dem Ge*
nuß ruhiger Weisheit, der will auch nicht durch eine einzige Lüge
alles, was er gewonnen, aufs Spiel setzen. Das überlasse ich denen,
die in ihrer Ungeschicklichkeit sich selbst betrügen, oder denen
es Freude macht zu lügen und das, was sie gehört, gelesen oder
217
vielleicht auch erlebt haben, zu übertreiben, in der Hoffnung, die
anderen hinters Licht führen zu können. Und fest auf diese Hoff*
nung bauend, maßen sie sich Dinge an, von denen sie selbst nicht
eines glauben, und wenn man ihnen auch tausende bezeugte.
Meine Feder also hat nur die Wahrheitsliebe geführt. Die Men#
sehen freilich sind ganz anders; wie Raubvögel sind sie; die einen,
schmutzig und gemein wie Raben und Krähen, leben nur von
Geilheit, Raub, Hinterlist und Grausamkeit, die anderen, etwas
vornehmer, brennen wie Adler und Falken vor Hochmut und
Leidenschaft. Was Wunder, daß sie für solche Dinge kein Verü
ständnis haben. Und doch sind mit Beispielen derart alle Bücher
von weltlichen wie geistlichen Geschichtsschreibern voll. An ihrer
Statt, die uns befehden, habe ich den Beifall Gottes und des ganzen
Reiches der Seligen und Weisen: eine Unendlichkeit statt einer
kleinen Zahl, Wahrhaftige statt Lügner, Weise statt Toren!
Darauf vor allem sollten die Obrigkeiten sehen : nach dem Bei*
spiel der Alten die mit gerechten Strafen zu belegen, die gegen
rechtschaffene und gelehrte Männer sich vergehen. Versäumen
sie dies, so wird einer von allen und für alle dafür und auch,
weil sie ihre Macht mißbraucht, Rechenschaft von ihnen fordern.
So habe ich denn in diesem Sinne oben die wissenschaftlichen
Zeugnisse über mich angeführt, nicht mir zum Lob (oder glaubt
man, ich sei so töricht, auf diese Weise zu alten Sünden zurück*
zukehren?), sondern daß die Leser sehen, daß ich der bin, für
den ich mich ausgebe, ein wahrheitsliebender und rechtschaffener
Mann und stark durch göttlichen Geistes Hilfe, und daß sie aus
diesen Zeugnissen die Wahrheit entnehmen können. — Alle
menschlichen Handlungen geschehen mit Hilfe der äußeren Er*
fahrung, des Verstandes, der Überlegung und fremder Ratschläge,
göttlicher Eingebung und äußerer Anlässe, durch leidenschaft*
liehe Triebe und Zufälligkeiten. Die äußere Erfahrung ist sicher
und brauchbar in Dingen wie etwa im Schmiedehandwerk ; der Rat,
den Menschen dir geben, hängt von Willkür ab, denn diese, wenn
sie nicht deine Freunde sind, können, wie der Erfolg lehrt, durch
keine Wohltaten, noch auch durch Proben plötzlicher Grausam*
keit, gebessert werden. Die göttliche Eingebung ist ein seltener
Vogel und hat nie jedermann in allen Fällen recht getan. Die Ge*
218
legenheit, namentlich wenn sie vorherbedacht ist, ist gut, aber sie
leuchtet nicht immer zur rechten Zeit auf. Und wie der Verstand
stets das sicherste und am meisten erprobte Mittel ist, so ist der
Zufall ein schlechtes, der leidenschaftliche Trieb aber das allere
schlechteste Mittel, weil er töricht ist und dich oft in Streit ver#
wickelt. In den verstandesmäßigen Dingen entscheidet die frei ge*
wollte Tat [?], in den sonderbaren Schicksalsfügungen jener innere
Glanz, der nur angedeutet, nicht beschrieben werden kann, in den
ganz über sterbliche Art hinausgehenden Dingen aber
mein Schutzgeist, der weder beschrieben noch
auch nur angedeutet werden kann
und der außerhalb meiner
Macht steht.
219
CHRONOLOGISCHE ÜBERSICHT ÜBER DAS
LEBEN CARDANOS
150L GiROLAMO CARDANO gcboren am 24. September zu Pavia als
Sohn des Rechtsgelehrten fazio cardano und der chiara
MICHERIA.
1501—1504. CARDANO in Moirago.
1504—1519. Bei seinen Eltern in Mailand. Väterlicher Unterricht.
Erste schriftstellerische Versuche auf dem Gebiete der Geoü
metrie.
1520—1521. Auf der Universität zu Pavia.
1 522— 1 523. In Mailand, da die Universität der Kriegswirren wegen
geschlossen bleibt. Mathematische und medizinische Studien.
1 524. CARDANO besucht die Universität zu Padua. Im August kurzer
Aufenthalt in Mailand. Am 28. August stirbt sein Vater fazio
CARDANO. öffentliche Disputation und Fortsetzung seiner
Studien zu Padua.
1525. Rektor der Universität zu Padua. Aufenthalt in Mailand und
am Gardasee.
1526. Nach zwei mißglückten Versuchen Promotion zum Doktor
der Medizin in Padua. Läßt sich am 24. September zu Sacco
nieder.
1526—1532. Zu Sacco. Arztliche Praxis und medizinische Schrifs
ten. 1529 vorübergehender Aufenthalt in Mailand.
Ende 1531. cardano heiratet lucia bandarini aus Sacco.
1532. Februar. Siedelt nach Mailand über. Streitigkeiten mit dem
Kollegium der Ärzte.
1533. April. Übersiedelung nach Gallarate; lebt dort in äußerster
Armut. Schriftstellerei. »Liber de fato«.
1534. 14. Mai. Sein ältester Sohn, gianbattista cardano, geboren.
Ende des Jahres Rückkehr nach Mailand. Durch filippo
ARCHiNTi's Vermittlung Arzt am städtischen Armen* und
Krankenhaus. Vorlesungen über Mathematik, Geographie
und Architektur. Ärztliche Praxis.
1535. Medizinische und mathematische Schriften.
1536. Lehnt einen Ruf nach Pavia ab. Astrologische Studien. Ge#
burt seiner Tochter chiara. Reise nach Piacenza.
220
1537. Moralphilosophische Schriften (»de consolatione« und »de
sapientia«). Verhandlungen mit dem Mailänder Ärztekolle:=
gium. Am 26. Juli Tod seiner Mutter. Zunehmende ärztliche
Praxis.
1538. Mathematische Schriften (»practica arithmeticae«).
1539. Auseinandersetzung mit niccolö tartaglia. Aufnahme in
das Kollegium der Arzte in Mailand. Allmähliche Verbrei?
tung seines Ruhmes als Mathematiker und Arzt.
1540. Ärztliche Praxis. Schach* und Würfelspiel.
1541. Rektor des Kollegiums der Ärzte. Griechische Studien. Ab#
handlungen über Schach* und Würfelspiel.
1542. In den dürftigsten Verhältnissen. Spiel. Musik. Reise nach
Florenz und Siena.
1543. 25. Mai. Sein zweiter Sohn, aldo cardano, geboren. Liest
in Mailand über Medizin. Veröffentlicht astrologische und
andere Schriften. Erhält einen Ruf als Professor der Medizin
an die Universität zu Pavia.
1 544. Verhandlungen mit der Universitätzu Pavia. cardano nimmt
die Professur an und siedelt nach Pavia über.
1545. Mathematische, namentlich algebraische Studien. Veröffent*
licht sein algebraisches Hauptwerk »ars magna«. Wachsende
Berühmtheit. Rückkehr nach Mailand, da ihm in Pavia sein
Gehalt nicht ausgezahlt wird. Schriftstellerische Tätigkeit.
1546. LehntAngebote vom PapstPAUL III. und KönigCHRisTiAN III.
von Dänemark ab. Freundschaft mit Kardinal morone. Ende
1546 Tod seiner Frau.
1547. Erneute Übernahme der Professur in Pavia zu besseren Be*
dingungen. Reise nach Genua. Neue Freunde (alciati u. a.)
1548-1549. In Pavia.
1550. Erneute Unterbrechung der Tätigkeit in Pavia wegen man*
gelnderBezahlung. Aufenthalt in Mailand. Schriftstellerische
Tätigkeit.
1551. Wiederaufnahme der Vorlesungen in Pavia. Veröffent*
lichung der Bücher »de subtilitate.« Gegen Ende des Jahres
verlassen alle Professoren drohender Kriegsgefahren wegen
die Universität von Pavia. cardano in Mailand.
1552. Reise nach Schottland über Lyon und Paris; Rückreise über
221
London, die Niederlande, den Rhein und die Schweiz. Auf
der Höhe seines Ruhmes.
1553—1560. CARDANO in Mailand. Schriftstellerische Tätigkeit
und ärztliche Praxis.
1555. Kontroverse mit julius caesar scaliger über das Buch »de
subtililate«.
1556. GiANBATTiSTA CARDANOS Promotion zum Doktor der Medis
zin. CARDANOS Tochter CHiARA heiratet den Mailänder Patris
zier BARTOLOMMEO SACCO.
1557. GIANBATTISTA CARDANO heiratet gegen den Willen seines
Vaters die brandonia seroni.
1560. Wiederaufnahme der Professur in Pavia. Verhaftung des
GIANBATTISTA. CARDANO kehrt nach Mailand zurück. Vers
teidigungsrede für seinen Sohn. Am 7.April gianbattistas
Hinrichtung. Todesfälle in der Familie. Rückkehr nach Pavia.
1561. In Pavia. Moralphilosophische Schriften (»de morte« u. a.).
1562. Verzichtet endgültig auf die Professur in Pavia. Aufenthalt
in Mailand. Verhandlungen mit Bologna. Ärztliche Praxis
in Mailand. Übernimmt eine Professur für Medizin an der
Universität zu Bologna.
1563—1570. Professor in Bologna. Arztliche und Schriftstellerin
sehe Tätigkeit. Dauernde Besserung seiner wirtschaftlichen
Lage.
1570. Am 13. Oktober Einkerkerung wegen Unglaubens und
Ketzerei. Durch Vermittlung der ihm befreundeten Kardinäle
befreit. Verbot von Vorlesungen und fernerer Publikation
von Schriften.
1571. CARDANO erhält eine Pension vom Papst. Siedelt nach Rom
über.
1571 — 1576. CARDANO in Rom. Ärztliche Praxis und Schriftstellerin
sehe Tätigkeit.
1575—1576. Abfassung der Selbstbiographie.
1576. CARDANO stirbt am 20. September.
222
INHALTSVERZEICHNIS sdte
Zur Einführung I
Vorrede 1
1. Heimat und Familie 2
2. Meine Geburt 3
3. Einiges Allgemeine aus dem Leben meiner Eltern 6
4. Kurze Schilderung meines ganzenLebensvon der Geburt bis
auf den heutigenXag, den letzten Oktober des Jahres 1575 7
5. Gestalt und Aussehen 15
6. Von meiner Gesundheit 16
7. Von meinen Leibesübungen 20
8. Lebensweise 21
9. Der Gedanke, meinen Namen zu verewigen 25
10. Mein Lebensweg 28
11. Lebensklugheit 32
12. Meine Freude am Disputieren und Dozieren 34
13. Mein Charakter, geistige Mängel und Schwächen 37
14. Meine geistigen Vorzüge, Standhaftigkeit und Charakter;:
festigkeit 42
15. Von meinen Freunden und Gönnern 46
16. Von meinen Feinden und Neidern 50
17. Verleumdungen, falsche Anklagen, heimtückische An#
schlage, mit denen mich Denunzianten verfolgten 50
18. Liebhabereien 54
19. Spiel und Würfelspiel 55
20. Kleidung 56
21. Meine Nachdenklichkeit und meine Art zu gehen 57
22. Religion und Frömmigkeit 58
23. Meine wichtigsten Lebensregeln 60
24. Meine Wohnungen 62
25. Armut und ungünstige Vermögensverhältnisse 63
26. Ehe und Kinder 65
27. Das böse Schicksal meiner Kinder 66
28. Prozesse ohne Ende 69
29. Reisen 70
30. Unfälle und Zufälle. Von vielen mannigfachen und un#
aufhörlichen Nachstellungen 74
223
31. Glück 87
32. Ehren, die mir zuteil wurden 91
33. Was ich an Unehren erlitt. Was von Träumen zu halten
ist. Von der Schwalbe in meinem Wappen 98
34. Meine Lehrer 104
35. Zöglinge und Schüler 105
36. Von meinen Testamenten .. 106
37. Einige natürliche, aber sonderbare Eigentümlichkeiten,
worunter einige Träume 107
38. Fünf Eigentümlichkeiten, die mir von Nutzen waren .. 119
39. Gelehrsamkeit und äußere Bildung 122
40. Glückliche Kuren 126
41. Wunderbare Dinge natürlicher Art, wovon ich aber nur
weniges selbst erlebte. Und wie mein Sohn gerächt wurde 1 38
42. Meine Fähigkeit des Voraussehens in beruflichen und
anderen Dingen 145
43. Dinge durchaus übernatürlicher Art 148
44. Was ich in den verschiedenen Disziplinen an denkwür*
digen Erfindungen machte 156
45. Die Bücher, die ich verfaßt habe. Wann und warum ich
sie schrieb und was sich dabei ereignet hat 160
46. Von mir selbst 174
47. Mein Schutzgeist 176
48. Urteile berühmter Männer über mich 182
49. Meine Meinung über die Dinge dieser Welt 190
50. Redensarten, die ich im Munde führe, fernerhin Beobach*
tungen und Lebensregeln. Zurückweisung einer falschen
Ansicht. Totenklage auf meinen Sohn. Ein Dialog über
den Wert dieser Aufzeichnungen 196
51. Worin ich glaube gefehlt zu haben 208
52. Wie ich mich im Laufe der Jahre änderte 210
53. Meine Art im Verkehr mit andern 214
54. Nachwort 217
Chronologische Übersicht über das Leben Cardanos 220
GEDRUCKT BEI DIETSCH a BRÜCKNER / WEIMAR
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
GIORDANO BRUNO/WERKE
Ins Deutsche übertragen von Ludwig Kuhlenbeck
Bd. 1. DAS ASCHERMITTWOCHSMAHL, brosch. M 4.-, in
Halbperg. geb. M 5.50
Durch diesen satirischen Dialog rächte sich Bruno dafür, daß man ihm in
Oxford die Lehrfreiheit entzogen hatte. Er verficht die neue Lehre des
Kopernikus, die ihm der Ausgangspunkt seines Philosophierens ist.
Bd. 2. DIE VERTREIBUNG DER TRIUMPHIERENDEN
BESTIE. 2. Aufl. brosch. M 7.-, in Halbperg. geb. M 8.50
Die Tiernamen der Sternbilder werden benutzt, um die Bestie, die am
Himmel triumphiert, als eine zu vertreibende und durch höhere Mächte zu
ersetzende darzustellen. Wie Kopernikus die Sonne, so stellt Bruno die
Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Welt. Er will eine wahre Ethik, auf
natürlichen Gesetzen beruhend, schaffen.
Bd.3.ZWIEGESPRACHEVOMUNENDLICHENALLUND
DEN WELTEN. 2. Aufl. brosch. M 6.-, in Halbperg. geb. M 7.50
Den Inhalt bilden Brunos naturwissenschaftliche Ansichten, die in voll*
endeter Klarheit die Grundlagen für die noch heute geltende astrono«
mische und geophysikalische Forschung schufen.
Bd. 4. VON DER URSACHE. DEM ANFANGSGRUND
UND DEM EINEN, brosch. M 4.- in Halbperg. geb. M 5.50
Die Schriften geben ein Bild von Brunos Metaphysik. Berühmt ist besons
ders die den ersten Dialog umfassende Satire gegen das Brotgelehrtentum.
Bd. 5. EROICI FURORI. ZWIEGESPRÄCHE VOM HELDEN
UND SCHWÄRMER, brosch. M 7.-, in Halbperg. geb. M 8.50
Der gewöhnlichenLiebe stellt Bruno die heroische gegenüber,die begeisterte,
unmittelbare Hingabe an alles Gute und Schöne, eine göttliche Anschauung.
Bd. 6. KABBALA, KYLLENISCHER ESEL, REDEN, INQUI*
SITIONSAKTEN. brosch. M 6.-, in Halbperg. geb. M 7.50
Die Kabbala ist eine geniale Satire auf die Unwissenheit des Mönchtums,
auf die königliche Einfalt des göttlichen Eseltums.
GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA, ÄUsgS
WÄHLTE SCHRIFTEN. Herausgegeben von Dr. Arthur
Liebert. brosch. M 8.—, in Halbperg. geb. M 10.—
Picos Philosophie will den Gegensatz von Christentum und Antike in einer
höheren Einheit der Welt und Lebensanschauung überwinden. Alle Wider=
Sprüche philosophischer Systeme sollen sich in einer von uns innerlich ers
lebten Einheit lösen. Erkenntnis ist nicht logisches Denken, sondern inne«
res Schauen; Gott kann nicht durch den Verstand, sondern nur durch die
Liebe erkannt werden.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
Das Zeitalter der Renaissance
Ausgewählte Quellen zur Geschichte der italienischen Kultur.
DIE ERSTE SERIE:
Die Hauptstätten der Renaissance, die wichtigsten literarischen
Persönlichkeiten und Querschnitte durch die gesamte Kultur.
I. Francesco Matarazzo, Chronik von Perugia, br. M 6.—
//. Francesco Petrarca, Brief an die Nachwelt. Über die Weltver*
achtung. Von seiner und vieler Leute Unwissenheit, br. M 5.—
///. Enea Silvio Piccolomini, Briefe, br. M 6.—
IV. Alfonso I. und Ferrante I. von Neapel. Schriften von Antonio
Beccadelli, Tristano Caracciolo, Camillo Porzio. br. M 6.—
V/VI. Luca Landucci, Ein Florentinisches Tagebuch, br. M 12.—
VII. Pier Candido Decembrio, Filippo Maria Visconti, Francesco
Sforza, br. M 3.50
VIII. Stefano Infessura, Römisches Tagebuch, br. M 6.—
IX. Drei Lustspiele aus der Renaissance. Übertr. v. P. Heyse. br. 4.—
X. Pietro Aretino, Briefe. (Erscheint 1914)
XL Das Cinquecento und die Frauen. Agnolo Firenzuola, Von der
Schönheit der Frauen, Aless. Piccolomini, Raffaella. Tullia d'Ara=
gona. Von der Unendlichkeit der Liebe. (Erscheint 1914)
XII. Poggio Bracciolini, Briefe. (In Vorbereitung)
In Halbpergament gebunden jeder Band M 1.20 mehr.
DIE ZWEITE SERIE:
Florenz von der Zeit Dantes bis zum Prinzipat der Medici.
I. Dino Compagni, Chronik, br. ca. M 4.—
//. Vespasiano da Bisticci, Lebensbeschreibungen, br. ca. M 9.—
///. Buonaccorso Pittis Chronik.
IV. Leone Battista Alberti, Von der Familie.
V. Alessandra Macinghi negli Strozzi, Briefe.
VI. Angelo Poliziano, Schriften.
VII. Cristoforo Landini, Camaldulensische Unterhaltungen,
VIII. Lorenzo de' Medici, Dichtungen.
IX. Luigi Pulci, Morgante Maggiore, ein romantisches Epos.
X. Girolamo Savonarola, Predigten.
XL Florentinische Aufzüge, Mysterienspiele und Theaterstücke.
XU. Niccolö Machiavelli, Florentinische Geschichten.
In Halbleder gebunden jeder Band M 1.50 mehr.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
LEONARDO DA VINCI, DER DENKER, FORSCHER UND
POET. Herausgegeben von Marie Herzfeld. 6. Tausend, brosch.
M 10.-, in Halbperg. geb. M 12.—
Leonardos Persönlichkeit wird in ihrem ganzen Umfange aus seiner Schrift*
liehen Hinterlassenschaft lebendig gemacht. Der Band enthält Aufzeichnung
gen: Über die Wissenschaft /Von der Natur, ihren Kräften und Gesetzen/
Sonne, Mond und Erde/Menschen,Tiere,Pflanzen/Philos.Gedanken/Aphos
rismen, Allegorien / Entwürfe zu Briefen, Gutachten, Beschreibungen, Er*
Zählungen / Allegorische Naturgeschichte / Fabeln / Schöne Schwanke /
Prophezeiungen.
FRANZ M. FELDHAUS, LEONARDO DER TECHNIKER
UND ERFINDER. Mit 9 Tafeln und 131 Abbildungen im Text,
brosch. M 7.50, Halbfr. geb. M 10.-, Leder geb. M 1 S.-
Leonardos technische Leistungen, eine der wichtigsten Seiten seines Lebens*
Werkes, sind hier zum erstenmal gemeinverständlich dargestellt. In vielen
Stücken, z.B. der Flugmaschine, hat er erst jetzt Nachfolger gefunden.
LEONARDO DA VINCI, TRAKTAT VON DER MALEREI.
Herausgegeben von Marie Herzfeld. 2. Tausend, brosch. M 10.—,
in Halbperg. geb. M 12. —
MICHELAGNIOLO BUONARROTI, DICHTUNGEN.
Übers, von H. Nelson. 3. Tausend, br. M 5.50, Ferg. geb. M 8.—
Hermann Hesse: Wer irgendein Verhältnis zu Michelangelo hat, dem
müssen seine Gedichte ein Erlebnis werden. Ein glühender Mensch stürmt
einsam durch ein dunkles Leben, in ewiger Flucht und Ungenüge, allen
Täuschungen des Denkens und der Liebe brennend hingegeben, und über
all dem Harme schwebt heilig ein gottnaher Geist, der die Leidenschaft
zur Größe und die Treue zur Andacht erhebt. (März)
DIE FRÜHRENAISSANCE DER ITALIENISCHEN MA*
LEREI. 200 Nachbildungen mit geschichtlicher Einführung und
Erläuterungen von Prof. Dr. Richard Hamann. (Die Kunst in
Bildern Bd. IL) Pappb. M 6.-, Lwd. geb. M 7.-, Kalbl. M 12.-
Der Bilderteil bietet eine erschöpfende Auswahl aus der Malerei des QuaU
trocento, der Text stellt in origineller Weise die Frührenaissance (1470 bis
1500) sowohl der Hochrenaissance wie einer besonderen Vorrenaissance
(Masaccio, Lippi, Mantegna u. a.) gegenüber; Eigentümlichkeit der Früh«
renaissance ist ein Zurückgreifen auf gotische Traditionen.
WALTER PATER, DIE RENAISSANCE. Studien in Kunst und
Poesie. 3. Auflage, brosch. M 6.—, Halbfr. geb. M 8.—
Inhalt: Zwei frühe französische Fabeln / Pico della Mirandola / Sandro
Botticelli / Luca della Robbia / Die Dichtung des Michelangelo / Leonardo
da Vinci / Die Schule des Giorgione /Joachim du Bellay / Winkelmann.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
NICCOLOMACHIAVELLI,DERFÜRSTENSPIEGEL,UND
FRIEDRICH DER GROSSE, DER ANTIMACHIAVELL.
Übersetzt von Friedrich von Oppeln^Bronikowski. brosch. M 3.—,
Halbfrz. geb. M 5-
Machiavelli hat den Katechismus des Renaissancemenschen geschrieben
und zugleich einen realpolitischen Weg zur Befreiung Italiens von auswar«
tigen Feinden und zur Einigung im Innern gezeigt. Kein Geringerer als
Fichte hat seine Meinungen gegen unberechtigte Angriffe verteidigt.
ALFRED SEMERAU, DIE CONDOTTIERI. 2. Tausend,
brosch. M 8.—, in Halbpergament geb. M 10.—
Kölnische Volkszeitung: Semerau hat in dem vorliegenden Werke ein
farbenprächtiges Gemälde dieses kulturgeschichtlich so interessanten Zeit*
alters und seiner großen Repräsentanten geschaffen. Die Darstellung ist
ungemein anschaulich, zuweilen von dramatischer Lebendigkeit. Es lebt
etwas vom Geiste Machiavells oder, wenn man will, Nietzsches in dem sehr
verdienstlichen Buche.
ITALIENISCHE RENAISSANCEGEWÄNDER. Umgestaltet
für neue Frauentracht von Julie Jaeger und Isolde von Wolzogen.
2 Hefte äM 1.50
Die Gemälde der Renaissance werden damit für unsere heutige Frauen^
tracht im modernen Sinne fruchtbar gemacht.
BLÜTENKRANZ DES HEILIGEN FRANZISKUS VON
ASSISI. Übertragen von Otto Freiherrn von Taube. Mit vielen
bildlichen Initialen von F. H. Ehmcke. 3. Tausend, brosch. M 6.—,
Ganzpergament geb. M 8.—
Augsburger Postzeitung: Das Werk ist eine Übersetzung jener ent*
zückenden Sammlung von Legenden über das Leben des »messer santo
Francesco«, die zu dem Herrlichsten und Innigsten gehört, was die italies
nische Dichtung, ja, was die Weltliteratur kennt. Einen besseren Übersetzer
konnte dies köstliche Meisterwerk kaum finden.
DIE LIEDER DES HEILIGEN FRANZISKUS. Geschrieben
von Rudolf Koch. In kostbare rote chinesische Seide geb. M 30.—
DIE MYSTISCHE HOCHZEIT DES HEILIGEN FRANZIS.
KUS UND DER FRAU ARMUT. Nach einem Text des H.Jahr,
hunderts in deutscher Sprache herausgegeben von E. Nemethy.
Pappband M 3.—, Pergament geb. M. 4.50
In dieser tiefergreifenden Allegorie, dem »Hohenlied der Franziskaner«,
dessen Verfasser kein anderer ist als Fra Giovanni Parenti, der 7 Monate
nach dem Tode des heiligen Franziskus zum Ordensgeneral gewählt wurde,
lesen wir die lebensvollste Geschichte des Ordens, wie sie sich gleich nach
dem Tode seines Gründers gestaltete.
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
Q
G3A33
PMSci.
Crrdeno, Girolamo
Des Girolamo Cardeno von
MEiiland, Buergers von
Bologna
WILLIAM SALLOCH
Pines Bridge Road